Schweitzer Fachinformationen
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1. Post aus Paris
In Siechtum Swifts maßgebender Rangliste schmerzhafter Tode steht Ertrinken ziemlich weit unten im Abschnitt »Einfach nur unangenehm«, ein gutes Stück hinter Verhungern, Bärenangriff und Säurebottich, aber weit vor Von-einem-Klavier-erschlagen-Werden und friedvollem Einschlummern-während-eines-wonnigen-Traums-von-Schmetterlingen.
Ein tröstlicher Gedanke, dachte Schelmerei Swift und rang nach Luft. Es hätte also noch schlimmer kommen können.
Durch das schlammige Wasser beäugte sie die Schlinge um ihren Knöchel. Sie war mit einem Palstekknoten gesichert. Was Knoten anging, war Schelmerei recht bewandert. Sie hatte im Leben schon hundertmal Palsteks geknotet und aufgezogen. Doch dieser hier verweigerte sich stur ihren Fingern, genau wie sein Zwilling, den sie um das schwere Mikroskop aus Messing geschlungen hatte, das seinerseits halb im weichen Schlick auf dem Grund des Sees feststeckte wie ein Zahn im Zahnfleisch.
Eine abtrünnige Luftblase stahl sich aus Schelmereis linkem Nasenloch und stieg empor. Schelmereis Lunge brannte, und es schnürte ihr die Kehle zusammen. Ihr Körper riet ihr nachdrücklich, schleunigst tief einzuatmen, und wollte so gar nicht auf Schelmereis Gründe eingehen, warum das gerade keine gute Idee wäre. Unter angestrengtem Gurgeln zog sie das Brotmesser von ihrem Gürtel und machte sich verzweifelt daran, das Seil zu zersägen. Unterdessen geschah etwas Spannendes mit ihrem Blickfeld: An den Rändern wurde es dunkel, als würde Schelmerei die Augen zusammenkneifen und durch eine dichte Wolke spähen.
Dann ging das Seil entzwei. Noch während Schelmerei in die Höhe schoss, ließ sie den letzten Rest Atemluft entweichen. Über ihr brach sich das Sonnenlicht an der Wasseroberfläche, die aussah wie ein sich kräuselndes Glasdach, das sie mit der Wucht eines geschleuderten Steins zerschmetterte.
Die Vormittagssonne brannte auf sie herab, als sie ihre Lunge keuchend und japsend endlich wieder mit frischem Sauerstoff versorgte. Wasser umspülte ihre leeren Hände, und als sie nach unten blickte, sah sie das Brotmesser fröhlich blitzend in die Tiefe hinabdriften. Köchin wäre nicht begeistert.
»Ach, da bist du! Du hast nicht zufällig mein Mikroskop gesehen?«
Vor Schreck zuckte Schelmerei zusammen. In letzter Zeit schlich Phänomen sich immer häufiger unbemerkt an. Jetzt stand sie am Ende des Bootsstegs, ihr Laborkittel leuchtete weiß, und in Richtung ihrer halb ertrunkenen Schwester zog sie missfällig eine Augenbraue hoch.
Schelmerei dachte nicht lange nach. »Doch, doch«, antwortete sie. »Dein Mikroskop hab ich gesehen. Schon zigmal.«
»Ich meine, kürzlich - sagen wir, innerhalb der letzten Stunde?«
Schelmerei war keine Lügnerin. Sie konzentrierte sich lediglich auf einen bestimmten Teil der Wahrheit. Was alle wahnsinnig machte - sogar Schelmerei selbst. Ständig musste sie nach kreativen Lösungen suchen, um etwas Wahres zu sagen, ohne dafür in Schwierigkeiten zu geraten. Sie hatte schon oft überlegt, dazu einen Ratgeber zu verfassen.
»Es ist . schon ein Weilchen her, seit ich es zuletzt gesehen habe«, erwiderte sie, weil eine Minute streng genommen ja durchaus als »Weilchen« durchgehen konnte. Aber nun war Phänomen mit Schelmerei aufgewachsen und genoss den unfairen Vorteil, die meisten Ausflüchte ihrer Schwester bereits zu kennen.
»Ich hab nämlich gerade Köchin gefragt«, fuhr Phänomen fort. »Und die hat das Mikroskop selbst nicht gesehen, aber dich, wie du mit einem abgedeckten Gegenstand >in der Größe eines Mikroskops< in den Garten gelaufen bist.«
Schelmerei musste sich zusammenreißen, um nicht in die Tiefe unter ihren wassertretenden Füßen zu blicken, wo sich das Mikroskop in den Schlamm kuschelte. »Sicher, dass sie nicht >in mikroskopischer Größe< gesagt hat?«
»Ganz sicher.« Hinter ihrer Brille kniff Phänomen die Augen zusammen. »Und man muss auch nicht Wissenschaftlerin sein, um gewisse Beobachtungen zu machen und daraus seine Schlüsse zu ziehen.«
»Hast nicht du mal gesagt, dass Korrelation nicht gleich -«
»Mein Mikroskop ist im See gelandet, oder?«
»Ja.«
Phänomen seufzte. Dann streckte sie die Hand aus und half ihrer Schwester - wenig elegant - auf den Steg.
»Ich hab nicht damit gerechnet, dass es stecken bleiben würde«, gab Schelmerei kleinlaut zu. »Ich wollte es wieder rausziehen.«
»Wie die Statue, den Kerzenleuchter und den verzierten Türstopper?«
Schelmerei machte ein langes Gesicht. Der Grund des Sees glich mittlerweile einer Art Hinterhof-Atlantis: Merkwürdige Gegenstände ragten wie Überbleibsel einer lange untergegangenen Zivilisation aus dem Schlamm. Schelmerei hätte sich Phänomens Mikroskop niemals genommen, wenn ihr nicht die entbehrlicheren schweren Gegenstände ausgegangen wären.
»Und du willst mir nicht erzählen, was du hier treibst?«, hakte Phänomen nach.
»Willst du mir denn erzählen, was du im Geheimzimmer mit dem IEEK treibst?«
»Aber bitte! Natürlich nicht!«
Die Schwestern - jede hochzufrieden, vor der anderen ein Geheimnis zu haben - grinsten einander an und machten sich auf den Rückweg zum Haus.
Seit Wochen wich Schelmerei jeder Frage vonseiten ihrer Familie aus, was sie dort draußen im See die ganze Zeit machte. Sie hatte ihnen erzählt, dass sie gewisse Entfesselungskünste einübe, was aber nur die halbe Wahrheit war. Eskapologische Kenntnisse waren überaus nützlich - ähnlich wie Jonglieren - und zwar in allen möglichen Lebenslagen. Die ganze Wahrheit war jedoch, dass sie den Seegrund nach Großonkel Zuwiders Schatz durchwühlte. Und die schweren Gegenstände sollten sie so schnell wie nur möglich nach unten ziehen, damit sie mehr Zeit für ihre Suche hatte.
Schelmerei hatte mal gelesen, dass Harry Houdini ganze drei Minuten lang die Luft hatte anhalten können. Sie selbst war derzeit bei zwei Minuten und zwei Sekunden. Dass sie kaum noch Fortschritte machte, hatte sie enttäuscht, bis sie sich vor Augen gehalten hatte, dass Houdinis Lunge womöglich viel größer als ihre gewesen war. Allerdings war der ganze Mann viel größer gewesen als sie und hatte daher vielleicht auch viel mehr Sauerstoff verbraucht? Wessen Lungenkapazität denn nun besser war, wäre die perfekte Frage für Phänomen - nur konnte Schelmerei sie ihr nicht stellen. Sie hatte sich geschworen, niemandem aus der Verwandtschaft von dem Schatz zu erzählen, bevor sie sich entschieden hätte, was sie damit anstellen wollte.
Es war nicht so, dass sie sich nicht hätte entscheiden können. Sie traf wöchentlich mindestens drei Entscheidungen. Wenn sie im Bett lag und den Regen aufs Dachfenster platschen sah, dachte sie gern: Ich fahre mit Erztante Schadenfreude in den Urlaub. Sie wird nicht mitwollen, aber wenn wir ihr Scheuklappen aufsetzen wie einem Pferd, schaffen wir es vielleicht bis zum Bahnhof, ohne dass sie bockt. Wenn Köchin ihr erklärte, wie man ein Omelett briet, dachte Schelmerei: Vielleicht kaufe ich einfach sämtliche grünen Paprikas auf der ganzen Welt und versenke sie im Meer. Dann muss die nie wieder jemand essen. Und wenn sie in irgendeiner abgelegenen Ecke des Hauses saß und schmökerte, dachte sie: Vielleicht stifte ich alles einem Waisenhaus - wie diese alte Frau, die keine Erben, dafür aber ein schreckliches Geheimnis hatte. Bestimmt hüte ich eines Tages auch so ein schreckliches Geheimnis. Und so spielten die Ideen Ringelreihen, bis Schelmerei in ihren Träumen von goldenen und silbernen Wirbeln und johlenden Kindern heimgesucht wurde, die samt und sonders lispelten.
Sie fummelte sich gerade ein Teichampferblatt aus den Haaren, als Phänomen ihr einen Zettel reichte. »Den hab ich in meinem Sandwich gefunden«, erklärte Phänomen. »Es steht wieder ein Familientreffen an.«
Schelmerei kniff die Augen zusammen. Die Schrift war unter der Erdnussbutter kaum noch zu erkennen.
Ich heiße euch mit offenen Armen an dem Ort willkommen, an dem die Sonne bewahrt wird.
Als Erztante Schadenfreude vor mehreren Monaten in den Ruhestand gegangen war, hatte sie Großcousine Fauna zur neuen Matriarchin der Familie Swift ernannt. Fauna war die ideale Kandidatin gewesen: Sie war mitfühlend, vorausschauend und stets guter Dinge - insofern in vielfacher Hinsicht das Gegenteil von Erztante Schadenfreude. Angesichts ihrer neuen Rolle hatte Fauna den Familiensitz der Swifts bezogen und wohnte somit erstmals im Leben nicht mehr mit ihrer Zwillingsschwester Flora unter einem Dach.
Sie alle hatten sich erst daran gewöhnen müssen. An sonnigen Tagen fuhr Fauna gern in die Stadt, um dort Gerüchte zu zerstreuen, dass das Haus der Swifts ein Hort für Vampire sei. Sie lud den furchtlosen Postboten Suleiman zum Tee ein, nahm in leitender Funktion an Erztante Schadenfreudes Beerdigungsproben teil und beeindruckte selbige wiederholt, indem sie bei jedem Durchgang Tränen vergoss.
Am schwierigsten jedoch war für alle, dass Fauna auf den Familientreffen bestand. Sich öfter als einmal am Tag mit den Kindern auseinanderzusetzen, hatte für Erztante Schadenfreude bedeutet, diese zu verzärteln. Und dass sie sich neuerdings zusammensetzen und ihre Gefühle, Vorhaben und Errungenschaften besprechen sollten, war bei den Bewohnerinnen und Bewohnern des Hauses Swift nicht gerade gut angekommen. Um sie vom Gegenteil zu überzeugen, hatte Fauna beschlossen, sich fortan in immer wechselnden Räumen zu treffen, wobei Treffpunkt und Uhrzeit erst mittels Rätselfragen ertüftelt werden mussten. Denn klugerweise hatte...
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