Schweitzer Fachinformationen
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WILLIAM
1Wie der Schmerz, den William als Kind beim Griff in eine Steckdose erlitten hatte, durchfuhr ihn das plötzliche Tosen und Brennen, die Ungläubigkeit, aber auch die Unentrinnbarkeit eines verloren geglaubten Gefühls. Elektrisiert im wahrsten Sinn des Wortes betrat er das Restaurant Filetstuck.
Beim Eingang hingen Rippenstücke, Hinterschinken mit Knochen, eine ganze Schweinehälfte in jener gläsernen Kühlvitrine, die wie eine provozierende Kunstinstallation anmutete. Wer ins Filetstuck ging, wusste, er würde es mit Fleisch zu tun kriegen. Obwohl Williams Geschäftszentrale kaum hundert Meter entfernt lag, kam er selten hierher und nur dann, wenn ihn ein karnivorischer Heißhunger überfiel.
Beim Eintreten stellte sich ihm der Restaurantbesitzer in den Weg und präsentierte einen Korb mit prächtig roten Erdbeeren. »Hallo, Will. Die sind gerade frisch eingetroffen. Wie wär's damit zum Dessert?«
Will versuchte, den Grund seiner plötzlichen Aufregung nicht aus den Augen zu verlieren. »Die sehen toll aus. Leider habe ich eine Erdbeerallergie.« Am Geschäftsführer vorbei lief er weiter ins Lokal hinein.
William, der Braungebrannte, der Beliebte mit dem elastischen Gang, von dem er hoffte, er möge ihm trotz beginnender Hüftarthrose noch lange erhalten bleiben, grüßte nach rechts und links. Von ihm wurde behauptet, dass er ein Mann sei, der mit dem Alter immer besser würde. Er fand diese Bemerkung lächerlich: Vierundfünfzig war doch kein Alter.
Bevor er entschied, ob er gegenüber der Frau mit dem Aperol Spritz Platz nehmen sollte oder lieber so, dass er sie durch den Spiegel beobachten konnte, fiel sein Blick auf das meterhohe Satellitenfoto an der Wand. Es zeigte eine Aufnahme des Stockholmer Stadtteils Kungsholmen, in dem sich auch das Filetstuck befand. Kungsholmen, die Königsinsel, war, obwohl im Zentrum gelegen, nicht Stockholms schönstes Viertel. Es gab hier vorwiegend Verwaltungsgebäude, Verkehrsknotenpunkte und Unternehmenssitze; auch William hatte sich hier angesiedelt. Nur im Westen, um den Sankt Göranspark, wo sein Wohnhaus lag, besaß der Bezirk Charme. Nach seiner Heirat vor elf Jahren war William in die Marienbergsgatan Nr. 16 gezogen. Für seine Frau Kristen stellte die Zahl Sechzehn ein gutes Omen dar, weil sie ihren Mann an einem sechzehnten Juni um Mitternacht zum ersten Mal geküsst hatte. Es war taghell gewesen. In einer jener weißen Nächte hatte sich Kristen in William verliebt.
Er beschloss, sich mit dem Rücken zu der jungen Frau zu setzen. Der Spiegel bot ihm die Möglichkeit, sie ausgiebiger zu betrachten, als wenn er verstohlen zu ihr hätte hinüberlinsen müssen.
Es gab keine zwei gleichen Menschen auf der Welt. Ähnlichkeiten existierten natürlich, gleiche Haartracht, ähnliche Zahnstellung, die Augenfarbe, ein bestimmtes Lächeln, eine besondere Art, sich zu bewegen, all das gab es. Aber so etwas nicht, so etwas auf keinen Fall.
Nachdem er Platz genommen hatte, versuchte William sich damit zu beruhigen, dass die Ähnlichkeit nur im Auge des Betrachters, also in seinem Auge lag. Dass William sich diese scheinbare Auferstehung so sehr gewünscht hatte, dass er nun auf sein eigenes Wunschbild hereinfiel. Nachdem er ein stilles Wasser und Salat mit Lammstreifen bestellt hatte, widmete er sich dem Anblick der Frau im Spiegel mit schwindender Aufregung und mehr Distanz.
Sie war nicht Madelaine, natürlich nicht, dafür war sie viel zu jung. Und doch hätte sie Madelaines jüngere Schwester sein können. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, da sie sich erstaunlich konservativ kleidete. Das Muster ihres figurbetonten Stretchkleides hatte einen Hauch von Versace, vielleicht Max Azria, ruhige Brauntöne, Ethno Bohemia, dachte William. Sie war auffallend schlank, hatte einen katzenhaft runden Kopf und langes welliges Haar, das man bei der spärlichen Beleuchtung für schwarz halten konnte, doch William entdeckte darin einen Stich ins Kastanienbraune. Sie trank in kleinen Schlucken, im Übrigen tat sie nichts. Sie schien auf niemanden zu warten, hatte auch nichts zu essen bestellt, da kein Gedeck vor ihr lag. Sie las nicht, sie beschäftigte sich nicht mit ihrem Smartphone; das Einzige, was sie sich für den Besuch im Filetstuck vorgenommen zu haben schien, war es, das Glas Aperol zu leeren. Bei jedem Schluck klirrten die Eiswürfel leise.
Wenn William eine bestimmte Geste Madelaines als unverwechselbar in Erinnerung hatte, war es das Zwirbeln ihres Haares. In nachdenklichen, selbstvergessenen Momenten hatte sie träge den linken Arm gehoben - Madelaine war Linkshänderin -, hatte die Hand in ihrer Haarpracht vergraben und begonnen, einen Kringel um den Mittelfinger zu drehen. Sie hatte mit diesem Kringel gespielt, ihn nach vorn gezogen und schließlich wieder zerfallen lassen. Die junge Frau im Spiegel tat nicht nur das Gleiche wie Madelaine, sie tat es vielmehr auf die exakt gleiche Art, mit der linken Hand. Sie tat es, als ob der Geist Madelaines in sie geschlüpft wäre und ihr, die dem Original so unglaublich ähnelte, aufzwang, sich auch zu bewegen wie Madelaine.
Als ob er ihr Spiegelbild dadurch deutlicher lesen könnte, beugte William sich vor. Der Schwung ihrer dichten Brauen, der helle Teint der Wangen, die vollen ungeschminkten Lippen, alles war so unfassbar ähnlich! William war verwirrt, verloren in diesem Anblick: Spielte das Schicksal gerade einen Film ab, in dem Madelaine die Hauptrolle verkörperte? Die Frau im Spiegel war schön wie Madelaine, leibhaftig wie Madelaine, verführerisch wie Madelaine. Durfte Will die Fügung, die ihn heute im Filetstuck hatte einkehren lassen, ungenutzt verstreichen lassen? Musste er nicht erfahren, wer sie war, ob sie in einem Verwandtschaftsverhältnis zu Madelaine stand, oder ob diese Ähnlichkeit tatsächlich bloß eine Spielerei der Natur sein sollte?
William überlegte, wie er ein Gespräch mit ihr anfangen könnte, ohne dass sie es als Belästigung empfinden würde. Die Bemerkung: »Entschuldigung, aber Sie sehen jemandem zum Verwechseln ähnlich«, wäre natürlich zu plump.
Geräuschvoll öffnete er die Stoffserviette und versuchte, den Blick der Unbekannten auf sich zu ziehen. Sonderbar konzentriert hielt sie die Augen weiter auf ihr Glas gesenkt. Sollte er sie um den Salzstreuer bitten? Was für ein dummes Spiel, dachte er, er wollte ja nichts von dieser Frau, außer vielleicht Auskunft zu bekommen. Die einzig seriöse Möglichkeit lag darin, sich ihr vorzustellen und zu erklären, weshalb er nicht aufhören konnte, sie anzustarren. William legte die Serviette beiseite und schob den Tisch von sich.
»Hallo, Will. Du hast noch nicht gegessen, sehe ich«, sagte eine Stimme links hinter ihm.
Fast zu jeder Gelegenheit hätte er sich gefreut, seiner Bekannten Diana Mattsson zu begegnen, doch in diesem Moment kam ihm die TV-Moderatorin ungelegen. Sie durchkreuzte seine Hoffnung auf eine leichte, spontane Bekanntschaft mit der Unbekannten.
»Diana, wie nett«, sagte er überrumpelt.
»Ich leiste dir Gesellschaft.« Als von ihm keine Einladung kam, setzte sie sich unaufgefordert dorthin, wo sie William den Blick auf den Spiegel verstellte.
»Du nimmst deine Mittagspause heute ziemlich früh.« Er wollte sich seine Irritation nicht anmerken lassen und beugte sich nur unauffällig nach links. Die junge Frau öffnete gerade ihre Handtasche. Brach sie etwa auf?
»Im Sender geht es gerade drunter und drüber«, antwortete die Moderatorin. »Lauter Verrückte, alles Verrückte, sage ich dir. Da habe ich mich einfach aus dem Staub gemacht.«
Diana Mattsson war das Gesicht der Tagesnachrichten, ein bekanntes Gesicht in Schweden, und William brauchte bekannte Gesichter in seinem Business.
William Falk hatte das Juweliergeschäft seines Vaters geerbt, Falk-Juwelen hatten in Skandinavien einen erstklassigen Namen. Nach dem Ausscheiden seines Vaters hatte William als gelernter Schmuckdesigner dem Unternehmen seinen eigenen Stempel aufgeprägt. Der Durchbruch war ihm erst gelungen, als er den Namen Falk um die Geschäftsidee FOREVER NEW erweitert und trendige Designs online gestellt hatte. An der Traditionsadresse im Herzen Stockholms verkaufte William zwar immer noch Schmuck für Gutbetuchte, zugleich präsentierte sein Online-Unternehmen jedoch exquisite Kollektionen als Modeschmuck, den sich praktisch jeder leisten konnte. Das Ergebnis war ein beispielloser Erfolg. Um die Auftragsflut zu bewältigen, hatte William ein Loftgebäude in Kungsholmen gekauft, wo das Marketing und der Versand der Schmuckstücke vonstattengingen. Die Herstellung hatte er nach Estland und Polen ausgelagert, von wo täglich ein Flugzeug in Stockholm eintraf, das den Nachschub lieferte.
Williams Werbestrategie war es, Konzepte aus Kunst und Mode auf Schmuck zu übertragen. Sich ständig wandelnde, von High-Street-Fashion inspirierte Kollektionen schufen Begehrlichkeiten bei einer weltweiten Käuferschaft. William tanzte zwischen Beständigkeit und Wandel, er stillte den Wunsch der Menschen nach Abwechslung mithilfe erschwinglicher Kollektionen. Sein Markenzeichen wurde das Crossover zwischen Stil und Innovation.
Um sein Konzept besser an die Menschen heranzubringen, hatte er schon bald die Nähe von Celebrities gesucht, die sich bereitwillig mit seinem Schmuck behängen ließen, wenn sie zu Events, Preisverleihungen oder Filmbällen gingen. So eine bekannte Person war Diana Mattsson.
Da sich die Moderatorin nicht vorstellen konnte, dass William während...
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