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Professor Lear schaute in das vor Anstrengung verzerrte Gesicht seines Angreifers. Nie zuvor hatte er eine derart vernunftlose Wut in zwei Menschenaugen gesehen. Der feste Griff um seinen Hals schnürte ihm die Luft zum Atmen ab, während er am ausgestreckten Arm des Killers zum Rand der Galerie gedrückt wurde. Er wusste, dass er jeden Augenblick den Boden unter den Füßen verlieren und vierzig Meter in die Tiefe stürzen würde. Mutlos wich er, über seine eigenen Beine strauchelnd, zurück. In einem letzten verzweifelten Versuch packte er den Mantelkragen des viel jüngeren Mannes und stemmte sich gegen dessen drahtigen Körper. Doch es war zu spät. Gerade als er sich vom Sims abstoßen wollte, trat sein linker Fuß ins Leere. Er rutschte ab und fiel mit dem Knie hart auf den Vorsprung. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Köper und Tränen schossen ihm in die Augen. Trotzdem hielt er mit eisernem Willen den Kragen seines Angreifers fest, zwang sich gegen das Unvermeidliche anzukämpfen. Vergeblich. Der wesentlich kräftigere Mann bog Lears knochige Finger ohne Mühe auseinander und befreite sich aus der lästigen Umklammerung des Todgeweihten.
»Der große Professor Lear«, sagte der Killer mit einem verächtlichen Grinsen. »Am Ende sind Sie doch nur ein Greis mit schütterem Haar. Aber vor allem: ein nutzloser Greis. Ich denke, es ist an der Zeit, Abschied zu nehmen. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug.«
Die schmalen Lippen des Killers verzogen sich unangenehm. Dann versetzte er dem Professor den entscheidenden Todesstoß. Es war vorbei. Lear fühlte, wie er das Gleichgewicht verlor und hintenüber kippte: Er fiel. Der Zugwind riss an seiner Strickjacke und seine Hosenbeine begannen leise zu flattern. Sein weißes Haar wehte ihm beinahe sanft ins Gesicht. Er hatte keine Angst. Jetzt nicht mehr. Er stellte sich nur eine einzige Frage: War es richtig, seinem alten Freund diese Last aufzubürden? Aber wer sonst wäre als Wächter dieses Geheimnisses geeignet gewesen? Im gleichen Moment schlug er mit einem dumpfen Geräusch auf dem Marmorboden auf.
Wallace wälzte sich auf seinem Bett hin und her - in der steten Hoffnung, endlich wieder einschlafen zu können. Aber er wusste es besser: Er war jetzt hellwach. Verärgert starrte er auf das Faxgerät, welches ihn mit lautem Surren und Knattern aus seinem ohnehin unruhigen Schlaf gerissen hatte. >Fax erhalten< blinkte unermüdlich eine rote Anzeige, und ein etwa zwanzig Zentimeter langer Papierstreifen hing schlaff wie Toilettenpapier aus dem Schacht des Gerätes. Wallace warf einen flüchtigen Blick auf seinen Radiowecker: 5.02 Uhr. Das hieß, er hatte kaum zwei Stunden geschlafen.
Seufzend knipste er die Nachttischleuchte an, schlurfte in die Küche, stellte eine Tasse mit Milch in die Mikrowelle und nahm einen Löffel Honig aus dem Gefäß, das schon seit Tagen auf der Küchentheke stand. Mit der warmen Honigmilch schlich er zurück ins Schlafzimmer, trank einen Schluck und ließ sich matt auf sein Bett fallen. Er war todmüde, aber sobald er seine Lider schließen würde, würden sich seine Gedanken wie ein unermüdliches Karussell wieder und wieder um Judith drehen. Um all die Jahre an ihrer Seite und um die immergleiche Frage, ob es richtig war, ihren Scheidungsstreit heute so kampflos beigelegt zu haben. Noch immer hatte er seine Anwälte vor Augen, wie sie beunruhigt auf ihren Stühlen herumrutschten, als er sich nicht mehr an ihre Strategie hielt, die sie doch so mühevoll ausgearbeitet hatten. Aber er war es leid. Er hatte diese ständigen taktischen Manöver einfach nur satt. Wer bekommt die Wohnung? Wer das Auto? Und wer das Kaffeeservice? Die letzten Monate waren, als hätte man ihn über einen marokkanischen Wochenmarkt mit feilschenden Händlern und verschrobenen Gauklern geschubst: Rechtsverdreher, Versicherungen, Ämter und noch mehr Anwälte. Er hasste es. Er hasste diese ganze, verfluchte Scheidung. Alles, was er wollte, war, diese Geschichte endlich hinter sich zu bringen. Er drehte sich auf die Seite und schaute aus dem großen Fenster vor seinem Bett hinab auf die San Francisco Bay. Damals hatte er diesen Ausblick genossen. Unzählige Male hatte er hier mit Judith gelegen, auf die Lichter der Stadt geschaut, die Schiffe beobachtet, die in der Ferne wie Glühwürmchen durch die Bay huschten. Heute sah er nur sein Spiegelbild in der Glasscheibe. Er betrachtete den erschöpften Mann mittleren Alters. Sein schwarzbraunes Haar war im Laufe des letzten Jahres von grauen Strähnen durchzogen worden. Und seine sonst so wachen Augen schauten ihn jetzt traurig und auf eine erschreckende Weise leer an. Langsam verschwammen all die ungeordneten Eindrücke: Judiths Vorwürfe, ihr erstaunter Blick, als er ihren Forderungen bedingungslos nachgab. Alles verblasste, und schließlich gewann seine Müdigkeit die Oberhand.
Das war knapp, dachte er. Fast wäre ihm der Alte entwischt. Der Killer betrachte den reglosen Körper fünfzehn Stockwerke unter ihm. Seine Hände zitterten leicht und eine Ader pulsierte auf seiner Stirn. Noch immer sah er den angsterfüllten Blick des Professors, als dieser begriffen hatte, was mit ihm geschah. Aber hatte er wirklich nur die nackte Todesangst gesehen? Im Großen und Ganzen: sicherlich ja. Doch für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, noch etwas anderes in Lears Augen gelesen zu haben. Eine sonderbare Form der Zuversicht. Ja, geradezu Optimismus. Der Killer zögerte einen Moment lang, dann riss er sich von dem ekelhaften Anblick des zerschmetterten Körpers los, strich seinen Kragen glatt, zog einen schmalen silbernen Flachmann aus der Innentasche seines Mantels und nahm einen kräftigen Schluck. Das würde ihn beruhigen. Das musste ihn beruhigen. Heute Nacht brauchte er einen kühlen Kopf. Sein Auftrag war noch nicht erfüllt.
Das schrille Klingeln des Telefons durchdrang unbarmherzig die morgendliche Stille. Einmal. Zweimal. Dreimal.
»Welcher Idiot ruft denn jetzt schon an?«, fluchte Wallace in sein Kissen und zog sich die Decke über den Kopf. Endlich sprang der Anrufbeantworter an: »Hallo, Sie haben den Anschluss von Colin und Judith Wallace gewählt. Wir sind nicht zuhause, Sie können uns nach dem Signalton eine Nachricht hinterlassen.«
Ein Knacken in der Leitung, dann eine vertraut quäkende Stim- me: »Hey Colin. Hier ist Frank. Ich will ja nicht drängeln. Aber wo bleibst du, verdammt? Wir müssen los!«
Wallace warf einen Blick auf seine Uhr und schrak wie vom Blitz getroffen hoch. »Ach du Scheiße! Halb zehn!« Er schwang sich aus dem Bett, schlüpfte schwankend in seine Jeans, stülpte einen Pulli über und stürmte ins Bad. Während er sich die Zähne putzte, rasierte er sich oberflächlich und ging sich rasch mit den Fingern durch sein wirres Haar. Das Telefon läutete erneut. »Ja doch«, schrie Wallace in die leere Wohnung. »Ich komme ja schon.« Hastig griff er seine braune Ledermappe und verließ Hals über Kopf das Appartement.
Frank wartete vor dem Haus bei laufendem Motor in seinem smaragdgrünen Ford Mustang, seinem ganzen Stolz. Er war Anfang zwanzig, seine Rastalocken waren auch mit festen Bändern kaum zu bändigen, und außer Wallace schien niemand zu glauben, aus ihm würde einmal ein gescheiter Wissenschaftler werden.
Es war für ihn völlig überraschend gewesen, als Wallace ihm vor knapp einem Jahr eine Stelle als Forschungsassistent angeboten hatte. Wallace meinte jedoch, er sei neugierig, verschroben und dickköpfig: drei elementare Voraussetzungen, um sich in der Welt der Wissenschaft zu behaupten. Frank tat dieser unverhoffte Zuspruch gut und innerhalb der letzten Monate war er zum gewissenhaftesten Assistenten avanciert, den Wallace je hatte. Und mehr noch: Frank wurde Wallace ein guter Freund.
»Colin, Colin, Colin...«, empfing Frank Wallace mit verständnislosem Kopfschütteln. Wallace ließ sich matt auf den Beifahrersitz fallen.
»Was?«
»Gar nichts. Außer, dass ich bereits eine Viertelstunde warte, du gleich einen Vortrag vor den wichtigsten Neurologen der Welt halten musst - die übrigens auch alle auf dich warten - und du Zahnpasta am Mund hast.«
Wallace klappte die Sonnenblende mit dem kleinen Schmink-spiegel herunter und kratzte sich die vertrocknete Paste vom Mund-winkel. »Na dann fahr endlich! Oder wollen wir die Herren noch länger warten lassen?«
»Ay, Ay, Sir.«
Mit quietschenden Reifen rasten sie los, ein Kickstart, den sich Frank nicht nehmen ließ, seitdem er sein >Grünes Juwel< besaß, wie er seinen Ford liebevoll nannte. Als sie den Highway erreichten, fiel Wallace auf, dass ihn Frank unentwegt aus dem Augenwinkel musterte. Zunächst versuchte er die penetranten Seitenblicke zu ignorieren, was jedoch auf Dauer kaum möglich war.
Nach zwei weiteren Meilen ertrug Wallace die durchbohrenden Stielaugen seines Freundes nicht länger. »Hab ich noch immer Zahnpasta am Mund?« Er bemühte sich nicht, eine gewisse Gereiztheit in seiner Stimme zu verbergen.
»Nein. Alles in Ordnung.« Frank zuckte mit einer Schulter und wandte sich wieder der Fahrbahn zu.
»Gut. Und warum glotzt du mich dann so an?«
»Tue ich gar nicht.« Frank konzentrierte sich einige Sekunden stumm auf die Straße, dann platzte es aus ihm heraus: »Also gut: Jetzt sag schon, Colin!«
»Na, was hat die Verhandlung gestern ergeben. Ist die Scheidung durch?«
Wallace schluckte. »Ich denke schon. Und um deine nächste Frage gleich zu beantworten: Ich...
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