KAPITEL 1
Frau Hasemanns Welt geht unter - ein bisschen zumindest
Es ist der Tag vor Heiligabend. Frau Hasemann sucht gerade im Gewürzregal des Dorfladens nach getrocknetem Beifuß für die Füllung der Weihnachtsgans, als ihre Tochter Julia ihr den schwärzesten Tag der Adventszeit beschert.
»Mami«, ruft Julia durch das Telefon, das Frau Hasemann an ihr linkes Ohr presst, während sie mit der rechten Hand ungeduldig die Gläschen mit Oregano, Pfefferkörnern und Zimt beiseiteschiebt. »Mami, wir müssen über Heiligabend reden! Ich schaffe es einfach nicht - warum kommt ihr nicht einfach zu mir?«
In diesem Moment stürzt ein Gläschen mit Cayenne-Pfeffer vor Frau Hasemanns Nase aus dem Regal und zerbricht mit lautem Knall auf dem Steinfußboden.
30 peinliche Minuten später, nachdem der Pfeffer weggefegt ist und sich Frau Hasemann ungefähr eine halbe Million Mal bei der übellaunigen Aushilfskraft für ihre Ungeschicklichkeit entschuldigt hat - und nach einer ähnlichen Menge an Niesern, weil ihr der Pfeffer in die Nase gestiegen ist -, steht Frau Hasemann an ihrem Fahrrad und kämpft mit den Tränen.
»Sei nicht albern, du dumme Gans«, schimpft sie leise mit sich selbst. Sie weiß ja, dass gerade nicht die Welt untergeht. Höchstens ihre eigene.
Julia ist 22 Jahre alt, hat nach dem Abitur eine Schneiderlehre gemacht und arbeitet jetzt seit einem Jahr in Hamburg, anderthalb Autostunden von Kiekeby entfernt. Wobei es Frau Hasemann immer so vorkommt, als läge Hamburg auf einem anderen Stern in einer anderen Galaxie. Seit ihrem Umzug ist Julia nur zweimal nach Hause gekommen. Jedes Mal hat sie dann zehn Stunden am Stück geschlafen. Mittags ist sie wie ein ausgehungerter Wolf über das Essen hergefallen und hat den Rest des Tages auf dem Wohnzimmersofa gelümmelt und ihre alten DVDs angesehen.
Frau Hasemann hat derweil mit Herrn Hasemann am liebevoll gedeckten Kaffeetisch gesessen und sich gewundert. »Wie oft will sie diese Gilmore Girls noch gucken?«, hat sie ihm zugewispert. Eine komische Serie ist das. Zugegeben, das innige Verhältnis zwischen Mutter Lorelai und Tochter Rory gefällt ihr eigentlich ganz gut. So hat sie sich und Julia auch immer gesehen. Allerdings gibt es da auch noch die Mutter von Lorelai. Eine vollkommen überzogene Figur, findet Frau Hasemann. Wie die sich ständig in das Leben ihrer Tochter einmischt - schrecklich. »Ich bin sicher, sie kann jede Episode mitsprechen!«
Gerd Hasemann zuckte nur mit den Schultern. Dann bohrte er seine Kuchengabel in das Apfelkuchenstück vor ihm und tat das, was er in den letzten 30 Jahren zu einiger Perfektion gebracht hat: Er schweigt. Diese Taktik bewährt sich für den Elektro-Ingenieur immer wieder, bei seinen Vorgesetzten und der Gattin gleichermaßen.
Manchmal weiß Herr Hasemann nicht, was mit seiner Frau los ist. Erst jammert sie ständig, dass Julia nicht nach Hause kommt. Und wenn ihre Tochter da ist, scheint sie auch unzufrieden zu sein. Herr Hasemann ist eigentlich immer mit dem zufrieden, was ist. Deswegen fängt er auch mit Frau Hasemann keine große Diskussion an, lobt den Apfelkuchen und greift nach dem neuen Baumarktkatalog.
Frau Hasemann ist nicht glücklich darüber, dass Julia ausgerechnet nach Hamburg gegangen ist. So eine große Stadt! Ja, der Hafen ist schön und die Innenstadt mit den vielen teuren Geschäften auch - aber eben zu groß! Der Trubel macht Frau Hasemann nervös, und bei der Vorstellung, dort einen Parkplatz suchen zu müssen, bricht ihr der Schweiß aus. Aber vor allem: die Menschen! So viele von ihnen! »Da wohnen eins Komma sieben Millionen«, sagt Frau Hasemann Julia bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ihre Stimme hat dabei stets einen vorwurfsvollen Ton, als wäre ihre Tochter persönlich für die globale Überbevölkerung verantwortlich. »Die zweitgrößte Stadt Deutschlands. Die Menschen kennen einander dort doch gar nicht! Gerade wieder habe ich gelesen, dass jemand wochenlang tot in seiner Wohnung gelegen hat. Unbemerkt. Den hat keiner vermisst! Und dann das Rotlichtviertel. Die Reeperbahn. Verbrechen, Drogen, Kriminalität . Kind, Hamburg ist keine Stadt, Hamburg ist der Inbegriff von seelischer Kälte.«
Julias Antwort, das mit dem Tot-in-der-Wohnung-liegen könne ihr auf keinen Fall zustoßen, weil ihre Mutter täglich anrufe, lässt Frau Hasemann nicht gelten.
Erst einmal haben Hasemanns ihre Tochter in Hamburg besucht. Als sie ihr das Sofa gebracht haben. Julia ist in eine WG gezogen, alles andere ist zu teuer. Jetzt wohnt sie mit zwei jungen Männern zusammen. Der eine studiert, der andere tanzt. Herr Hasemann ist mit dem rothaarigen Mathestudenten Sebastian sofort in die Kneipe am Ende der Straße gepilgert, weil, wie er sich ausdrückte, »ein wichtiges Fußballspiel läuft«. Was an einem Fußballspiel wichtig ist, hat sich Frau Hasemann noch nie erschlossen. Und was kann wichtiger sein, als die einzige Tochter zu besuchen? Julia hatte allerdings auch wenig Zeit, denn sie arbeitet in der Kostümabteilung beim Musical Der König der Löwen. Dort scheint auch der Tänzer beschäftigt zu sein. Julia wollte ihrer Mutter eigentlich noch etwas über ihn erzählen, aber Frau Hasemann wischte dies vom Tisch wie lästige Brotkrumen. »Kind, nun erzähl mir doch lieber von dir!« Was ging sie ein Mann an, der es für sinnvoll hielt, als Löwe verkleidet über eine Bühne zu springen. Oder als Antilope. Oder was man da noch so im Angebot hatte. Frau Hasemann hat einmal einen Ausschnitt aus Der König der Löwen im TV gesehen, und eigentlich gefiel ihr das damals sehr gut. Aber das war, bevor Julia begann, dort zu arbeiten.
Natürlich weiß Frau Hasemann, dass Weihnachten Hochsaison für Musicals ist, weil dann alle Welt unterwegs sein muss. Die Menschen wollen nicht gemütlich in den eigenen vier Wänden feiern, sie wollen »was erleben«. Etwas, was Frau Hasemann völlig überflüssig findet. Deswegen hat sie in weiser Voraussicht Julia schon im Oktober auf die Festtage hingewiesen - damit sie für den 24. und 25. Dezember Urlaub einreicht. »Wir wollen doch wie immer feiern, oder?«, hat sie ihre Tochter beschworen.
Während Frau Hasemann sich jetzt an ihren Fahrradlenker krallt, fällt ihr auf, dass Julia auf diese Frage nie eine Antwort gegeben hat. Aber Weihnachten, ohne dass ihre Tochter am Nachmittag den Baum schmückt, ohne den gemeinsamen Kirchgang, die Bescherung und dann das traditionelle Gansessen - das ist doch kein Weihnachten! Nein, wirklich nicht. Weihnachten ist ein Fest, bei dem alles seinen geordneten Gang zu gehen hat. Das denkt jedenfalls Frau Hasemann, die wie immer am ersten Advent die Rezepte für das Weihnachtsessen herausgesucht hat.
»Kannst du das nach so vielen Jahren nicht auswendig?«, wollte Herr Hasemann wissen, als er sie über den alten Kochbüchern und der speckigen Kladde am Küchentisch sitzend fand. Er hat sich ein Bier aus dem Kühlschrank genommen und ihr über die Schulter geschaut, wie sie die Seiten mit den Fettflecken geblättert hat. Frau Hasemann nickte seufzend.
»Aber wenn ich die Rezepte noch einmal lese, erinnere ich mich an so vieles. Und es bringt mich schon in Weihnachtsstimmung. Findest du nicht, dass das alles dazugehört?«
Herr Hasemann weiß, dass manche Fragen nicht dazu gedacht sind, beantwortet zu werden. Also hat er sich schweigend mit seinem Bier zu ihr gesetzt, und als seine Frau das Rezept für den Rotkohl, den sie immer selbst kocht, vorliest, ist auch er bei den Worten Nelken und Rotkohl und Äpfel sehr vergnügt und nostalgisch geworden.
»Wie geht noch einmal dieser Song, den sie zu Weihnachten immer im Radio spielen? Du weißt schon, der, bei dem Julia als Kind nicht verstanden hat, worum es geht.«
Frau Hasemann weiß sofort, dass Herr Hasemann Wham! und Last Christmas meint. Ein Lied, das sie persönlich grauenhaft findet. Aber Julia hat mit fünf Jahren immer wieder gefragt: »Mami, was hat Lars eigentlich Schlimmes gemacht, dass er keine Geschenke bekommt?« Frau Hasemann forschte erfolglos in ihrem Bekanntenkreis nach einem Jungen dieses Namens, bis sie Julia eines Tages in ihrem Zimmer singen hörte: »Lars kriegt nix, la, lala, lala.« Bei der Erinnerung müssen beide kichern, und während Frau Hasemann das Lied singt, greift Herr Hasemann über die Rezepte hinweg nach der Hand seiner Frau. Leider hat dann das Telefon geklingelt, und wie immer, wenn Herr Hasemann die Nummer auf dem Display erkennt, meldet er sich gutgelaunt mit den Worten: »Hier spricht Hasemann - vorne Rammler, hinten Kerl, haha!« Frau Hasemann hört das schon gar nicht mehr. Aber an jenem Abend hat sie trotzdem die Augen verdreht.
An all das denkt Frau Hasemann, während sie neben ihrem Fahrrad steht und heult. Sie will Weihnachten wie immer feiern! Sie will nicht nach Hamburg, in dieses brutale Sündenbabel mit seinen Millionen aufgedrehten Menschen, die von innerer Einkehr, von Heimeligkeit und Behaglichkeit keine Ahnung haben. Sie sehnt sich nach der Schulter von Herrn Hasemann, der sie verstehen wird. Also schwingt sie sich aufs Rad und tritt so kräftig in die Pedale, dass der feine Pulverschnee, der die Straßen überzuckert, hochwirbelt.
Doch ausgerechnet Gerd Hasemann, ihr Gerd, enttäuscht sie. Der Mann, den sie mehr kennt, als ihr manchmal lieb ist. Jeden Morgen bearbeitet er beispielsweise seine Füße - deutlich hörbar im ganzen Haus - mit einer Hornhautraspel. Nun ist gegen gepflegte Männer nichts einzuwenden. Trotzdem gehört das zu den Dingen, die Frau Hasemann gar nicht wissen möchte, und sie findet auch, dass Gerd es in der Privatsphäre des Badezimmers und nicht auf der Bettkante sitzend erledigen sollte....