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Die wahre Geschichte eines Pflegekindes auf einem Bergbauernhof
Mitfühlend und Mut machend erzählt Spiegel- Bestseller-Autorin Hera Lind in ihrem Tatsachenroman "Im Namen der Barmherzigkeit" das Schicksal von Steffi, die Furchtbares durchgemacht hat. Aber zum Schweigen hat sie sich nicht bringen lassen.
Im Namen der Barmherzigkeit nimmt die steirische Bauernfamilie Kellerknecht jedes Jahr ein Pflegekind auf. So kommt die knapp dreijährige Steffi in den Siebzigerjahren auf den abgelegenen Bauernhof. Zwischen den anderen Pflegekindern lernt sie schnell, dass sie für ihre kargen Mahlzeiten und das Etagenbett in der Dachkammer hart schuften muss, und zwar barfuß. Ab ihrem neunten Lebensjahr wird Steffi vom Bauern regelmäßig missbraucht. Mit fünfzehn ist sie schwanger und wird in ein Kloster abgeschoben, wo sich barmherzige Nonnen um ledige junge Mütter kümmern. Steffi will ihrem Kind eine bessere Kindheit bieten und macht sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter.
Ein berührendes Schicksal über ein verdrängtes Kapitel unserer Geschichte
Was Steffi zugestoßen ist, war auch kein Versehen: Bis in die 80er-Jahre hinein wurden Heimkinder systematisch bei verarmten Bauern untergebracht – nicht nur in Österreich. Bestseller-Autorin Hera Lind gibt in ihrem Tatsachenroman mit Steffi stellvertretend Tausenden Kindern eine Stimme.
1. Juli 1972
Nebenan gibt's erst mal Frühstück. Du brauchst gar nicht so zu hetzen.«
Die Hebamme vom Nachtdienst bereitete in der Schwesternküche frischen Filterkaffee für die Morgenbesprechung zu. Müde wischte sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stellte klirrend die Tassen auf den Tisch.
»Oh, ich wollte nicht unpünktlich sein.« Karin, die Neue, zog hastig ihre Jacke aus. Sie war angehende Ärztin im Praktikum. »Ich bin mit dem Fahrrad da.« Sie grinste entschuldigend.
»Macht nichts. In der Ruhe liegt die Kraft.« Die Hebamme machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, die röchelnd vor sich hin gurgelte. »Der Tagdienst wird frische Semmeln mitbringen.«
»Wunderbar!« Aufatmend ließ Karin Winkler ihre Umhängetasche gegen die Wand gleiten, wusch sich die Hände und sank auf einen Holzstuhl im Aufenthaltsraum. »Es ist so eine heimelige Atmosphäre bei euch hier in Wien! Ich bin sehr froh über die Praktikumsstelle!« Sie drehte sich ihre Haare zu einer lässigen Aufsteckfrisur und lehnte sich behaglich zurück.
Anneliese, die Nachthebamme, lächelte mütterlich und legte Karin die Hand auf die Schulter.
»Es geht uns im Kollegium nichts über ein gemeinsames Wiener Frühstück mit Marillenmarmelade und Honig.« Sie schenkte der Neuen Kaffee ein. »Es fällt nur aus, wenn eine Gebärende gerade in Presswehen liegt.«
»Was gerade nicht der Fall zu sein scheint. Wiener Frühstück klingt fantastisch.« Karin blies vorsichtig in ihre Kaffeetasse, die man hier in Wien liebevoll »Kaffeehäferl« nannte. »Wie war die Nacht?«
»Ruhig.« Anneliese setzte sich zu ihr. »Um fünf in der Früh ist allerdings die Frau Krippentrog eingeliefert worden.« Sie blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die einfach nicht unter dem weißen Häubchen bleiben wollte. »Ich schätze, das Baby wird in weniger als drei Stunden da sein.«
Die Tür flog auf, und Anneliese nahm freudig die Tüte mit frischen Semmeln entgegen, die die Kollegin von der Tagesschicht gerade hereinbrachte.
»Grüß dich, Conny. Komm erst mal an. Was kriegst?«
»Passt. Nächste Woche bist du dran mit Semmeln-Besorgen.«
Conny putzte sich die Nase und schnupperte an der Kaffeemaschine. »Ah, göttlich. Wie war die Nachtschicht?«
»Ich erzähle der Neuen gerade von Frau Krippentrog.« Anneliese zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch, bis sie fast unter ihrem Häubchen verschwanden.
»Oje.« Conny schälte sich aus ihrem Anorak und verdrehte die Augen. »Die schon wieder.«
»Was ist mit der?« Karin biss beherzt in eine knackfrische Semmel, die sie zuvor mit Marillenmarmelade bestrichen hatte. »Sind Komplikationen zu erwarten?«
Die beiden erfahrenen Hebammen wechselten einen vieldeutigen Blick.
»Komplikationen in dem Sinne nicht. Also, sie hat bereits Übung im Gebären. Das wird ihr Siebtes.«
Karin nahm noch einen Schluck Kaffee und sah die beiden fragend an. »Aber .?«
»Alle Geburten sind glattgegangen. Da musst du keine Bedenken haben, aber .« Anneliese griff in das Brotkörbchen, das Conny ihr reichte, und wählte nach einigem Zögern ein Nusskipferl. »Ist ja wurscht. Ich könnte es mir auch direkt auf die Hüfte klatschen, aber so schmeckt es besser. - Aber .«
»Was aber?« Karin hielt mit dem Kauen inne.
Anneliese biss beherzt in das Kipferl. »Die Frau ist ein grauenvolles, manipulatives, egozentrisches Scheusal.«
»Wir kennen sie schon seit Jahren. Sie ist unverschämt und dreist. Sie nutzt eine Geburt hier, um eine Woche bedient zu werden. Nimm es also nicht persönlich, wenn sie dich massiv beschimpft.«
Karin zog die Schultern hoch. »Wenn es weiter nichts ist .«
Alle drei Frauen kauten, es herrschte für einen Moment eine wohlige, kollegiale Stille. Nur das Zwitschern zweier zeternder Amseln aus dem Krankenhausgarten war zu hören.
Karin sah von einer zur anderen. Die Morgensonne schob sich gerade zwischen die zarten Birken, die vor dem Fenster leise mit den Blättern raschelten, als wollte sie nichts verpassen.
»Ist das alles? - Ich meine, viele Frauen sind nicht gerade gut gelaunt, wenn sie gebären. Und genießen es, mal eine Woche Ruhe zu haben. Erst recht, wenn sie schon Mann und Kinder zu Hause haben!«
»Das ist es nicht.« Conny tauchte ihr Kipferl in die Kaffeetasse. »Also nicht nur. Diese unmögliche Frau will nie mit dem Neugeborenen Kontakt haben.«
Karins Augenbrauen schossen nun auch in die Höhe. »Sie will ihr eigenes Baby nicht . stillen?«
»Noch nicht mal sehen.« Conny biss vom tropfenden Hörnchen ab und wischte sich das Kinn.
»Gibt's doch nicht.« Karin schluckte. »Du meinst, sie nimmt es gar nicht mit nach Hause?«
»Genau. Sie hat immer schon im Vorfeld mit dem Jugendamt abgemacht, dass die Kinder direkt von der Fürsorge übernommen werden. Auch dieses Mal.«
»Das ist ja grauenvoll!« Karin starrte die Kolleginnen an. »Aber warum denn nur? Ich meine, warum kriegt sie überhaupt so viele Kinder?«
»Das ist eine interessante Frage.« Anneliese strich sich fingerdick Erdbeermarmelade auf ihr Brötchen. »Wo es schließlich schon lange die Pille gibt.«
»Vielleicht hat sie kein Geld für Verhütungsmittel?«
»Sie hat was von Delogierung gefaselt.«
»Sie ist obdachlos?« Karin schaute fragend von einer zur anderen.
»Wahrscheinlich mal wieder. Die ist echt ein Fall für sich. Sie posaunte heute im Gang herum, auf der Straße könne sie schließlich kein Baby versorgen.«
»Sie sagte übrigens nicht Baby, sondern Bratzn!«
»Das ist ja grauenvoll!« Karins braune Augen wurden groß. »Sie ist obdachlos und kriegt trotzdem Kinder? Möglicherweise von verschiedenen Vätern?«
»Davon kannst du ausgehen, meine Liebe.«
»Eine Praktikantin ist ihren Aussagen nachgegangen und hat im Meldeamt angerufen. Dort wurde diese Frau Krippentrog aber immer unter derselben Adresse in Wien geführt. - Gemeindebau.« Conny schraubte das Glas mit der Himbeermarmelade auf und roch daran. »Ich glaube, die hat einfach keine Lust darauf, Kinder großzuziehen. Kriegen ja, aber dann die Würmchen sich selbst überlassen.«
»Na bitte, da klingelt sie schon.« Annelieses Blick glitt auf die Notfalltafel, auf der es aus dem Einzelzimmer 16 rot blinkte.
»Sie liegt Sonderklasse?!« Karin sprang auf. Dieses war ihr erster Einsatz.
»Nicht, dass sie dafür versichert wäre. Aber auf den Mehrbettzimmern will niemand sie haben.«
»Dann schau ich mir diese Dame jetzt mal an.«
Karin schob den Teller von sich, wusch sich erneut die Hände und nahm ihren noch frisch gebügelten Kittel vom Haken. »Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Keine Mutter kann sich dem Drang des Neugeborenen nach der Mutterbrust entziehen.« Sie schnappte sich das Stethoskop und hängte es sich um den Hals. »Das ist archaisch determiniert.«
»Das ist was?«, spöttelte Conny gutmütig hinter ihr her. »Ach Gott, ist die eifrig, die Neue!«
»Das hat die Natur so eingerichtet! Du wirst es schon sehen! Ich stimme sie um!«
»Na dann viel Glück!« Conny und Anneliese schoben ihre Teller von sich und zündeten sich ein Zigarettchen an.
»Guten Morgen Frau Krippentrog. Mein Name ist Karin Winkler, ich bin Ärztin im Praktikum.« Nach kurzem Anklopfen hatte die Neue beherzt das Erste-Klasse-Zimmer betreten. »Ich löse meine Kollegin vom Nachtdienst ab und werde Sie jetzt untersuchen.«
Sie prallte zurück, als sie den eiskalten, bohrenden Blick der stark übergewichtigen Frau wahrnahm. Ihre schlecht gefärbten, leicht möhrenblonden Haare hatte sie mit einem Gummiband im Nacken zusammengebunden. Auf dem Stuhl lagen ihre vermutlich selbst genähten, unmodischen, sackartigen Kleidungsstücke. Offensichtlich hatte die Frau es sich in dem hellen Einzelzimmer gemütlich gemacht: Auf dem Nachttisch türmten sich Zeitschriften, Pralinen und Puddingtöpfchen.
Energisch zog Karin der Frau die Decke vom Körper und begann, konzentriert mit ihren inzwischen warmen Fingern ihren Bauch abzutasten.
»Spüren Sie schon eine Wehentätigkeit?«
»Lass die Finger von mir!« Die Frau schlug nach der jungen Frau. »An einer Puppe kannst du üben, nicht an mir! Geh, schleich dich!«
»Ich bin Ärztin im Praktikum. Ich weiß, was ich tue.« Karin zog der Frau das Nachthemd wieder über den gewölbten Bauch, in dem deutlich sichtbar rege Bewegungen stattfanden.
»Du bist doch keine sechzehn Jahre alt, geh, herst!«
»Danke für das Kompliment, aber ich bin vierundzwanzig.« Karin unterdrückte ein Herzrasen. So etwas hatte sie noch nicht erlebt. »Sie müssen sich schon auf mich einlassen oder Ihr Kind alleine zu Hause bekommen.«
»Ich hab kein Zuhause, Sie Trampel. Deswegen bin ich ja hier!«
Karin, die zwei Schritte zurückgetreten war, stutzte und betrachtete diese Dame, die ihr siebtes Kind bekam und sich offenbar schon mehrfach eine Woche Rundumservice im Klinikum gegönnt hatte.
Die Patientin war wohl bis eben dabei gewesen, Kreuzworträtsel zu lösen. Doch jetzt war sie nicht mehr im Entspannungsmodus. Schließlich hatte sie den Notruf gedrückt.
»Es geht los, worauf warten Sie noch?« Die Frau im Bett stöhnte verhalten. »Rufen Sie die andere, die mich schon kennt!«
Das ließ Karin sich nicht zweimal sagen. Sie drückte wiederholt auf die Notfallklingel, und gleich darauf stürmten sowohl Anneliese als auch Conny mit wehenden Kitteln herbei. »Haben wir es dir nicht gesagt?«
Im Eilschritt wurde die...
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