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Siiri Kettunen erwachte, wie jeden Morgen, mit der Erkenntnis, dass sie noch immer nicht gestorben war. Sie stand auf, wusch sich, kleidete sich an und frühstückte. Es ging alles recht langsam, aber sie hatte ja Zeit. Sie las sorgfältig die Zeitung und hörte die morgendlichen Radiosendungen, was ihr in der Regel dabei half, sich der Welt zugehörig zu fühlen. Gegen elf Uhr fuhr sie häufig mit der Straßenbahn, aber heute verspürte sie dazu keine Lust und keine Kraft. Im Aufenthaltsraum des Altenpflegeheims Abendhain schufen die grellen Lichter der Lampen eine Stimmung, die an Zahnarztbesuche erinnerte. Auf den Sofas saßen einige der Bewohner vornübergebeugt und warteten auf das Mittagessen. In der Ecke am Kartentisch spielten der Botschafter, Anna-Liisa und Irma Canasta. Der Botschafter schien sich ganz auf seine Karten zu konzentrieren, Anna-Liisa kommentierte wortreich die Taktik der anderen und Irma wirkte ein wenig gelangweilt, vermutlich, weil das Spiel so langsam voranging. Als sie Siiri sah, hellte sich ihr Blick auf. »Kikerikiii!«, krähte sie in hohem Falsett und wedelte mit den Armen wie eine Zugschaffnerin am Bahnsteig. Irma Lännenleimu hatte in ihrer Jugend Gesangsunterricht genommen, und einmal hatte sie sogar Cherubinos Arie mit Klavierbegleitung während einer Matinee des Konservatoriums am Bahnhof vorgetragen. Als damals über die Auftritte der Studenten geschrieben wurde, hatte der Kritiker einer Zeitung ihre Stimme als wandelbar und durchdringend gelobt. Dieses Kikerikiii war Irmas bevorzugte Art und Weise, Siiri zu grüßen. Weil es zuverlässig funktionierte, selbst bei größtem Lärm.
»Rate mal, was .«, sagte Irma, noch bevor sich Siiri an den Kartentisch gesetzt hatte. »Die Krempenhut-Dame aus Haus C ist doch nicht gestorben. Und wir hatten schon angefangen, um sie zu trauern.« Irma lachte so ausgelassen, dass ihr runder Körper bebte. Sie trug immer Kleider, am liebsten dunkelblaue, und auch im Alltag Brillanten an den Ohren, am Hals eine Perlenkette und an der linken Hand zwei goldene Armreife. Während sie jetzt so lebhaft gestikulierte, klirrte der Schmuck lustig vor sich hin.
Als in der Woche zuvor die Fahne in Abendhain auf Halbmast gesetzt worden und die Krempenhut-Dame einige Tage lang nicht gesehen worden war, hatten die Heimbewohner angenommen, sie sei gestorben. Aber gestern war sie dann, wie üblich, mit diesem türkisfarbenen Hut zum Bingo erschienen. Sie war nur kurzzeitig abgängig gewesen, um Ersatzteile für ihr Herz in Empfang zu nehmen, und bei dieser Gelegenheit fast den Folgen eines Infarktes erlegen.
»Das bedeutet jetzt für sie vielleicht sogar noch zehn weitere Jahre«, sagte Irma. »Die arme Seele.«
Siiri lachte. Irma gelang es tatsächlich, einen letztlich gelungenen medizinischen Eingriff wie die Verlängerung einer Haftstrafe klingen zu lassen. Was es natürlich, streng genommen, auch war.
»Eigentlich ging es bei der Sache keineswegs um Ersatzteile für das Herz«, begann Anna-Liisa in diesem streng sachlichen Ton, mit dem sie gerne Fehler und Missverständnisse zu korrigieren pflegte. Das war bei ihr wie eine Art Zwang. Siiri und Irma teilten die Auffassung, dass es mit Anna-Liisas beruflicher Tätigkeit vergangener Zeiten zusammenhängen musste, Anna-Liisa war Lehrerin gewesen, für finnische Sprache und Grammatik.
»Ich habe eine rote Drei!«, unterbrach der Botschafter, aber es gelang ihm nicht, Anna-Liisa in ihren Ausführungen zu stoppen.
»Angioplastie, will sagen, Gefäßerweiterung, ist ja ein durchaus auch im Volksmund gebräuchlicher Begriff für das Verfahren, mit dem verstopfte Venen offen gehalten werden können, und zwar mit Netzschläuchen.« Anna-Liisa war eine große Frau, und sie hatte eine dunkle, tragende Stimme. Sie wusste alles Mögliche über Gefäßerweiterungen, über die Materialbeschaffenheit der Ersatzteile, über lokale Betäubung und über Arthroskopien, aber die anderen hatten keine allzu große Lust, sich auf den Vortrag zu konzentrieren. Was Anna-Liisa nicht bremste, als ehemalige Lehrerin war sie schließlich daran gewöhnt, dass niemand ihr zuhörte, während sie sprach.
»Reiner Wahnsinn, solche Eingriffe bei einer Neunzigjährigen vorzunehmen«, sagte Siiri. Alle schienen ihrer Meinung zu sein.
»Habt ihr Mädels eigentlich vor, dem Club der Hundertjährigen beizutreten?«, fragte der Botschafter und legte die Karten auf dem Tisch ab, um seine Krawatte zu richten. Er kleidete sich immer sehr seriös: mit Hemd, Schlips, einer tabakbraunen Jacke und Anzughose, was als angenehm empfunden wurde, denn die meisten Männer in Abendhain schlichen in hässlichen Jogginganzügen herum. An Sonn- und Feiertagen trug der Botschafter mit Vorliebe feinen Zwirn, mit einem Eichenblatt am Revers.
»Man hat ja keinen Einfluss darauf«, sagte Siiri. »Aber ich möchte nicht so lange leben.«
»Wenn der Todesfall der Woche nicht die Krempenhut-Dame war, wer war es dann?«, fragte Irma. Sie war sehr neugierig und geübt darin, sich und anderen Informationen über die Ereignisse in Abendhain zu beschaffen. Jetzt, als sich ihre vermeintlich sichere Information als falsch erwiesen hatte, geriet sie ein wenig in Aufregung.
»Es war dieser junge Koch, hieß der nicht Tero?«, sagte Anna-Liisa und legte ein Canasta mit Siebenern auf den Tisch.
Siiri fühlte einen Schwindel einsetzen, ihr Hals war plötzlich ganz trocken. Sie starrte Anna-Liisa an und versuchte zu begreifen, was sie gerade gehört hatte. Dass Tero gestorben sein sollte. Irma schien sich über diese Nachricht fast zu freuen, von der Siiri, wie ihr in diesem Moment bewusst wurde, bereits gehört hatte, um sie gleich wieder zu vergessen.
»Ja, stimmt! Du mochtest Tero doch, Siiri. War sein Name eigentlich Tero oder Pasi? Habt ihr bemerkt, dass die Namen junger Männer heutzutage wie Axtschläge klingen? Tero!, Pasi!, Vesa!, Tomi! Komisch, dass ich dir das nicht sofort erzählt habe. Ich habe das gestern bei der Massage erfahren, aber ich war nach dem ganzen Kneten so hundemüde, dass ich mir gleich meinen Abendwhiskey genehmigt habe und schlafen gegangen bin. Mir hat ja der Arzt Whiskey verordnet. Also, gegen das . gegen alles. Schau mal hier, ich habe zwei Siebener für dich, Anna-Liisa!«
Siiri war traurig. Sie vermisste Tero auf eine Weise, die Bauchschmerzen bereitete. Wie war es möglich, dass ein gesunder junger Mann starb, während Vierundneunzigjährige dazu keine Anstalten machten? Sie hatte in der Zeitung gelesen, dass Menschen nach Überschreiten des neunzigsten Lebensjahres nicht mehr alterten. Ein schrecklicher Gedanke. Das bedeutete ja, dass Menschen wie sie, die über diese Zeit hinaus lebten, den Tod zu versäumen drohten.
Erst starben sie alle, die Freunde, der Gatte, und jetzt starb keiner mehr. Zwei von Siiris Kindern waren bereits gestorben, beide relativ jung. Der erste an Alkohol, der zweite an Fettleibigkeit. Ihr jüngster Sohn war ein stattlicher junger Mann gewesen und ein guter Sportler, aber dann hatte er maßlos zugenommen. Er hatte nur für die Arbeit gelebt, war immer mit dem Auto gefahren, statt zu laufen, hatte Pizza und Kartoffelchips in sich hineingestopft und geraucht. Wenn Menschen einen so hohen Lebensstandard hatten, dass sie an diesem Lebensstandard im Alter von fünfundsechzig Jahren starben, war vermutlich doch etwas dran an diesem Spruch von den Wohlstandskrankheiten.
Aber Tero, der junge Koch des Altenwohnheims, war höchstens fünfunddreißig Jahre alt gewesen und hatte keineswegs krank ausgesehen. Ganz im Gegenteil - er war immer gut gelaunt gewesen und hatte eine Energie ausgestrahlt, wie es nur ein gesunder junger Mann tun kann. Breite Schultern, starke Hände und eine gute, klare Farbe im Gesicht, das war Tero gewesen. Und wenn er gelächelt hatte, waren auf beiden Wangen Grübchen sichtbar geworden.
Mit Kartoffelbrei hatte ihre Freundschaft begonnen. In der Kantine von Abendhain kam viel zu oft Kartoffelbrei und zu selten Reis auf den Tisch. Man ging wohl davon aus, dass alte Menschen keine Zähne haben, und der Brei ging ja so leicht runter wie Babynahrung. Überdies fehlte immer Salz, und von ganzen Fleischstücken konnte man nur träumen. Siiri mochte keinen Brei, und Tero hatte irgendwann begonnen, ihr heimlich andere Beilagen zu servieren, Möhren und Rote Bete. Nach dem Mittagessen war er dann zu Siiri an den Tisch gekommen, um eine Tasse Kaffee mit ihr zu trinken, und Siiri hatte gefragt, ob Tero eine Freundin habe, und Tero hatte geantwortet, dass er keine andere Frau brauche, da er ja Siiri habe. Sie hatten sich angewöhnt, ein wenig auf diese Art zu flirten, das war schön gewesen, Gelegenheit zu solch harmloser, fröhlicher Unterhaltung ergab sich nicht allzu oft in Abendhain.
Das Kartenspiel hatte offensichtlich ein Ende gefunden. Der Botschafter fragte Irma nach ihrem Alter, Anna-Liisa blätterte im neuen Gebührenkatalog des Pflegeheims und räusperte sich auf eine Weise, die erahnen ließ, dass sie sich auf den nächsten Vortrag vorbereitete. Um den Tod des jungen Kochs schien sich niemand zu bekümmern.
»Zweiundneunzig Jahre? Du hast doch wohl keinen Führerschein mehr«, wunderte sich der Botschafter gerade. »In meinem Taxi bist du immer herzlich willkommen, liebe Irma! Ich habe jede Menge Scheine, du weißt schon, diese Taxischeine, mit denen man nichts anderes machen kann, als durch die Gegend zu fahren.«
»Natürlich habe ich einen Führerschein«, entgegnete Irma pikiert. »Meine Klassenkameradin ist Gynäkologin, und sie stellt uns bei jedem Klassentreffen Fahrtauglichkeits-Bescheinigungen aus. Aber...