Schweitzer Fachinformationen
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Als Kurara zum ohrenbetäubenden Läuten der Morgenglocken erwachte, war ihr erster Gedanke: Ich würde die ganze Halle niederbrennen, wenn ich dafür nur zehn Minuten länger schlafen könnte.
Die Lichter gingen flackernd an und durchdrangen ihre Lider. Das Glockenläuten hallte von den Wänden ihrer winzigen Kammer wider. Draußen marschierte ein Aufseher den Flur der Angestellten entlang, schlug auf einen Gong und rief dabei: »Los, los, allesamt aufstehen! Dankt unserem großen Kaiser für diesen herrlichen Tag!«
»Unser großer Kaiser kann mich mal!« Kurara rollte sich stöhnend herum. In ihrer Kammer gab es keine Fenster, aber das grelle elektrische Licht ließ keinen Zweifel daran, dass es Morgen war.
»Aufstehen! Aufstehen! Dankt unserem großen Kaiser dafür, dass wir einen neuen Sonnenaufgang erleben!« Die Stimme des Aufsehers hallte durch die papierdünnen Wände. »Dankt unserem großen Kaiser, der uns vor den Shikigami beschützt!«
Kurara rieb sich den Schlaf aus den Augen und die Welt um sie herum nahm langsam Gestalt an: die Wände ihrer Kammer, die Kugeln aus zerknülltem Papier auf dem Fußboden, das zweite Bett ihr gegenüber und der Junge, der darin noch immer schlief. Ein rabenschwarzer Haarschopf lugte unter der Bettdecke hervor.
»Haru«, rief sie. »Haru, Zeit aufzustehen!«
Die Gestalt im Bett regte sich.
»Sieh nur, der Koi-Teich. Das Wasser . es funkelt wie Edelsteine .«, murmelte Haru in seinem engen Decken-Kokon. Er redete wieder im Schlaf.
Es klang angenehm. Träumte er von ihrer Heimat, ihrem Dorf? Kurara wünschte sich, sie hätte auch solche Träume, aber ihre Erinnerung an die Zeit vor der Midori war äußerst schemenhaft: ein Dorf in den Bergen, eine Hütte am Ufer eines kleinen Teichs, verschwommene Gesichter von Dorfbewohnern, die nur ein Gefühl der Leere zurückließen, wie kalter Rauch nach einem Feuer.
»Der Hafen von Nessai. Krebse . so groß wie . Servierteller .«
So angenehm Harus Traum auch sein mochte, sie mussten zur Arbeit. Kurara nahm sich eine zerknüllte Papierkugel vom Boden und warf sie durch die Kammer. Als sie von Harus Bett abprallte, schnippte Kurara mit den Fingern und die Kugel blieb in der Luft hängen. Ein wohliges Prickeln lief durch ihren Körper - eine Empfindung, die zugleich aufregend und beruhigend war. Sie bewegte die Hand, die Kugel begann sich zu drehen und faltete sich zu einem Origami-Kaninchen, das nur aus Falzen und Kniffen bestand.
Eigentlich durfte sie das nicht. Die Küchenmeisterin hatte es ihr ausdrücklich verboten. Kochen und Saubermachen waren die einzigen Tätigkeiten, die ihr erlaubt waren. Aber hinter den Wänden ihrer Kammer war sie vor neugierigen Blicken sicher. Es musste ja niemand erfahren - und Haru gefielen ihre Papiertiere. Zumindest, wenn er wach genug war, um sie würdigen zu können.
Auf ihren Befehl hin hoppelte das Kaninchen über das Bett und zog an einer schwarzen Haarsträhne, die unter der Decke hervorschaute.
»Himmelsstädte .« Eine schläfrige Hand wischte das Kaninchen vom Bett.
Kurara stieß einen empörten Schrei aus. Sie hob das Kaninchen auf, drückte es an sich und setzte es auf ihr Kissen.
Der Aufseher schlug den Gong. Entlang des Flurs wurden Türen aufgerissen und die letzten schlaftrunkenen Angestellten eilten den Gang hinunter.
»Haru!« Kurara ging zu Harus Bett und rüttelte kräftig an ihm.
Endlich spähte unter der Decke ein Paar dunkler Augen hervor.
»Schon gut, schon gut . Ich bin wach!«, stöhnte Haru.
»Gut! Beeil dich!« Kurara zog ihn auf die Beine. Wenn sie rannten, konnten sie es vielleicht noch schaffen.
Die Midori war für Riesen gebaut, ein Schloss voller Festsäle und Privatgemächer, das in fast zweitausend Metern Höhe reglos in der Luft schwebte. Ihre funkelnden Perlglasfenster ragten über den Wolken auf. Im Inneren der moosbedeckten Kanonen bauten Vögel ihre Nester und Himmelsfische flitzten zwischen den Zahnrädern des Federwerks hindurch. Große Rotorblätter durchschnitten die Luft wie ein unter der Midori angebrachter Heiligenschein; die goldenen Ringe verjüngten sich zu bohrerähnlichen Spitzen.
Kuraras früheste Erinnerungen drehten sich um diese Ringe. Um die hoch aufragenden Wände der Midori und um Haru, der ihre Hand fest umklammert hielt, während die runde Schwebekapsel sie durch die Tore trug. Um einen Mann mit strengem Gesicht, der ihnen sagte, dies sei von nun an ihr neues Zuhause. Damals hatte Kurara noch nicht gewusst, dass sich hinter dem funkelnden Äußeren der Midori ein dunkles, chaotisches Herz verbarg.
»Du bist zu spät! Das wird dir vom Lohn abgezogen!« Die Aufseherin lächelte schadenfroh, als Kurara gerade in dem Moment eintraf, als das Läuten des Frühstücksgongs ertönte. Kurara eilte zu ihrem Platz und band sich rasch die Bänder ihrer Schürze über ihrem braunen Arbeitskleid zu.
Angestellte liefen mit schwer beladenen Silbertabletts an ihr vorbei. Soeben war ein weiteres Luftschiff eingetroffen und es wurde nach Essen und Wein verlangt. Derzeit war der Hafen stets voller Kriegsschiffe. Der Konflikt in Estia zog sich seit Jahren hin - ein Krieg, an dessen Ende Mikoshimas wachsendes Kaiserreich um eine Kolonie reicher sein würde -, und die Soldaten, die aus der Fremde heimkehrten, wollten nichts lieber, als bei gutem Essen und Wein ihre Schlachten jenseits des Meers zu vergessen.
Auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz kam Kurara an Bergen schmutziger Töpfe vorbei, die sich bis zur Decke stapelten. Die Feuer verwandelten die Küche in einen gewaltigen Glutofen. Die Steinsäulen, die die hohe Decke stützten, schienen in der Hitze zu schwitzen. Hundert verschiedene Düfte stiegen ihr in die Nase: Mirin, Togarashi-Wurzel, Sojasauce und Karamellzucker. Glocken läuteten, Teekessel pfiffen, Pfannen brutzelten und Teller gerieten ins Rutschen und fielen scheppernd auf den rot gefliesten Boden, während Kellner und Kellnerinnen mit voll beladenen Servierplatten umhereilten.
»KURARA!«, bellte eine Stimme. Ein leerer Topf segelte durch die Luft und prallte von der gegenüberliegenden Wand ab. Der Knall ließ die anderen Angestellten zusammenschrecken. »Verflucht noch mal, Mädchen, wo ist der Pflaumenwein? Du solltest ihn doch herbeischaffen!«
Eine stattliche Frau kam durch die Küche marschiert, in der einen Hand eine Schöpfkelle und in der anderen einen eisernen Schürhaken. Kurara riss die Augen auf. Sie knallte die Hacken zusammen und nahm automatisch »Haltung B« an, wie man es in der Küche nannte. (Hände hinter dem Rücken, Kopf gesenkt, Blick zu Boden: die »Tut mir leid, es kommt nie wieder vor«-Haltung.)
»Entschuldigung, Madam Ito, ich hab's vergessen.«
Niemand hatte ihr etwas von Pflaumenwein gesagt, aber es hatte keinen Zweck, Madam Ito darauf hinzuweisen.
»Ich hab's vergessen?!«, äffte Madam Ito mit Fistelstimme Kurara nach. Das Gesicht der Küchenmeisterin war vor Wut und wegen der Hitze der Feuer gerötet. Ihr schwarzes, von silbrigen Strähnen durchzogenes Haar war zu einem zerzausten Dutt zusammengebunden, der bei jeder Bewegung wackelte. Sie herrschte über die Küche der Midori mit eiserner Faust und einem Arsenal an eisernen Töpfen, die sie auf diejenigen warf, die ihren Unmut erregt hatten. Zimmermädchen schreckten zusammen, wenn Madam Ito den Raum betrat, Kellnerinnen flohen vor ihren finsteren Blicken. Selbst die Aufseher und Aufseherinnen machten in der Küche keinen Mucks, da sie wussten, dass dies ihr Reich war.
Kurara wandte den Blick ab und betrachtete den Topf, den die Köchin nach ihr geworfen hatte. Er rollte über den Boden und blieb nur ein paar Zentimeter von ihren Füßen entfernt liegen. Auf seiner gewölbten Oberfläche spiegelte sich ein Mädchen, das angemessen schuldbewusst wirkte, mit blassem, rundem Gesicht, einer zu breiten Nase und zu großen Ohren und Haaren, die alle paar Monate mithilfe eben jenes Topfs geschnitten wurden, der jetzt vor ihr lag.
»Kurara!«
»Ja, Madam Ito, ich höre zu!« Sie hatte nicht zugehört.
Die Augen der Küchenmeisterin verengten sich. Die Adern an ihrem Hals traten hervor.
»Mädchen.« Ihre Stimme zitterte bedrohlich. »Ist dir bekannt, wer in dieser Küche das Sagen hat?«
Kurara sagte nichts. Unverschämtheit wurde mit fünfzehn Hieben bestraft und der Oberaufseher hatte erst kürzlich eine neue Peitsche gekauft. Sie hatte ihn gestern Morgen damit unter dem Arm herumlaufen sehen. Er hatte ein wenig zu hingebungsvoll den Griff umklammert.
»Sie, Madam Ito.«
»Und wer sorgt für dich und gibt dir Kleidung und Essen, während sich andere kleine Mädchen, die es viel mehr verdient hätten, auf den Feldern oder in den Levistein-Minen abrackern müssen?«
»Und wer war die hohlköpfige Närrin, die heute vergessen hat,...
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