Schweitzer Fachinformationen
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»One day my log will have something to say about this.« The Log Lady
Zehn, zwanzig Jahre später - als bestünde das Leben nur aus Anfängen - versuche ich immer wieder, diese Geschichte zu erzählen, ohne den richtigen Blickwinkel zu finden. Tausend verschiedene kleine Sprünge in das Schwimmbad meiner Kindheit. Und noch immer schlucke ich Wasser. Noch immer brennt es, bis in die Lungenspitzen. Ich frage mich, was mir so große Angst macht, weshalb der Weg so verschlungen ist. Es ist, als würde das Erzählen etwas heilen, von dem ich nicht will, dass es geheilt wird. Man muss es wohl zugeben: So manches Leid will man nicht missen. Immer wieder aufgerissene kleine Wunden. Bis aufs Blut abgekaute Nägel. Den eisern antrainierten Muskelkater. Finger, die auf die Klaviertasten einhämmern, bis es wehtut. Den Mangel. Eine erloschene Liebe. Womöglich gibt es Menschen, die in einer gesunden Atmosphäre keine Luft bekommen.
So wie in der Serie Profit zu sehen - einer einzigen, Kult gewordenen Staffel, ausgestrahlt in meinem zwanzigsten Lebensjahr. Der Held, ein genialer Soziopath, war bei seinem grausamen Vater auf dem Land irgendwo im tiefsten Oklahoma aufgewachsen, wo er vor einem ununterbrochen laufenden Fernseher, in einem Pappkarton der Marke Gracen & Gracen, nackt in seinen Exkrementen sitzen musste und nur unregelmäßig zu essen bekam. Fünfundzwanzig Jahre später, mitten in einer amerikanischen Megalopolis, ist aus Jim Profit ein ebenso schöner wie hochbegabter und ehrgeiziger junger Mann geworden, dem anscheinend nichts und niemand widerstehen kann und der beabsichtigt, sich am Leben und am Großkapital zu rächen, indem er in Höchstgeschwindigkeit die Karriereleiter der Firma Gracen & Gracen erklimmt, die mit Ethik wenig am Hut hat. Er bewohnt ein luxuriöses, mit allem Komfort ausgestattetes Penthouse: Kingsize-Bett, tiefe Sofas, die Bar voll von goldbraunen Flüssigkeiten in Kristallkaraffen, komplett ausgestattete Küche, riesiges Bad, Gästezimmer . und ein geheimer Raum, in dem er einen Pappkarton der Firma, für die er jetzt arbeitet, vor einem rauschenden Fernseher aufgestellt hat. Jeden Abend rollt er sich nackt darin zusammen; es ist ihm unmöglich, in erholsamer nächtlicher Stille oder in einem Bett zu schlafen. Komfort kann eine beängstigende Vorstellung sein.
Die Serie weigert sich ganz offensichtlich, politisch korrekt zu sein, und wird von Anfang an heftig kritisiert: Kiloweise Schmähbriefe und Morddrohungen gehen ein; man beschuldigt den Regisseur, sich im Morast der Tabus zu wälzen. Der Stein des Anstoßes? Jim Profit knutscht mit einer Frau, die er seit der Pilotfolge Mama nennt - in Wirklichkeit ist sie jedoch seine Stiefmutter, die zweite Frau des Vaters, der ihn misshandelt hat. Aber das ist eine andere Geschichte. In gewisser Weise jedenfalls.
Der Insel Korsika wurde ich, ebenfalls in meinem zwanzigsten Lebensjahr, durch eine familiäre Tragödie entrissen - nein, nicht durch eine Vendetta wie die von Prosper Mérimées Colomba, sondern durch einen Todesfall ohne den vorhergehenden Einsatz von Plastiksprengstoff, Schuss- oder Stichwaffen, ohne Strumpfmasken und Lösegeldforderungen. Aber auch ich dachte mir: »das schönste Alter«, von wegen schön. Die studentische Sorglosigkeit, die ich auf den sonnenbeschienenen Rasenflächen des Campus beobachtete, gab mir das Gefühl, das schwermütige Herz einer alten Frau zu haben. Nicht zurückzukehren war keine freie Entscheidung, mein Fleisch und Blut war im Ofen eines Krematoriums zu Staub zerfallen, um auf den Farnen von Pirio verstreut zu werden, es gab dort nichts mehr, was mir gehörte, und die Vorstellung, zu Hause Gast, Mieterin oder, noch schlimmer, Touristin zu sein, war mir zuwider, war empörend. Im Jahr 1996 hatte ich, mit ein paar lächerlichen Erinnerungsstücken im Gepäck, ein Schiff bestiegen - und brauchte, wie im Märchen, sieben Jahre, bis ich es fertigbrachte, wieder einen Fuß auf diesen Boden zu setzen, der wie eine klaffende Wunde war. Während ich mich unausweichlich auf die dreißig zubewegte, war ich ausnahmsweise einmal wieder vollkommen pleite - denn die Schriftstellerei ist ja anscheinend kein Beruf - und verbrachte also eine furchtbare Nacht in einem Reisesessel, das Privileg derjenigen, die sich keine Kabine auf dem Schiff leisten können. Ich hatte die Gelegenheit eines Marseille-Aufenthalts ergriffen, um die kurze Überfahrt anzutreten. Die Nacht davor hatte ich im Hotel Richelieu nicht weit von der Plage des Catalans verbracht, einem dieser altmodischen Etablissements, die günstig und zugleich noch mit wahrem Chic ausgestattet sind, erkennbar an den Gästen von authentischer Eleganz, den Deklassierten, den Dandys - zumindest bis zur nächsten Renovierung, die häufig vulgär ausfällt. Ich hatte ein Zimmer mit Meerblick und kleinem Balkon gewählt, auf dem ich, genüsslich meinen Kaffee schlürfend und eine Zigarette rauchend, den Horizont mit einem gewissen Lampenfieber betrachtete. Melancholie breitete sich wie Säure in meinem Magen aus. Ein paar Stunden später ging ich an Bord. Ich entdeckte die Unbequemlichkeit der Economy Class, das heißt das Fehlen einer Kabine, die sich überall aufdrängenden Bildschirme, den Lärm, die Enge, die Automaten, die mit Konservierungsstoffen vollgestopfte Süßigkeiten zum Preis iranischen Kaviars verkaufen . Ich fühlte mich verloren und musste mich jedes Mal, wenn ich wegen eines Ellbogenstoßes, eines Geräuschs, eines Krampfs ein Auge öffnete, davon überzeugen, dass ich mich nicht auf einem Langstreckenflug, sondern auf einem Schiff befand, das einen kleinen Meeresarm überquerte. Noch dazu schaukelte es in dieser Nacht heftig. So nett das Mittelmeer sein mag, um im Sommer in Badekleidung reinzuspringen, ruhig ist es nicht. Nach zu wenig und zu schlechtem Schlaf wurde ich in Bastia mit verquollenen Augen und mieser Laune vom Zoll empfangen; kein guter Anfang oder vielmehr Neubeginn. Die Uniformen republikanisch-blau, die Insignien Horn und Granate, wie von Frankreich vorgeschrieben. Als fühlte ich mich nicht schon schuldig genug, weil ich weggegangen war und nun zurückkehrte, ohne wirklich zurückzukehren - jetzt musste mich auch noch das Gesetz genau so behandeln. Wie eine Schuldige. Oder zumindest eine Verdächtige. Ich betrachtete wutentbrannt die Autos, die das Maul der Fähre in aller Ruhe ausspie, ohne dass man die Fahrer irgendetwas fragte, dabei konnten ihre Felgen mit Koks oder MDMA vollgestopft sein - was, wenn man den Statistiken zum Drogenhandel Glauben schenkte, vermutlich bei einigen tatsächlich der Fall war. Die Dame vom Zoll, der die Aufgabe zukam, meine Höschen mit behandschuhten Fingern abzutasten, während ihre männlichen Kollegen diskret den Blick abwandten, schien zu glauben, eine junge Frau mit derartigen Augenringen, die sich noch nicht mal eine Kabine leisten konnte, ohne Auto und den üblichen Kram von Backpackern, den »pumataghji«, die sich Sandwiches am Strand belegten, statt das Menü »Forza Panza« zu 52 Euro ohne Wein im Restaurant ihres Cousins zu wählen, so jemand schleppte doch sicher jede Menge Marihuana mit sich herum - eine zweifelhafte Logik, der Beweis: Da waren nur Trauer, Angst und Liebe. Als sie mich, vor der Ankündigung, dass sie nun meinen Körper abtasten würde, mit selbstgefälliger, leicht verächtlicher Miene nach dem Grund meines Besuchs fragte, deutete ich auf das Dach des Hauses, das ich verloren hatte, das Haus, das von meinem abenteuerlustigen Urgroßvater gebaut worden war und das man fast erkennen konnte, ich jedenfalls sah es hinter einem Gebäude aufblitzen, die Villa Alcyon, so anziehend, erhaben und schäbig zugleich, und erwiderte, die Augen schwarz und von dunklen Ringen umschattet:
»Sehen Sie das rote Ziegeldach dort, links vom Bahnhof, ganz oben? So nata quì.«
»Oh, Entschuldigung! Ich habe gar nicht auf Ihren Ausweis geschaut! Hier, bitte .«
Die Wut hatte mich dazu gedrängt, meine mageren Kenntnisse der Sprache zusammenzukratzen, die eigentlich zu meinen Muttersprachen hätte zählen sollen, und zu versuchen, einen korrekten Satz zu formulieren. Ich weiß nicht, warum das Korsische jedes Mal dann hervorkommt, wenn ich verärgert bin; das macht mich sehr traurig. Die errötende Zöllnerin beeilte sich jetzt, meine Tasche wieder zu verschließen, ohne sie weiter nach illegalen Substanzen zu durchsuchen, verzichtete auch darauf, ihnen in meinen Schuhen, Achselhöhlen und Leisten nachzuspüren, und fügte mit einem breiten Lächeln hinzu: »Benvinuta in casa toia.«
Willkommen zu Hause.
Ich war erstaunt festzustellen, wie wenig sich verändert hatte. Als verginge die Zeit auf der Insel anders als auf dem Kontinent. Es fühlte sich an, als hätte ich tausend bewegte Leben gelebt, die faszinierend und erschütternd zugleich waren. Als wären diese sieben Jahre eigentlich sieben Jahrhunderte gewesen, voller Prüfungen, Drachen, Prinzen, Ungeheuer und Hexen, voll von Zauber und falschem Schein - und am Ende mit der Notwendigkeit, hierher zurückzukommen. Ich hatte tief greifende...
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