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Psychische Störungen sind ihrer Natur nach zu einem wesentlichen Teil Langzeiterkrankungen. Dies gilt für hirnorganische Störungen, Suchterkrankungen, schizophrene Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, aber auch viele depressive, somatoforme und Angsterkrankungen. Sie beeinträchtigen daher auch in vielen Fällen die Fähigkeit zur Lebensbewältigung. So sind psychische Erkrankungen laut Sachverständigenrat der Bundesregierung (2015) der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit. Diese Patienten leiden gleichzeitig auch unter Problemen mit der Teilhabe am sonstigen sozialen Leben im Sinne von Beziehungsproblemen, Schwierigkeiten im Umgang mit Kollegen oder einem eingeschränkten sozialen Netz (Muschalla & Linden, 2011a, 2011b). Sie sind daher klinisch wie auch juristisch als »Behinderung« zu verstehen (Heberlein, 2017). So ist nach § 2 Absatz 1 SGB IX (Sozialgesetzbuch 9) und Bundesteilhabegesetz (BTHG) (2016) von einer Behinderung zu sprechen, wenn Menschen durch ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit in Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
Dies entspricht einer ganzheitlichen bio-psycho-sozialen Perspektive in Anlehnung an die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) (WHO, 2001). Diese unterscheidet als Krankheitsmanifestationen bzw. -folgen zwischen Funktionsstörungen (Symptomatik), Fähigkeitseinschränkungen, Kontextbarrieren und Teilhabebeeinträchtigungen.
Fähigkeitseinschränkungen beschreiben transdiagnostisch Probleme in der Ausübung von Aktivitäten, sei es im Privat- oder Arbeitsbereich. Psychische Störungen führen zu Fähigkeitseinschränkungen, die als »soft-skills« bezeichnet werden können und die gerade in der modernen Lebenswelt von besonderer Bedeutung sind. Hierzu zählen die Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen, die Fähigkeit zur Planung und Strukturierung von Aufgaben, die Umstellungsfähigkeit und Flexibilität, die Fähigkeit zur Kompetenz- und Wissensanwendung, die Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit, die Proaktivität, die Widerstands- und Durchhaltefähigkeit, die Selbstbehauptungsfähigkeit, die Konversations- und Kontaktfähigkeit zu Dritten, die Gruppenfähigkeit, die Fähigkeit zu engen dyadischen Beziehungen, die Fähigkeit zur Selbstpflege und Selbstversorgung, die Verkehrsfähigkeit und Mobilität (Forstmeier et al., 2010; Linden et al., 2022). Personen mit Einschränkungen in derartigen Fähigkeiten haben vielfältige Probleme im Alltag.
Kontextbarrieren umfassen zum einen »Personenfaktoren«. Dazu gehören individuelle Charakteristika wie z.?B. das Geschlecht, der Bildungsstand oder das Alter. Diese Parameter werden in der ICF angesprochen, jedoch nicht im Detail ausgeführt. Zum Zweiten gehören zu den »Kontextfaktoren« Charakteristika der Lebensumwelt. Beispiele sind die Wohnverhältnisse, der Arbeitsplatz, die finanziellen Mittel, die Verfügbarkeit von Fortbewegungs- oder Kommunikationsmitteln oder die Gesundheitsversorgung.
Fähigkeiten und Kontext treten nun in Wechselwirkung miteinander. Jede Umwelt stellt eine Reihe unabdingbarer Anforderungen. Eine Wohnung verlangt eine Mindestproaktivität, da ansonsten der Müll nicht entsorgt wird, oder eine Mindestfähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen, da ansonsten Probleme mit Mietzahlungen oder der Hausordnung zu erwarten sind. Am Arbeitsplatz kann Flexibilität gefordert sein, wobei sich das benötigte Mindestmaß je nach Arbeitsstätte unterscheiden kann. Eine Krankenschwester auf einer Station benötigt viel Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, eine Krankenschwester im Blutspendedienst deutlich weniger.
Partizipationsbeeinträchtigungen (Teilhabebeeinträchtigungen) ergeben sich nun aus Problemen in der Person-Umweltpassung. Das Fähigkeitsprofil passt nicht zu den unabdingbaren Umweltanforderungen, so dass eine Person nicht in der Lage ist, ihren Rollen im Privaten, im Beruf oder im sonstigen sozialen Leben zu entsprechen. Eine besondere Herausforderung besteht bei den Patienten, die aus bio-psycho-sozialer Perspektive multiproblembelastet sind, verbunden mit existenziellen Notlagen. Durch eine unzureichende soziale An- und Einbindung fehlt oftmals der Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem (»Hard to reach-Klientel«) (Bösel et al., 2020).
Dies hat unmittelbare therapeutische Konsequenzen. Teilhabebeeinträchtigungen sind für Patienten in vielen Fällen von größerer Relevanz als Befindlichkeitsstörungen. In der Behandlung von Patienten genügt es daher nicht, sich nur mit der Krankheitssymptomatik im engeren Sinne zu befassen. Es bedarf ebenso Maßnahmen zur Förderung der Teilhabe in allen Lebensbereichen, um den Patienten dabei zu unterstützen, über die Jahre und Jahrzehnte zu kommen, wozu fähigkeits-?, kontext- und teilhabeorientierte Interventionen gleichermaßen gehören.
Geht man nach einschlägigen epidemiologischen Studien davon aus, dass etwa ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung unter psychischen Erkrankungen leidet, die zudem ihrer Natur nach in vielen Fällen einen chronischen Verlauf nehmen und regelhaft mit Teilhabebeeinträchtigungen einhergehen (Jacobi et al., 2014), dann stellt sich die Frage, wo und wie diese Kranken mit langzeitiger Perspektive betreut werden. Wegen der großen Zahl der Patienten und der langen Behandlungszeiträume kommt den Hausärzten hierbei eine besondere Bedeutung zu. Sie erbringen die Hälfte aller Leistungen in der Versorgung psychisch Kranker (Hannöver & Hannich, 2015). Sie sind dafür auch qualifiziert, da eine curriculare Weiterbildung in psychosomatischer Grundversorgung eine zwingende Voraussetzung für die Erlangung des Facharztes ist und da sie viele derartige Patienten sehen und über entsprechend viel klinische Erfahrung verfügen. Zudem steht ihnen prinzipiell ein breites Arsenal an somatomedizinischen, pharmakotherapeutischen, psychotherapeutischen und soziotherapeutischen Interventionen zur Verfügung, die sie persönlich oder in Kooperation mit anderen Akteuren des Gesundheitswesens durchführen können. Die Kontaktzeiten zu den Patienten sind auf Jahre hin angelegt mit hohen Zufriedenheitswerten auf Seiten der Patienten und klinischen Wirkungen, die mit einer Behandlung durch Spezialisten vergleichbar sind (Bower et al., 1996; Bundesvereinigung, 2006; Gensichen et al., 2013).
In Abgrenzung zur Behandlung durch Spezialisten und auch Psychotherapeuten geht es hierbei um die »Grundversorgung psychisch Kranker«. Die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) listet eine ganze Reihe allgemeiner »verbaler therapeutischer Interventionen« auf, wie z.?B. die allgemeine Patientenführung und -beratung, die eingehende Beratung, die Psychoedukation, die Behandlung durch ein eingehendes therapeutisches Gespräch oder die Notfallintervention. In der Psychotherapie-Richtlinie wird die Grundversorgung in Abgrenzung zur prozesshaften Psychotherapie definiert als eine möglichst frühzeitige differenzialdiagnostische Klärung psychischer und psychosomatischer Krankheitszustände in ihrer ätiologischen Verknüpfung und unter Gewichtung psychischer und somatischer Krankheitsfaktoren sowie auch als eine seelische Krankenbehandlung durch verbale Interventionen nicht nur bei akuten seelischen Krisen, sondern auch im Verlauf chronischer Krankheiten und Behinderungen, d.?h. als eine verbale oder übende Basistherapie psychischer, funktioneller und psychosomatischer Erkrankungen durch den primär somatisch orientierten Arzt (Kassenärztliche Bundesvereinigung, 1998).
In einem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM, 2013) wird ausgeführt, dass sich die Grundversorgung auf alle Beratungsanlässe bezieht und daher unterschiedliche Ziele mit unterschiedlicher Reichweite verfolgt. Sie arbeitet mit einem erweiterten Spektrum von Interventionen einschließlich psychosozialer Interventionen und dient der Einleitung von Leitlinien-gerechten Behandlungspfaden.
Dass dazu auch umfangreiche sozialmedizinische Aktivitäten gehören, zeigte eine Untersuchung von Linden et al. (2016). Dabei zeigte sich, dass 77?% der chronisch psychisch kranken Patienten länger als ein Jahr bei ihrem Hausarzt in Behandlung waren, mit mehrfachen Praxisbesuchen in 92?% der Fälle. Zu den erweiterten sozialmedizinischen und komplementären Interventionen gehörten Arbeitsunfähigkeitsatteste (56?% der Patienten), die Verordnung von Physiotherapie...
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