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Ich bin nicht nervös. Ich habe auch keine Angst, ich fliege einfach nur sehr ungern. Es ist mir ein wenig unheimlich, wie ein so großes, schweres Ding sich in die Luft erheben kann. Natürlich sage ich das keinem, das wäre ja albern. Ich meine, ich hatte in der Schule Physikunterricht, und da wurde uns ganz genau erklärt, wie das funktioniert, mit Kräfteausgleich und so weiter. Ich habe die Einzelheiten zwar vergessen, aber an den zahlreichen Flugzeugen am Himmel sieht man ja, dass unser Lehrer recht hatte. Es ist nur so, dass ich es jedes Mal nicht glauben kann, bevor wir abheben.
Als es so weit ist, hole ich tief Luft und vermeide dabei den Blick aus dem Fenster. So ähnlich fühlt sich ja auch Aufzug fahren an, und dabei wird mir schließlich auch kein bisschen mulmig.
»Flugangst?«, fragt die ältere Frau neben mir und sieht mich eher spöttisch als mitfühlend an. O nein, die hat vorhin schon bei der Sicherheitskontrolle ewig gebraucht und die Stewardess vollgetextet. Ich hatte gehofft, sie wäre schon eingedöst.
»Nein, gar nicht«, sage ich und klammere mich an der Armlehne fest. Hoffentlich will sie kein längeres Gespräch anfangen. Dazu habe ich jetzt echt keine Nerven.
Meine Sitznachbarin wirkt in ihrem wallenden, bunten Kleid wie ein sehr in die Jahre gekommenes Blumenkind. Sie hat eine riesige, altmodische Handtasche auf dem Schoß, in der sie unermüdlich herumkramt. Die Tasche gleicht mit dem braunlila Blumenmuster einem alten Vorhang oder Sofabezug, und ein bisschen riecht sie auch so.
»Muss Ihnen nicht peinlich sein, Kindchen.« Jetzt hat sie offenbar endlich das gefunden, was sie gesucht hat, denn sie quetscht ihr muffiges Behältnis in den schmalen Platz zwischen ihren Beinen. Ich kann es nicht ausstehen, wenn mich jemand Kindchen nennt. Zu einem Mann würde auch keiner Bübchen sagen.
»Es hat nichts mit dem Flug zu tun. Ich fange morgen einen neuen Job an und deshalb bin ich aufgeregt«, erkläre ich und frage mich sofort, warum. Das mit dem Job stimmt zwar halbwegs, aber das Flugzeug ist mir unheimlicher, als ich zugeben will.
»Soso«, murmelt sie nur und zieht dann eine Stricknadel aus ihrem Dutt. Zu meiner Verwunderung klemmt sie die Nadel zwischen ihre Zähne und schüttelt den Kopf, sodass ihre langen, grauen Haare um ihr Gesicht fliegen - und in meines. Ich versuche, von ihr abzurücken, aber die Sitze sind arg schmal. Dann rollt sie ihr Haar zu einer Schnecke zusammen und steckt es mit der Stricknadel wieder am Hinterkopf fest.
»Die ist aus Plastik«, erklärt sie, »die piepst nicht bei der Sicherungskontrolle. Dabei ist die auch ganz schön scharf. Könnte man gut als Waffe verwenden.«
Ich beschließe, ihre Bemerkung einfach zu überhören, und hole mein Buch aus dem Rucksack. Das Startmanöver ist mittlerweile abgeschlossen, und ich bin einigermaßen ruhig. Start und Landung sind die beiden kritischsten Phasen, somit habe ich praktisch die Hälfte der Gefahr schon hinter mir, rede ich mir innerlich gut zu. Außerdem muss ich langsam anfangen, mich zu entspannen, sonst sagt Annette später wieder was über die Falte auf meiner Stirn. Obwohl meine Schwester meistens kühl und distanziert ist, freue ich mich darauf, sie wiederzusehen. Und trotz der Nervosität freue ich mich auch auf mein Praktikum. In der malerischen Schweiz zwischen Bergen und Wiesen in einer wunderschönen alten Schokoladenmanufaktur zu arbeiten muss traumhaft sein. Mein Schwager hat mir diese Stelle in seinem Unternehmen besorgt, und ich kann noch immer kaum glauben, wie idyllisch alles auf den Bildern im Faltprospekt aussieht. Die Broschüre scheint schon ein paar Jahre alt zu sein, aber Berge und Wiesen neigen ja nicht dazu, sich plötzlich aufzulösen, also ist es bestimmt wundervoll dort. Und es gibt Schokolade in Hülle und Fülle; ich meine, muss ich noch mehr sagen? Mir ist schon klar, dass ich nicht in Willy Wonkas Schokoladenfabrik arbeiten werde, aber anders als zauberhaft kann ich mir dieses Praktikum einfach nicht vorstellen. Es kommt nur ein wenig zum falschen Zeitpunkt. Natürlich bin ich dankbar für diese Chance, und ich brauche auch wirklich diese Praktikumsbescheinigung, aber gerade jetzt, nachdem Johnny und ich uns wiedergefunden haben, fällt es mir verdammt schwer, Hamburg zu verlassen.
Es ist eine lange, komplizierte Geschichte, wie aus unserer Teenagerliebe erst ein Kontaktabbruch, dann Waffenstillstand, danach eine zaghafte Freundschaft und schließlich wieder Liebe geworden ist. Aber so ist das eben im echten Leben, da verläuft nicht alles nach Plan, und man wird immer wieder vom Schicksal überrascht. Jedenfalls hatten sich in diesem Frühjahr all unsere früheren Probleme aufgelöst, und Johnny hat so ernsthaft und geduldig um mich geworben, dass ich irgendwann alle Bedenken fallen gelassen und mich noch einmal neu auf ihn eingelassen habe. Menschen verdienen eine zweite Chance, und er ist einfach mein Traummann: gut aussehend, lustig, locker, unkonventionell - und eben auch meine erste große Liebe.
Unser zweiter Anlauf ist noch sehr frisch, und richtig offiziell ist Johnny auch noch nicht getrennt. Er und seine Ex-Freundin Tina haben zwar bereits während ihres Auslandssemesters telefonisch Schluss gemacht, aber Johnny ist es wichtig, noch einmal persönlich mit ihr zu sprechen. Das verstehe ich vollkommen, eigentlich finde ich es sogar sehr anständig. Es ist nur ein wenig unglücklich, dass Tina ausgerechnet heute zurückkommt, wo ich in die Schweiz fliege und ich Johnny nach ihrer Aussprache nicht gleich treffen kann. Er wird mich natürlich anrufen und mir alles erzählen, das hat er mir versprochen, und ich habe ihm versichert, dass ich die Ruhe in Person bin. Ich bin vollkommen entspannt, so entspannt, wie man nur sein kann.
Plötzlich ruckelt das Flugzeug, unerwartet und heftig. Ich schreie auf und packe meine Sitznachbarin am Arm. Peinlich berührt lasse ich sie gleich darauf wieder los und entschuldige mich. »Tut mir echt leid, das war ein Reflex.« Ich zupfe verlegen an meinem Pulloverärmel. Es ist mein teuerster, bester Wollpulli, und er passt perfekt zu der Bluse und dem grauen Rock, die ich trage. Wenn ich zu meiner Schwester fliege, ist nämlich nichts mit Schlabberklamotten beim Fliegen. Sobald ich ankomme, beginnt ein durchgetaktetes Programm, bei dem man vorzeigbar sein muss.
»Schon gut, Kindchen, das sind ganz normale Turbulenzen. So schnell stürzt ein Flugzeug nicht ab.«
Dankbar für ihr Verständnis nicke ich meiner Sitznachbarin zu und verstaue dann mein Buch im Gepäcknetz vor mir. Offenbar läuft es doch auf eine Unterhaltung hinaus, aber vielleicht habe ich ihr ja auch unrecht getan, und sie ist richtig nett. Da ich keine Oma habe, sollte ich mich eigentlich über ein Gespräch mit einer älteren Dame freuen.
»Obwohl man natürlich nie genau weiß . Es kann auch ganz schnell gehen und muss gar nicht besonders dramatisch verlaufen«, fährt sie fort.
Das beruhigt mich jetzt weniger.
»Wie meinen Sie das?«
»Es gibt alle möglichen Gründe, warum ein Flugzeug abstürzen kann. Nicht nur, dass der Pilot die Kontrolle verliert.«
Langsam macht sie mir wirklich Angst.
»Nicht immer hat man noch die Möglichkeit, den Angehörigen eine Nachricht zu senden. Aber das macht nichts. Ich hatte ein gutes Leben. Wenn es jetzt vorbei wäre, wäre das okay für mich.«
Wie bitte?
»Aber für mich nicht«, widerspreche ich. »Ich bin erst sechsundzwanzig. Ich bin frisch verliebt. Mein Leben fängt doch gerade erst an!«
»Ja, in Ihrem Alter, da hält man die Liebe noch für das Wichtigste.«
»Aber die Liebe ist doch auch das Wichtigste!« Ich klinge wie eine Anwältin bei ihrem Schlussplädoyer.
»Sie waren bestimmt noch nie verheiratet, oder?«
»Nein«, sage ich etwas leiser.
»Ich war dreimal verheiratet, zweimal verwitwet, einmal geschieden«, sagt sie zufrieden und öffnet eine große Bonbondose. »Auch eins?«
Der Geruch von Salbei, Lavendel oder irgendetwas eklig Kräuterigem wabert zu mir herüber, und ich lehne dankend ab und überlege, wie ich dieses Gespräch wieder beenden kann. Dies hier ist nicht die Oma, die ich nie gehabt habe. Also hole ich meine Bewerbungsmappe aus dem Rucksack, ziehe vorsichtig den Faltprospekt der Zuckermann-Manufaktur aus der Klarsichthülle und schaue mir zum vermutlich hundertsten Mal meine zukünftigen Arbeitgeber an.
Sie wirken auf dem Gruppenbild vertraut: einander zugewandt, liebevoll. In der Mitte sitzt Elisabeth Zuckermann, die Chefin, und um sie herum sind junge gut aussehende Menschen in schicken Klamotten. Ein bisschen wie die Familienbilder der englischen Königsfamilie, die dann ausgiebig in den Klatschzeitschriften analysiert werden. Der junge Mann rechts neben Elisabeth hat die Hand leicht auf ihrer Schulter und lächelt sie halb an. Das ist laut Bildunterschrift Fabian Zuckermann, wahrscheinlich ihr Enkel, und man sieht sofort, dass sie ihm enorm wichtig ist. Die Frau neben ihm (Bildunterschrift Kirsten Zuckermann-Brenner) hält dagegen einen größeren Abstand zu ihm, und obwohl sie lächelt, wirkt sie bei genauerem Hinsehen fast so, als ob sie der Gruppe gern entfliehen würde. Das ist mir ein Rätsel, denn schließlich ist es ihre Familie. Wenn ich eine richtige Familie hätte, würde ich mich drum reißen, neben meiner Oma auf dem Sofa sitzen und ihre Wärme und den Zusammenhalt empfinden zu können. Aber vielleicht ist es auch nur ihre Schwiegerfamilie, und ihre Ehe mit Fabian ist längst am Ende, wegen unüberbrückbarer Differenzen. Sie ist ein Fan von Traube Nuss, er schwört auf Marzipan.
Mit einem Grinsen im Gesicht schaue ich mir die beiden gegensätzlichen Einzelporträts auf dem Feld mit der Aufschrift Kontakt an. Ein sympathisch...
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