Schweitzer Fachinformationen
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Es ist gut, einen freien Blick zu haben.
Auf die Welt. Auf die Nachbarn. Auch auf die Straßenkreuzung, 60 Meter vom Beobachtungsplatz entfernt. Ein zu enger Horizont schränkt die Wahrnehmung ein. Das Interesse. Das Denken.
Der Mann steht auf seinem Balkon. Tiefe Nacht.
Was sieht er?
Die Zahl der geparkten Autos hat rasant zugenommen. Früher gab es immer Parkmöglichkeiten auf beiden Straßenseiten. Ankommen, Lichter ausschalten. Aussteigen. Abschließen. Schnell in das Haus. Jetzt muss man oft dreimal um den Block fahren, bis sich in der Nebenstraße ein freier Parkplatz findet.
Die Farbe Weiß hat sich bei der Lackierung durchgesetzt. Als der Mann sich ein weißes Auto kaufen wollte, hatte ihm der Autohändler davon abgeraten. Weiß verkauft sich nicht, wenn Sie einmal den Wagen in Zahlung geben wollen. In Indien, das hatte der Mann vor Jahren festgestellt, waren alle Regierungsfahrzeuge weiß lackiert. Und davon gab es viele. Die Sonnenstrahlung ist auf dem Subkontinent stärker als bei ihm zu Hause. Das hatte er schnell verstanden. Jetzt aber entscheiden sich Käufer nicht mehr für schwarze Limousinen und SUVs, sondern für die besser reflektierende Farbe, obwohl Klimaanlagen in den meisten Fahrzeugen zur Serienausstattung zählen.
Die Dunkelheit der Nacht wird alle drei Fahrzeuge von hellen Flächen unterbrochen. Jedes vierte Auto ist weiß. Der Mann sieht genau hin. Seine Zählung ist richtig. Er sieht, dass die meisten Autofahrer jetzt, um diese Zeit, beim Abbiegen nicht blinken. Nachts sparen sie sich diese Mühe. Einige Autos auf den Parkstreifen halten einen zu großen Abstand. Der Mann ärgert sich darüber. Oft ist deshalb ein Stellplatz verschenkt, nur weil jemand nicht einparken konnte.
Was hört er?
Es ist still. Fast still. Von Freilassing drüben dringen immer wieder Rollgeräusche der Güterzüge zu ihm herauf, hörbar durch den Filter der Entfernung nur für den, der darauf achtet. Wie Morsesignale die Pressluft-Signalhörner der Rangierloks. Die Heizung des Seniorenheims gegenüber springt an. Der Kamin brummt dann wie ein weit entfernter Schiffsmotor. Dezent. Gleichmäßig. Ein leises Atmen. Aber das Geräusch ist immer da. Für ihn. Er horcht auf, wenn das Grundrauschen verstummt. Dann hat ein Thermostat die Atmung unterbrochen. Die Nacht transportiert in akustischen Scherben das Quietschen eines Güterzuges herüber, der in der Ferne eine Kurve nimmt. In einem der Außenviertel Salzburgs.
Jetzt läuten keine Kirchenglocken. Gegenüber im Seniorenheim sind nur wenige Fenster erleuchtet. Lange Zeit schallten Hilferufe einer demenzkranken alten Patientin aus einem der Fenster, die sich wie ein verlassenes Kind in ihrem Zimmer von allem Menschlichen vergessen fühlte. Irgendwann hatten die Schreie aufgehört. In der Morgendämmerung war der Kleintransporter eines Bestattungsunternehmers vorgefahren. Wenige Tage später waren neue Schreie zu hören.
Seit einigen Monaten werden fast täglich Verstorbene abgeholt. Mit der Bahre verlassen die dezent gekleideten grauen Männer inzwischen das Haus durch den Haupteingang. Früher fuhren die Bestatter noch am Hintereingang vor. Jetzt verstecken sie sich nicht mehr, sie kommen am helllichten Tag, die kommunalen Bestatter und die Angestellten der privaten Trauerhäuser. In solchen Augenblicken verlässt der Mann seinen Balkon. Sie sollen in Frieden ruhen und bedürfen nicht der Gaffer - die unbekannten Toten aus der Nachbarschaft, denkt der Mann. Öfter als in den letzten Jahren schleichen sich mit Blaulicht, aber ohne Martinshorn die Rettungswagen und der Notarzt durch die Straße zum Seniorenheim heran. Nein, sie fahren weiter. Ganz hinten in der Straße stehen zwei Wohnblöcke, die Stadt hat zahlreiche Wohnungen angemietet.
Was fühlt er?
Er tritt vom Geländer zurück. Er will nicht gesehen werden, obwohl es zu dieser nächtlichen Stunde kaum jemanden gibt, der ihn auf dem Balkon entdecken könnte.
Er ist zufrieden. Eine Kiste mit Frühlingsblumen für seinen Kleingarten steht im Flur. Im Kofferraum seines Autos warten zwei kiloschwere Säcke mit Gartenerde, ein Sack Pflanzendünger und zwei neue Gießkannen mit größerem Fassungsvermögen als seine bisherigen, dazu noch einige Spraydosen zur Schädlingsbekämpfung. Seine Gartengeräte hat er vor dem Winter im Gartenhaus sorgfältig eingepackt und in ein schmales Regal, gerade groß genug für den Raum, gelegt. Dort warten sie auf ihn, geschützt vor Rost. Eines neben dem anderen. Penibel parallel gelagert. Auch zwei Tüten mit Tonkügelchen und 10 Kilogramm Quarzsand hat der Mann gekauft, um die Blumentöpfe und das Beet mit den Sukkulenten in seinem Garten feucht zu halten. Seine Pflanzen mögen das. Blaue Hortensien wie sie entlang der Steinmauern in der Bretagne wachsen, Farne, winterfeste Kakteen und Clematis montana, die sich in jedem Jahr am Zaun entlangrankten. In den letzten beiden Jahren hatten sie nur dürftig geblüht, vor Kurzem aber hat er so viele Knospen wie nie zuvor an der Pflanze entdeckt.
Primeln kann jeder pflanzen, Narzissen, Tulpen, Stiefmütterchen und Fette Henne. Sein Garten soll von solchem Kleinwuchs, solchem Kleingeist, wie er in den Nachbar-Parzellen herrscht, verschont bleiben. Seine Holzhütte verzieren nicht wie nebenan Hirschgeweihe und das Gehörn von Gamsböcken. Gartenzwerge verabscheut er. Er hasst leidenschaftlich die Bambis aus Gips und die weißen Kopien der Davidstatue von Michelangelo.
In einer Ecke seiner Hütte lagert er einige Rollen Dachpappe. Nach jedem Winter rollt sich der Dachbelag auf, die Nägel sind verrostet. Ganze Stücke sind schon mit dem Eis herausgebrochen. In jedem Jahr muss er auf die Leiter steigen, das Dach neu mit der Pappe abdecken. Er hat Stahlnägel gekauft. Aber nach dem nächsten Winter wird er das Dach sicher wieder abdichten müssen. Es wäre nicht gut, wenn Feuchtigkeit in die Holzhütte eindringen könnte.
Seine Parzelle hat er nach den Gesetzen einer harmonischen Choreographie des Raums geplant und angelegt. Kein Kies, keine Betonsteine als Eingrenzung der Beete, kein Fahnenmast mit der österreichischen Flagge oder der des Landes Salzburg, nichts Rustikales.
Die schmalen Wege zwischen den Parzellen der Kleingärtner sind nach dem Watzmann benannt, nach Alpenrosen, nach dem Untersberg, dem Kapuzinerberg, dem Dachsteinmassiv, oder sie heißen Edelweißgasse, Alpenveilchenweg oder Maiglöckchenpfad.
Seine Parzelle aber liegt an der Teufelsgasse. Ihm gefällt der Name des Weges. Im Kaisergebirge gibt es gleich unterhalb des Prostkogels und der Prostalm auf knapp 1200 Metern Seehöhe, eine schmale Schlucht, passierbar nur im Sommer für Wanderer. Im Mai liegen in dieser Schlucht noch Schneereste auf feuchtem Laub. Er hat diese Teufelsgasse mehrfach durchquert, weil er die Almen des Kaisergebirges liebt. Er mag den leicht modrigen Geruch der faulenden Blätter dort. Er weiß, wo und wann die Gebirgsenziane blühen, die Schusternägel und die Orchideen. Einmal konnte er einen balzenden Auerhahn beobachten, aber als er vom pensionierten Dorfschullehrer gefragt wurde, ob er Auerhähne gesehen habe, schickte er ihn in ein anderes Wald- und Almgebiet, weil er nicht wollte, dass der kurzsichtige Schulmeister den Vogel abschoss. Teufelsgasse ist ein guter Name.
Er ist noch nie abergläubisch gewesen, dazu fehlt ihm jede Begabung, und er kennt auch nicht die geringste Anmutung metaphysischer oder religiöser Gefühle. Er hat sein Leben bisher sorgfältig durchmessen, es geplant, analysiert, darüber nachgedacht, seine Möglichkeiten, Begrenzungen und Verlockungen ausgelotet und im Übrigen seinem Verstand vertraut, der jeden Anflug von Angst oder übersinnlichen Perspektiven verbietet. Das hat sich bis heute nicht geändert.
Es ist spät. Bald beginnt die Morgendämmerung. Diesen Zwischenzustand liebt er mittlerweile. Da ist er allein mit sich, ungestört. Doch nicht, weil er sich dies so gewünscht hätte, sondern weil sich sein Alleinsein ereignet hat. Es war ihm zugestoßen. Es war über ihn gekommen wie eine Heimsuchung bei Nacht. Auch war er auf das Alleinsein nicht richtig vorbereitet gewesen. Es war damals eine Katastrophe. Jetzt hat er sich daran gewöhnt.
Gewiss doch: Es war absehbar, dass es auf ihn zukäme, einige Jahre schon, aber in dieser Zeit bedurfte es seines ganz starken Lebenswillens, um die Vorstufe des Alleinseins zu ertragen und anzunehmen. Dann war es so weit. Er musste sich daran gewöhnen, allein zu sein. Er erlaubte es sich nicht, am neuen, am radikal neuen Alleinsein zu zerbrechen. Der Mensch hat zwei Ebenen. Auf der einen bewegt er sich im Alltag, auf der anderen in seiner psychischen Dimension. Es gibt ein Über-Ich und ein Unter-Ich. Es ist ihm bisher gelungen, die Tür zwischen beiden Ebenen geschlossen zu halten. Eine logische Konsequenz seines starken Willens. Aber täglich öffnet er die Tür einen Spaltbreit. Und er schließt sie...
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