Schweitzer Fachinformationen
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Heute Morgen ist draußen alles blau. Diese Färbung der Luft, durchsetzt von den Träumen der Nacht. Ich zerreiße die Seiten, die ich gestern im Rausch der Erwartung geschrieben habe, in winzige Fetzen, damit das Puzzle meines Begehrens unleserlich wird, und lasse ein paar Schnipsel in meinem Tee schmelzen, der mir durch das Porzellan die Finger verbrennt. Mit der Decke im Warmen an der Heizung beobachte ich die vermummten Passanten auf dem Gehsteig, aus deren Mündern kleine Rauchwolken aufsteigen. Ich lehne die Stirn an die eisige Scheibe, lasse alles hinter dem Dunst meines Atems verschwinden und bin glücklich, als mein erwachendes Viertel und der schmelzende Schnee auf den Gehsteigen wieder auftauchen. Ich habe nichts vor, und damit es auch so bleibt, werfe ich mein Telefon in den Papierkorb und stelle mich unter die heiße Dusche. Ganz von Wolle umhüllt und in meinem dicksten Mantel verlasse ich meine Einzimmerwohnung, setze einen frierenden Fuß vor den anderen zwischen die zu Eis gewordenen Pfützen vor der Tür und wärme mich am Gedanken, vom Fenster aus mich selbst weggehen zu sehen. Dann tauche ich in den lauwarmen Schlund der Metrostation, lese murmelnd die Slogans an den Wänden. Im Waggon träume ich vor mich hin, die Nase im Pelz eines Damenmantels, bis eine unberechenbar wirkende Frau meine Unruhe weckt. Beladen mit überquellenden Plastiktüten voller Papier, den Körper verloren in viel zu weiten Kleidungsstücken, Krücke und fliehendes Gesicht hinter riesigen, blau getönten Brillengläsern. Ihr Wahnsinn hält mich in Schach, und unsere sich kreuzenden Blicke bilden einen Spannungskreis, eine Verbindung aus gegenseitiger Panik. Jeder fühlt sich vom anderen bedroht. Mit zittriger Hand malt sie etwas in die Luft, und wir wissen beide, dass es ein Zeichen für mich ist, ein Zauber. Ich schaue zu Boden. Die Schienen kreischen unter den Rädern des Zugs und übertönen den Singsang ihrer fast unhörbaren Kinderstimme. Ein Mädchen mit Walkman nimmt einen weiß eingepackten Käse aus ihrer Tasche und gibt ihn ihr. Der Form nach zu urteilen ein Ziegenkäse. Ihre Hände berühren sich. Die Verrückte sagt: »Danke, wirklich, Sie sind menschlich, nicht wie die anderen«, und wirft mir einen ängstlichen Blick zu. Von allen Fahrgästen bin für sie eindeutig ich derjenige, der für den desaströsen Lauf der Dinge auf dem Planeten steht. Ich wende mich ab, um mich auf einen der Plätze zu setzen, die für Schwangere, Alte und Kriegsversehrte reserviert sind, und versuche, diese gegenseitige Anziehung zwischen Psychopathen zu ergründen. Die Frau mir gegenüber lächelt verständnisvoll, und ich betrachte ihre molligen Hände, stelle mir vor, wie sie Plätzchenteig mit Zimt kneten, während der Glühwein in einem Topf auf dem Herd köchelt. Ihre Gutmütigkeit schützt mich vor der negativen Ausstrahlung der Verrückten, deren Anwesenheit meine innere Anspannung verstärkt. Die Frau beginnt, in ihrer Tasche zu kramen, und anstelle eines Käses hoffe ich auf ein Bonbon, das sie mit einem fröhlichen Knistern auswickeln wird. Der Geruch der Druckerschwärze des Prospekts, den sie mir unter die Nase hält, regt meine Fantasie an, und kurz denke ich, ich müsste ihr mit Informationen zur Funktionsweise der Pariser Metro aushelfen. Aber die Dame bietet mir ihrerseits Hilfe an. »Eine innere Leere, die Sie füllen möchten?«, fragt der Flyer vor dem Hintergrund einer ausgestreckten Hand. Ich schüttele den Kopf und die Finger, um mich zu bedanken, das sei wirklich nicht nötig. Sorgfältig packt die Frau den Prospekt wieder ein und zeigt mir als Vorwurf das Rosa ihrer Augenlider. Sie scheint nicht verärgert, aber ich fühle mich trotzdem ein wenig schuldig, mich nicht zum christlichen Glauben bekannt zu haben, um ihr eine Freude zu machen. Um den Eindruck eines eiligen Aufbruchs zu vermeiden, steige ich an der nächsten Haltestelle nicht aus. Wir fahren gemeinsam über die Seine, und als ich aufstehe, ist die Verrückte verschwunden. Wie viele Haltestellen hat sie nach ihrem Ausstieg noch in meinem Rücken existiert? Die Frage nagt an mir, während ich die Gedanken im Rhythmus meiner Schritte auf einem meiner einsamen Nachmittagsspaziergänge durch Paris schweifen lasse. Wenn die Kälte meine Finger und Zehen einfriert, flüchte ich mich in die Geschäfte, um die Heizungsluft zu atmen, die dicken Stoffe der Winterkollektionen zu streicheln, die alten Kinoplakate in ihren Ständern durchzublättern und mich bei jedem Film zu fragen, ob seine Handlung angesichts der Gefahren des neuen Jahrtausends noch möglich wäre. Meine Angst vor allem findet Trost in der offiziellen Anerkennung der unsichtbaren und ständigen Bedrohung neuer Holocausts. Mittlerweile erleben auch alle anderen den Frieden wie ich, nämlich auf Bewährung. Ich schleiche durch die musealen Gänge des Centre Pompidou und konzentriere mich weniger auf die Werke als auf die Jungs, die sich ihnen gewachsen fühlen. Dann steigt auf einer rundum verglasten Rolltreppe die Erinnerung an einen Traum meiner Kindheit in mir auf, in dem ich von genau diesem Ort aus einen einsamen Wal betrachtete, der durch die untergegangene Stadt schwamm. Genau dort zu stehen, wo ich im Traum gestanden hatte, war das die Einladung, das Kind von damals nicht zu verraten? Meine Augen gleiten über die in eisiges Licht getauchten Dächer von Paris. Irgendwo unter dem Asphalt, ganz in der Nähe, das weiß ich jetzt, grollt der Hangar. Mit glühenden Wangen und voller Sorge, man könnte mir mein Begehren vom Gesicht ablesen, mache ich mich in den Straßen des Marais auf die Suche. Aber dort wie überall bin ich der Welt egal, ich allein überwache mit verbissener Scham mein Spiegelbild in den Schaufenstern. Der Nachmittag geht zu Ende, und in den engen Straßen verströmen die Jungs mit ihren zerzausten Haaren alle dasselbe Parfüm, Frühling unter Plastikfilm. Zitrusfrüchte gelten zur Zeit als besonders erotisch. Ich folge den Namen der Straßen, ohne mein Ziel zu kennen, benommen und fast fiebrig. Ich ziehe meinen Mantel aus, und da ich nicht weiterweiß, bleibe ich wie versteinert an einer Ecke stehen, schaue mich um, als würde ich warten, dann gebe ich auch das auf, reglos im Strom der Passanten. Ich brauche immer lange, um die Unordnung der Dinge aufzulösen, um klarer zu sehen. Zunächst das kleine Café gegenüber, auf der anderen Straßenseite, mit seinem hufeisenförmigen Tresen, der den ganzen Raum einnimmt. Ein alter Mann im Jackett trinkt allein ein Bier. Daneben eine Bäckerei, und dann ein weiteres Café, groß, sehr pariserisch, unsympathisch. In der Lawine der Zeichen bleibt mein Blick an einer kleinen Hand in dem holzgetäfelten Raum hängen, gleich hinter der Scheibe. Weiße Handfläche, die an ihrem Ast aus Wolle herumwirbelt, um einen unaufmerksamen Kellner heranzuwinken. Plötzlich verschwindet sie unter dem Tisch und taucht mit einem Streichholz zwischen Daumen und Zeigefinger wieder auf, eine Flamme flackert vor dem Gesicht einer Frau mit melancholischen Augen auf. Kurze, zu kurze Haare, Haare einer Flüchtigen, einer, die sich mit einem Deutschen eingelassen hat, einer Gestörten. Ich bleibe bei diesem Gesicht am Feuer und lasse mich von den kurzen Finsternissen durch die Körper der Passanten nicht stören. Nach jeder Gestalt taucht es in seinem niedergeschlagenen Warten, mit den hängenden Wangen wieder auf. Nur die Augen mit den eisblauen Schatten darunter bewegen sich, ausgetrocknet von einem Übermaß an Tränen, deren Weg mir angesichts der Sperre der Wangenknochen unklar bleibt. Zwei Hügel werfen ihren Schatten auf den Alkoholikermund. Und wenn es sie wäre? Meine Mutter. Wenn sie, anstatt zu sterben, nur gegangen wäre? Wenn sie, anstatt zu gehen, nur von Café zu Café irren und sich nach jeder Zigarette sagen würde: »Heute Abend gehe ich nach Hause«, es aber nicht wagen würde, nicht wüsste wie. Ich bin die Verzweiflung auf dem Boden ihrer Tasse und die kleine Hand, die den Kaffee zum Mund führt, der Moment des Brennens auf der Zunge, der die Frau zu sich zurückbringt, das Café um die Frau herum und meinen Körper auf dem Gehsteig, wo der Tag sich zurückzieht. Die Hand greift zitternd nach der vergessenen Zigarette, mehr Asche als Papier, der Mund saugt Luft ein, gibt der Frau die Gelegenheit, sich hinter dem Rauchschleier zu verstecken. Sie kommt zu sich, lächelt vor sich hin, lächelt dann, um ihr Gefühl dahinter zu verbergen, lässt die Finger durchs Haar und über ihre vollen Lippen gleiten, um sich ihrer eigenen Umrisse zu vergewissern, und sucht zwischen den über ihre Skripte gebeugten Studenten nach einem freundschaftlichen Blick. Ich beobachte deren Bewegungen und die Spiegelungen der Straße, die sich über ihre Hirngespinste legen. Das Ballett der Kellner, die in die Kälte zu den wenigen Gästen draußen kommen, von der Schwelle einer Toreinfahrt aus eine bekannte Gestalt mit einer Tasche voller in rosafarbenes Metzgerpapier eingewickelter Einkäufe grüßen. Alte Damen mit Dutt, die gleich wieder in ihrer Zweizimmerwohnung mit feuchten Tapeten und grauen Fensterläden sitzen werden. Ihre beruhigende Anwesenheit löscht das um sich greifende Feuer der eng sitzenden Hosen, Bomberjacken, wasserstoffblonden Haare und gespannten Bäuche, von denen es auf dem Pflaster des Marais wimmelt. Welche stillschweigende Übereinkunft aus aufgehaltenen Türen, nach oben getragenen Einkäufen und geteilter Einsamkeit herrscht zwischen den alten Witwen und den erblühenden Jungs? Die Benommenheit wird stärker. Ich ziehe den in meinen Armen ausgekühlten Mantel wieder über und steuere, als hätte ich nie etwas anderes vorgehabt, einen wenige Meter entfernten Buchladen an.
Mit dem Glöckchen öffnet sich der Blick auf eine Wand voller einschlägiger Zeitschriftencover. Ein Mosaik aus Jungskörpern, fotografiert im Dunst...
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