Schweitzer Fachinformationen
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Am Palsamoor streifte ein dreibeiniges Rentier herum. Wir waren schon ein gutes Stück an ihm vorbei, da hörte man einen Schuss. Ich blickte mich um und sah das Rentier zuckend am Grabenrand liegen. Wenig später ging der eisige Regen in einen kräftigen Hagelschauer über, der nach dem Moor zu Nieselregen schmolz. Ein wütender Wind bog das zunderbraune, regennasse Gras rechts und links der Straße und riss an meinem Rock. Auf der Höhe der letzten Milchsammelstelle, die zu unserem Dorf gehörte, kam ein zweijähriger Stier aus dem Wald gesprungen, auf dessen Flanken die Buchstaben K.P. gemalt waren. Sofort fing er an, die Sisko zu besteigen, dann war er auch schon auf der Kerttu drauf und versuchte es schließlich noch bei der Ilona. Die Ilona guckte ihn aber so böse von unten heraus an, dass er sich trollte. Ich verpasste ihm mit der Weidenrute eins aufs Hinterteil und schrie ihn mit schriller Stimme an, aber der Stier schwenkte bloß die prallen Eier und den steifen Schwengel. Zwei Kuhjungen schwangen sich auf ihre Pferde und versuchten, ihn aus der Herde zu treiben. Das klappte natürlich nicht. Der Stier war so brünstig, dass ihn nicht mal eine Wand aus dicken Balken aufgehalten hätte. Sein Schwanz ragte kerzengerade zum Himmel. Die Kühe wurden wild, und das ganze Vieh aus unserem Dorf lief auseinander. Die einen stürmten einfach davon, die anderen warteten mit gerecktem Arsch, dass sie an die Reihe kamen. Ich musste durch die Gräben und an den Waldrändern entlangrennen, bis ich unser Vieh wieder auf der Straße hatte. Dann zählte ich die Köpfe. Einer fehlte. Martta sagte, die Kerttu wäre in der Kurve da drüben an ihr vorbeigehuscht. Ich überließ Katri das Vieh und eilte schnurstracks der Kerttu hinterher. Ich vermutete, dass sie nach Hause wollte, obwohl da niemand mehr war.
Unser heimischer Hof sah trostlos aus, dabei war er gerade noch voller Leben gewesen. Nicht mal die Katze Tirsu, die das Haus hüten sollte, ließ sich blicken. Ich stellte fest, dass der Frühherbstfrost den Ringelblumen vor der Veranda den Garaus gemacht hatte. Das Kammerfenster stand einen Spaltbreit offen. Ich ging ins Haus. In der Küche hatten wir die alte Bank stehen und den Teppich an der Wand hängen lassen, und es roch nach geräuchertem Fisch. In der Kammer hing noch der Geruch meiner Mutter, weil sie dort immer gelegen hatte, wenn sie krank gewesen war. Mich packte von innen her das Grauen, schnell machte ich das Fenster zu und rannte wieder hinaus. Auf dem Hof warf ich einen Blick in die Nebengebäude. Fast trat mir das Wasser in die Augen, aber gleichzeitig war ich erleichtert, denn im leeren Kuhstall fand ich die Kerttu. Sie zitterte und sah mich irgendwie verdutzt an. Vorsichtig ging ich auf sie zu. Dann war ich auch schon bei ihr, wischte ihr den Schweiß vom Hals, begegnete ihrem Blick und schämte mich. Ich schämte mich, der Mensch zu sein, dem sie ausgeliefert war. Keine Angst, redete ich ihr zu, wir machen nur einen Ausflug, auf die andere Seite vom Strom, dort gibt es süßes Futter, Heu ohne Schimmel und einen warmen Stall. Die Kerttu hörte zu, aber ich sah, dass sie mir nicht glaubte. Trotzdem gelang es mir, sie aus dem Verschlag zu locken. Sie torkelte den Hofweg entlang zur Straße, und als sie am Ende einer langen Gerade die Kolonne sah, muhte sie und rannte los.
In der Zeit, in der ich die Kerttu geholt hatte, hatte sich der K.P.-Stier so weit beruhigt, dass er stramm zwischen den anderen voranschritt. Dabei schnappte er so schwer nach Luft, dass es spritzte. Er schlich sich an die Ilona heran, und uns blieb nichts anderes übrig, als ihn als Teil unseres Viehs und unserer Kolonne hinzunehmen. Beim Sumpf überholte uns ein Lastauto der finnischen Armee. Auf der Ladefläche standen Burschen, die ich nicht kannte. Sie sahen fast witzig aus. Sie hatten nämlich zu große Waffenröcke an und schwere Patronengürtel um die dünnen Hälse hängen. Für einen Augenblick sah ich unter ihnen Elia-Efraim, den Sohn vom Dorfschneider. Der hatte seinem Vater damals geholfen, als meine Mutter mir für Omas Beerdigung ein neues Sonntagskleid machen ließ. Ich empfand tiefes Mitleid mit den Burschen, weil ich in ihnen unseren Jakke und unseren Sakke sah, die nicht mehr lebten. Auch die waren noch Buben gewesen, als sie im Dezember neununddreißig freiwillig zum Kämpfen an die Ostfront gezogen waren.
An jeder Weggabelung schloss sich weiteres Vieh mit seinen Hütern an. Fast alle waren, wenn man die Fuhrmänner mit den Pferden nicht mitrechnete, Mädchen in meinem Alter oder ein paar Jahre älter oder aber Rotznasen wie Matti, der Uneheliche, der zu Martta, der Stallmagd vom Nachbarn, gehörte. Er war erst neun, aber schon ein Arbeiter, der was konnte. Noch bevor wir die Ländereien von Laamanen erreichten, bildeten wir auf der Straße ein langes, wuseliges Sammelsurium. Die Zahl der ausgewachsenen Rinder überstieg die hundert. Außerdem waren ziemlich große Kälber, Färsen und Farren mit dabei. Die Männer kutschierten auf ihren Pferdewagen Kisten mit Säuen drin. Den Schweinen war kalt bei dem Herbstwetter, sie quiekten erbärmlich. Auf den Wagen standen auch Spankörbe, in denen es gackerte, und ein Hahn krähte. Jemand hatte seine Hühner mitgenommen, obwohl die Anweisung gelautet hatte, ihnen vor dem Aufbruch die Hälse durchzuschneiden. Die frisch geborenen Kälber und alles, was unter zwei Jahre alt war, durfte auf den Wagen mitfahren. Mit Staunen in den Augen sahen die jungen Tiere zu, wie der Wald vorbeihuschte. Die Kälber hatten einerseits Glück, dass sie kurz vor der Flucht auf die Welt gekommen waren und gefahren wurden. Andererseits hatten sie Pech, nämlich in dem Sinn, dass sie gerade dann geboren wurden, als sie den Geburtsstall verlassen und in ein anderes Land fliehen mussten.
Von Kurve zu Kurve beruhigte sich das Vieh allmählich, und gegen Abend schritt die ganze Karawane nass und gleichgültig vor Müdigkeit in zwei Reihen dahin wie die Soldaten. Ruperti und Eevertti, die alten Fuhrmänner aus unserem Dorf, lenkten sanft die Taimi und den Tauno, die schnauften, weil sie schon so alt waren, dass sie nicht einmal für den Krieg gebraucht wurden. Die Wagen beider Pferde standen voller Melkgeschirr. Der von Tauno hatte so kurze Deichseln, dass der Klepper bei jedem Schritt mit dem Hinterhuf gegen den Karren schlug. Das tat natürlich weh, und der Schmerz brachte ihn zum Laufen, worauf es noch mehr wehtat.
Die Buben aus dem Nachbardorf führten gekonnt die schlotternden Fohlen, die willenlos vor sich hin starrten, weil sie nicht verstehen konnten, wohin man sie brachte. An der Sieben-Straßen-Kreuzung - eine davon war eigentlich bloß ein winziger Nadelweg, eine zweite ein Fuhrweg und eine dritte der Postweg - erscholl ein deutscher Marsch, und aus der anderen Richtung hörte man schleppend gesungen »Ein feste Burg ist unser Gott«.
Mitten in dem Krach standen ein paar Lottas aus dem Kirchdorf und der Gemeindearzt, der jeden hastig fragte: Bist du gesund? Ich nickte, und Katri, die der Onkel geholt hat, damit sie mir hilft, antwortete mit einem tiefen Seufzer. Die Alten, die Blutklumpen spuckten, wurden vom Arzt und einer Sanitätslotta aus der Kolonne ausgesondert. Eine Kleinlotta sagte, die werden auf die Westseite vom Strom gebracht, ins nächste Infektionskrankenhaus. Rekruten halfen den Kranken auf die Ladefläche eines Lastautos der Armee, auf das man eine Art Windschutz aus Sperrholz gebaut hatte. In einer zweiten Gruppe wurden diejenigen gesammelt, die Geschwüre hatten oder eiterten, diejenigen mit Krätze, die mit Hals- und Ohrenentzündung, die von Rheuma Geplagten und solche, die mit Eingeweidebrüchen leben mussten. Diejenigen, die sich verbrannt hatten oder denen etwas abgefroren war, wurden in einer dritten Gruppe gesammelt. Auf dem Postweg näherten sich ein paar ältere deutsche Soldaten. Zuerst schlossen sie sich unserer Kolonne an, aber bald schon überholten sie uns. Ich beobachtete, wie sie mit einer Winde ein Loch in jeden zweiten Strommast drehten, eine Ladung hineinstopften und sagten, sie sprengen die Masten, wenn wir vorbeigegangen sind. Die übrigen Masten sägten sie auf halber Höhe ab.
Für die erste Übernachtung war uns der Landrücken bei Laamanen zugewiesen worden. Als wir ankamen, herrschte dort vollkommenes Durcheinander, denn die Rinder unterschiedlicher Dörfer hatten sich vermischt. Jedes Rind aus unserem Dorf hatte ein Kilkura am Hals hängen, in das wir daheim seinen Namen, sein Alter und den Namen und die Adresse seines Besitzers geritzt hatten. In die Ohren der Kühe aus dem Walddorf hatte man Schnitte gemacht wie bei Rentieren. Manchen Kühen waren auch die Anfangsbuchstaben ihres Bauern in die Kruppe gebrannt oder aufgemalt worden. Dazwischen gingen Kühe, die anscheinend überhaupt nicht markiert, sondern der Obhut des HERRN überlassen worden waren. Das Melkvieh mit den stärksten Nerven rupfte hinter der Strohscheune Junggras. Die Kühe, die in dem Trubel ihre Herde verloren hatten, brüllten. Die Pferde wieherten, die Säue quiekten in den Kisten, die Hühner gackerten, und die Hunde kläfften. Nur das Blöken der Schafe fehlte im Chor. Die waren in den Wäldern der heimischen Dörfer ihrem Schicksal überlassen worden, weil es nach der Freiheit des Sommers nicht mal dem Teufel gelungen wäre, sie einzufangen. Die Färsen rannten mit Schaum vor dem Mund umher, stießen sich gegenseitig und bestiegen sich, röchelten wie in den letzten Zügen und gehorchten den halbwüchsigen Melkerinnen nicht und noch weniger den Bälgern, die als Viehhüter versuchten, irgendwie Ordnung in das Ganze zu bringen.
Ich sah mir das Schauspiel eine Weile wie gelähmt an und verstand, dass wir noch Schlimmeres vor uns hatten, wenn wir es nicht schafften, die Kühe in ihre jeweils eigenen...
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