Schweitzer Fachinformationen
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Lazarfeld, Oktober 1944
Nebenan bei den Nachbarn polterte es harsch gegen die Tür.
»Was ist das?« Ängstlich hob ich den Kopf. »Das macht mir Angst!«
»Ach, die haben nur Besuch, das gilt nicht uns. Mach dir keine Sorgen, kleine Anni.«
Meine Großmutter Barbara drückte mich liebevoll an sich, mich, ihre mollige kleine Enkelin mit den blonden Zöpfen, die zusammengekuschelt auf ihrem Schoß saß. Ich war fünf Jahre alt, und nachdem meine junge hübsche Mama in traditioneller Tracht auf dem Kirchweihfest im Gasthaus bediente, ruhte ich mich nun in der Geborgenheit des großmütterlichen Schoßes aus. Auch wir hatten den reichlich bestückten Erntedank-Festzug bestaunt, bis mir zu kalt geworden war. Wie immer hatte ich meiner Großmutter fasziniert dabei zugesehen, wie sie sich das schwarze Kopftuch unter dem Kinn zusammengebunden hatte.
Das tat sie dann, wenn sie Besuch erwartete oder selbst vor die Tür ging. Warum behielt sie jetzt so eine unheimliche Ruhe?
»Schau, jetzt zeige ich dir noch, wie eine Zwickmühle geht.« Ihr Zeigefinger, der sonst so routiniert die Perlen des Rosenkranzes bewegte, zog die runden abgegriffenen Spielsteine zielbewusst über das vergilbte Spielbrett. »Siehst du? Egal, wie du den mittleren Spielstein ziehst, es ist immer eine Mühle.«
Ich gluckste vor Erstaunen, mein kleiner Kinderfinger zog begeistert den Stein hin und her.
Nebenan wurden Schreie laut; Männerstimmen befahlen etwas, eine Frau kreischte, man hörte Türen schlagen. War das nicht die nette rotwangige Bäckermeisterin, die mir immer Kuchenränder zusteckte, während sie mit Großmutter über dem täglichen Einkauf plauderte? Schon morgens um fünf zog der verführerische Duft frisch gebackenen Brotes über den benachbarten Hof in mein kleines Schlafgemach, und die Gewissheit, auch heute wieder ein köstliches Frühstück zu bekommen, ließ mich immer wieder in süße Träume versinken.
»Oma! Ich habe Angst!«
»Also los, Anni. Bau dir deine Zwickmühle!«
Meine kleine heile Kinderwelt begann in diesem Moment zu bröckeln, ohne dass ich das Ausmaß der vor mir liegenden Hölle auch nur ansatzweise erahnen konnte. Noch gelang es meiner Oma, mich auf das Spiel zu fokussieren, obwohl ich an ihrer angespannten Haltung bemerkte, dass etwas in unserem heiteren und harmonischen Leben ganz und gar nicht mehr in Ordnung war. Wie symbolisch war doch da die Zwickmühle! Egal wie ich den Stein hin und her zog; der Spielgegner wurde langsam, aber sicher ausgehungert, zerstört, erledigt. Bis er nur noch mit drei Steinen bewehrt um sein armseliges Leben hüpfen konnte! Aussichtslos, wie ich mit meinem kleinen Gehirn schon bald feststellen konnte! Die gegnerischen Spielsteine lagen schon bald darauf wie Trümmer am Rande des Spielfeldes. Wie einfach, konsequent und herrlich grausam das war! Was für ein Triumph für die fünfjährige Siegerin! Ich klatschte in die Hände und strampelte mit den Beinen.
»Das muss ich unbedingt heute Abend mit der Mama spielen! Die wird Augen machen!«
»Vorsicht, du trittst der Oma gegen die Knie!« Meine Großmutter verzog schmerzlich das Gesicht. »Du weißt doch, dass ich vom vielen Bücken und Knien auf dem Feld schon Rheuma habe!«
Meine Großeltern waren die fleißigsten Menschen der Welt. Mit ihrer Hände Arbeit hatten sie nicht nur unser geräumiges Haus und den üppigen Garten, sondern auch die Gaststätte, Ställe, Scheunen und Felder erschaffen, auf denen es im Frühling sprießte und blühte.
Jetzt im Herbst, nach der Ernte und im Winter war die Zeit der Riten und Bräuche, der traditionellen Kirchweihfeste und der Vorbereitungen für die Weihnachtsspiele.
»Entschuldige, liebe Oma.« Sofort ließ ich das Zappeln sein. »Es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun.«
»Schon gut, mein kleiner Liebling.«
Die Oma pflückte mich von ihrem Schoß ab und setzte mich auf meinen Kinderstuhl, den mein geliebter Papa mir geschnitzt hatte. Ihr Gesicht war angespannt, ihr Blick starr. Denn nun polterte es auch an unserer Tür. Und zwar so heftig, dass ich fürchtete, die Tür würde zersplittern.
Ich erstarrte. »Wer kommt da?«
»Bleib ganz ruhig, ja, Anni?« Sie legte warnend den Finger auf den Mund. »Spiel weiter und versuch, dir eine Zwickmühle zu bauen!«
Die Oma knotete ihr Kopftuch noch fester unter dem Kinn zusammen und öffnete die Haustür, bevor sie von außen eingetreten werden konnte. Mehrere gefährlich aussehende Männer in deutschen Wehrmachtsuniformen polterten mit schweren Stiefeln in den Hausflur. Wir Banatdeutschen hatten die deutschen Soldaten mit unserer sprichwörtlichen Gastfreundschaft aufgenommen, und meine Großeltern hatten sie beköstigt und bewirtet und ihnen Unterkunft gegeben, wo sie doch fern von ihrer Heimat waren.
»Heil Hitler, Frau Pfeiffer. Wo sind der Jakob und der Hans?« Redeten die etwa von meinem geliebten Papa und seinem Bruder, meinem Onkel Hans?
»Unser Ältester ist wie immer in der Gastwirtschaft! Und der Hans in der Metzgerei!«
»Warum haben sie sich nicht freiwillig zur SS-Freiwilligen-Gebirgsdivision Prinz Eugen gemeldet?«
»Sie können doch nicht weg! Wir betreiben die größte Gastwirtschaft mit angrenzender Metzgerei im Ort, das wisst ihr doch, ihr trinkt doch selber jeden Abend euer Bier bei uns und lasst euch den Rinderbraten servieren!«
»Heute sind wir in offizieller Mission hier! Bis jetzt haben sich aus Lazarfeld nur acht Schwaben freiwillig gemeldet, wie sollen wir da einen Krieg gewinnen?«
Ich hörte die Männer bellend lachen.
»Divisionsstärke kann mit einer Handvoll Soldaten wohl nicht erreicht werden!«
»Wir sollten uns doch wohl besser aus diesem Krieg heraushalten«, versuchte Großmutter, die aufgeregten Männer zu beruhigen. »Kommt lieber heute Abend auf ein Freibier und auf ein gutes Geselchtes, ich sage dem Jakob und dem Hans Bescheid.«
Während meine Finger andachtsvoll die Spielsteine von einer Zwickmühle zur anderen zogen, spitzte ich doch die Ohren. Eine Gänsehaut überzog mich, trotz meiner warmen Strickjacke, in die die Oma mich gesteckt hatte. Schon jetzt wurde mir die Tragweite der Situation bewusst, in der wir Lazarfelder Bürger in diesen späten Kriegstagen steckten.
»Das wird noch Folgen haben, Pfeifferin, sag das deinen Söhnen! Wir holen sie uns alle für den deutschen Endsieg!«
Die Männer verschwanden türenknallend, ich beobachtete durch den Küchentürspalt, wie uniformierte Arme mit Hakenkreuz grüßend in die Höhe schnellten.
»Heil Hitler!«
Die Oma antwortete nur mit einem schlichten »Vergelt's Gott«.
»Oma, was wollten die Männer von meinem Papa?«
Ahnungsvoll hatte ich den Kopf auf meine Hand gestützt, wie ein Blümchen, von dem sich die Sonne abgewendet hat und das ganz langsam einknickt. Es wurde nicht nur draußen Herbst, wie es schien.
»Sie wollen, dass der Papa und der Onkel Hans für die Deutschen in den Krieg ziehen.«
»Aber warum .? Die haben doch mit keinem Menschen auf der Welt Streit!«
»Schau, Anni.« Die Oma ließ mich wieder auf ihren Schoß krabbeln, wo ich sofort begann, in alter Gewohnheit mit den Zipfeln ihres Kopftuches zu spielen. Das gab mir ein Gefühl von Geborgenheit.
»Wir Banater Schwaben leben schon seit weit über hundert Jahren friedlich Wand an Wand mit unseren Nachbarn in diesem Land. Wir haben es fruchtbar gemacht mit harter Arbeit und viel Fleiß. Hier blüht und gedeiht alles, und jeder hat seinen Platz gefunden.«
»Das weiß ich doch, Oma. Es gibt bei uns Ungarn, Rumänen, Kroaten, Slowenen, Serben, Dobrowolzen, Katholische und Evangelische .«, zählte ich an meinen Kinderfingern auf. »Griechisch-Orthodoxe, nee, warte mal . römisch Orthodoxe .« Ich hatte keine Ahnung, was da der Unterschied war, aber ich zählte mal weiter auf. »Und alle kommen in unser Gasthaus und trinken Bier und essen Onkel Hansens Bratwurst.«
Die Oma musste sich ein Lachen verbeißen. »Dobrowolzen gab es nur im Ersten Weltkrieg. Das ist zum Glück lange her. Aber die anderen .«, sie zog sich das Kopftuch ab, weil ihr plötzlich heiß zu werden schien ». die leben schon seit Langem friedlich und freundschaftlich in diesem wunderschönen Landstrich. Und warum sollten wir Deutschen gegen unsere eigenen Nachbarn kämpfen? Das käme uns doch gar nicht in den Sinn.«
»Aber die Nazis wollen das, Oma. Ich hab es genau gehört.«
»Kind. Die Nazis leben ganz weit entfernt von uns. In Deutschland. Hier gibt es keine Nazis.«
»Warum wollen die dann, dass der Papa ins Gebirge geht, mit diesem Prinz Eugen?«
»Das ist völliger Unsinn, Anni. Im Gebirge gibt es Partisanen, die sind sehr gefährlich. Dein Papa könnte keiner Fliege was tun, dein Onkel Hans tötet nur Tiere, damit wir was zu essen haben, und deshalb sind sie in unserem Gasthaus auch am besten aufgehoben.«
Das stimmte. Ich kannte meinen heiteren und gut gelaunten Papa nur von fröhlichen Festen, wo sich die Vereine trafen, da wurde Karten gespielt und gesungen, geraucht, getanzt und gelacht. Mein lieber Opa und mein Papa und Onkel Hans waren immer mittendrin. Und meine wunderschöne blutjunge Mama, die zur Freude der Gäste dort in Landestracht die köstlichsten Gerichte servierte, zierte das Familienunternehmen.
Dafür hatte ich zu Hause meine Oma für mich allein. Denn kleine Mädchen, so war sich die ganze Familie einig, hatten in einer Gastwirtschaft nichts verloren.
»Oma! Oma! Was ist da draußen los? Wer sind diese Männer?«
Ich stand am Fenster auf der Küchenbank,...
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