Schweitzer Fachinformationen
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Diesen Moment werde ich wahrscheinlich nie vergessen: Während einer Englisch-Nachhilfestunde kam meine Mutter aufgeregt ins Zimmer und sagte mir, dass ein Flugzeug ins World Trade Center geflogen sei. Das war am 11. September 2001. Den Rest des Tages verbrachte ich tief geschockt vor dem Fernseher und sog alle Informationen in mich auf, die von sichtbar betroffenen Moderator:innen vermittelt wurden. Schnell war klar: Diese Ereignisse waren von historischer Bedeutung. Die Welt würde nun in gewisser Weise eine andere sein. Diese furchtbaren Ereignisse und deren Bilder haben sich wie nur sehr wenige andere in mein Gedächtnis gebrannt. Die verzweifelten Menschen, die aus den Fenstern der oberen Stockwerke winkten, um sich bemerkbar zu machen, nur um festzustellen, dass keine Hilfe kommen würde. Schließlich sahen einige von ihnen keinen anderen Ausweg, als aus dem Fenster zu springen. Der Qualm und die Hitze des Feuers ließen ihnen keine Wahl. Als dann die beiden Türme in sich zusammenbrachen, war das Ausmaß dieses Anschlags unbeschreiblich.
Selten hat es Situationen gegeben, in denen Millionen Menschen vor den Fernsehgeräten live dabei zusahen, wie sehr viele andere Menschen ums Leben gekommen sind. Man hat zugesehen und war gleichzeitig hilflos, ohnmächtig, schockiert, erstarrt. Das alles hat etwas mit uns gemacht. Ereignisse wie diese gehen nicht spurlos an uns vorbei. Sie werfen eine Menge Fragen auf: Wie kommen Menschen dazu, solche perfiden Pläne zu schmieden? Woher kommt dieser unbändige Hass? Was machen jetzt all die Menschen, die Angehörige verloren haben? Wie fühlt es sich für Piloten an, wieder in ein Cockpit zu steigen? Und wie ist das eigentlich für Muslime, die seitdem ständig unter Generalverdacht stehen?
Was mich überrascht hat, war der Umgang einiger Medien mit dem Thema. Beispielsweise titelte die BILD am Tag nach dem Anschlag: »Großer Gott, steh uns bei«. Da war keine Anklage an Gott, keine Frage nach dem Warum und auch keine Schuldzuweisung zu lesen, sondern quasi ein Bekenntnis der Größe Gottes. Ein Gebet. Ein Hilferuf. Eine Bitte um Beistand. Hier hat die Bildzeitung gute Worte gefunden, was angesichts dieser Tragödie gar nicht leicht gewesen sein dürfte. Angesichts des Leides finden wir oft kaum Worte, die passend sind.
Die Anschläge des 11. September waren für mich sehr einschneidend. Zum einen war es für mich der Beginn von politischer Auseinandersetzung. Zum anderen gewann für mich die Frage nach Gottes Rolle im Leid an Bedeutung. In den Folgemonaten saß ich in einer christlichen Veranstaltung und hörte einen Vortrag, der die aktuelle Situation aufgriff. In diesem Vortrag wurden per Beamer zwei Bilder nebeneinander an die Wand geworfen. Das eine Bild war ein bekanntes Gemälde des mittelalterlichen Künstlers Pieter Bruegel, das den Turmbau zu Babel darstellte. Daneben war ein Foto mit Trümmern des World Trade Centers zu sehen. Das Erstaunliche war, dass sich die Bilder optisch sehr ähnlich waren. Die Botschaft war klar: Der Hochmut der Menschen aus der Geschichte vom Turmbau zu Babel wurde mit Gottes Gericht beantwortet. Das Attentat in New York ist folglich auch von Gott zugelassen worden, um vor dem Endgericht zu warnen. Nur so ließen sich die Menschen aufrütteln und für die rettende Botschaft des Evangeliums öffnen. Dieser Ansatz war für mich damals neu, jedoch ist es wahrscheinlich nicht überraschend, dass dieser Ansatz mich nicht lange getragen hat. Vielmehr entstanden eine Menge neuer Fragen: Leid als Gottes Megafon, das eine taube Menschheit mit Gottes Rettungsangebot erreichen soll - was für zynischer Glaube ist das? Welche düstere Gottesvorstellung liegt hier zugrunde? Und wie abgestumpft müssen Menschen sein, die in so einer Botschaft Hoffnung finden? Manchmal ist die Theologie der BILD wohl näher an der Wahrheit als die von so mancher Predigt.
Während des Geschichtsstudiums beschäftigte ich mich näher mit dem Nationalsozialismus und der Shoa. Dies verschärfte die Frage nach dem Leid für mich und forderte mich in einer tieferen Weise zum Nachdenken und Nachforschen heraus. Waren die Terroranschläge auf das World-Trade-Center für mich Auslöser einer Suche nach theologisch Tragfähigem, so wurde die Beschäftigung mit der Shoa die ultimative Belastungsprobe für alle theologischen Ansätze, die eine Tragfähigkeit beanspruchen. Nach dem Studium wurde dies für mich sehr konkret. Der als »Hitlerjunge Salomon« bekannte Jude Sally Perel überlebte die Shoa, da er seine jüdische Identität verbergen und sogar Mitglied der Hitlerjugend sein konnte. Vor einigen Jahren besuchte er die Schule, an der ich unterrichtete. Nach seiner Lesung meinte er, dass er keine Antwort auf die Frage kenne, warum Gott die Shoa zugelassen habe. Aber wenn jemand eine Antwort wüsste, dann könne man ihm gerne schreiben. Welcher theologischer Ansatz zur Begegnung der Leidfrage vermag also angesichts der Shoa zu bestehen?
Natürlich ist der Holocaust ein besonderes Beispiel und im alltäglichen Leben erleiden Menschen andere Dinge. Manches Leid lässt sich gut erklären und wir sehen einen Sinn darin. Manches Leid wird bewusst in Kauf genommen, es ist der Preis für etwas Wertvolles. Manchmal ist das Leben wie ein Muskel. Erst durch die Belastung kann etwas Gesundes heranwachsen. Es gibt Hürden, die wir nehmen müssen. Lernen, Wachstum und Fortschritt kosten uns etwas. Aber dann gibt es Krebs, Unfälle, Naturkatastrophen, Fehlgeburten, Vergewaltigung, Hungersnöte und eine Unzahl von Geschichten, bei denen wir alle wissen, dass die Welt so nicht sein sollte. Und es gab die Shoa, die in der Einzigartigkeit noch einmal heraussticht. Theolog:innen sprechen vom "originär Bösem", um diese Art von Leid zu fassen. Daraum soll es jetzt gehen. Hier entscheidet sich für viele, ob der christliche Glaube überhaupt nachvollziehbar ist. Was wir als Christ:innen hierzu zu sagen haben, ist bedeutungsvoll. Für mich kann der christliche Glaube seine Relevanz nur entfalten, wenn er angesichts des originär Bösen in der Welt sprachfähig ist. Und das ist eine sehr schwierige Aufgabe.
Es gibt theologische Erklärungsversuche für die Shoa, die man jedoch entschieden zurückweisen muss. Die Shoa war keine göttliche Strafe für Ungehorsam oder Unglauben. Es war auch nicht die Schuld der Jüdinnen und Juden, die den Nazis unterlegen gewesen wären. Letztlich verbieten sich aus meiner Sicht Erklärungen auf einer grundsätzlichen Ebene. Für die Shoa kann es keine Erklärung geben, die Gottes fehlenden Schutz für die Juden akzeptabel machen würde. Wer solch eine Erklärung dennoch versucht, dürfte sich den Vorwurf der Judenfeindlichkeit gefallen lassen müssen. Nichts könnte hier als theologische Rechtfertigung gelten, Gott kommt aus dieser Nummer nicht heraus. Es ist auch nicht so, dass uns bloß die Phantasie fehlt, um so eine Erklärung zu finden. Eine Erklärung ist uns nicht bloß unbekannt, es darf eine solche Erklärung nicht geben. Sie würde das Leid des jüdischen Volkes verspotten. Damit ist aber längst nicht alles gesagt. Vielmehr kann diese Erkenntnis ein Startpunkt für eine theologische Reise sein.
Nach dem zweiten Weltkrieg haben sich verschiedene Theolog:innen mit der Frage beschäftigt, wie man nach Auschwitz überhaupt noch von Gott reden könne. Der Völkermord an den Juden und Jüdinnen ist für die Theologie eine besondere Herausforderung. Hier wurde die Frage nach dem Warum zu einer lauten Anklage an Gott: Was ist das für ein Gott, der die Shoa tatenlos geschehen lässt? Insbesondere in der jüdischen Theologie wurde diese Frage durchdacht: Wie konnte es sein, dass die Juden als Volk Gottes einem Völkermord ausgesetzt wurden? Hatte Gott nicht versprochen, sich um sein Volk zu kümmern? Wie könnte man angesichts der Shoa noch von Gottes Treue sprechen?
Der jüdische Philosoph Hans Jonas hat dieses theologische Problem in einem berühmt gewordenen Vortrag mit der Überschrift »Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme« besonders eindrücklich in Worte gefasst.3 Er sprach davon, dass für den jüdischen Glauben der Holocaust schwerer zu begreifen sei, als für den christlichen. Für das Judentum sei diese Welt ausschlaggebend, während im Christentum die Hoffnung auf den Himmel mehr Gewicht habe. Wenn es aber auf dieses Leben ankomme und hier Gottes Erlösung, Gerechtigkeit und Schöpfungshandeln zu erwarten seien, dann stehe für den jüdischen Glauben alles auf dem Spiel, da nach Auschwitz Gott selbst in Frage gestellt werden müsse. Denn Gott könne nach Auschwitz nicht mehr als »Herr der Geschichte« angesehen werden.
Hans Jonas hat nun gezeigt, dass der Kern des Problems aus drei Aussagen besteht, die Glaubende über Gott bekennen wollen. Zum einen wollen wir Gott als absolut mächtig, dann als absolut gütig und als verstehbar glauben. Mich erinnert dies an das Dillemma mit Handwerker:innen. Von denen möchten wir auch, dass sie schnell, günstig und sorgfältig sind. Man wird in der Regel aber immer nur zwei dieser Eigenschaften antreffen. Sorgfältige Handwerker:innen sind meist nicht günstig und zusätzlich schnell. Schnelle Handwerker:innen sind entweder nicht sorgfältig oder nicht günstig. Man bekommt immer nur zwei der drei Eigenschaften. Im Bezug auf Gott scheint es ähnlich zu sein. Wir glauben, dass Gott gütig ist und daher Dinge wie der Holocaust nicht in seinem Sinn sind. Gott möchte das Beste für seine Schöpfung. Und wir glauben, dass Gott fähig ist, so etwas wie den Holocaust zu verhindern, weil...
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