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Wo bleibt bloß Brenner? Längst müsste er am Bahnsteig sein. Es ist immer das Gleiche mit diesem jungen Mann, man kann sich nicht auf ihn verlassen. Nietzsche schaut nach links, schaut nach rechts, kneift die Augen zusammen und versucht, etwas zu erkennen. Hier und dort stehen schemenhaft Gestalten herum, aber niemand bewegt sich auf ihn zu oder späht in seine Richtung. Er hatte damit gerechnet, dass der Student erst kurz vor der Abfahrt auftauchen würde, doch dass er sie verpasst, das irritiert ihn.
Eine Pfeife schrillt ohrenbetäubend, der Schaffner ruft mit lauter Stimme, man möge bitte einsteigen, der Zug fahre in Kürze ab.
Von Brenner noch immer keine Spur! Schade, sie hatten so lange geplant, die große Reise gemeinsam anzutreten. Ein letztes Mal blickt Nietzsche sich um und schüttelt verärgert den Kopf. Dann soll der Junge halt zusehen, wie er nachkommt. Und er selbst wird das richtige Abteil ohne die Hilfe des Studenten finden müssen.
Er folgt einem Mann bis zur offenen Tür des Waggons, tastet mit der rechten Hand nach der Haltestange, während er in der linken seinen Lederkoffer hält. Ein, zwei, drei Gitterstufen steigt er empor, bewegt sich im dämmrigen Innern vorsichtig vorwärts und wendet sich nach links in den viel zu dunklen Gang der ersten Klasse. Das nervös flackernde Licht blendet ihn und sticht ihm in die Augen. Vor jedem Abteil bleibt er stehen und reckt den Hals weit nach vorn, um konzentriert diese unverschämt kleinen Nummern zu entziffern. Wie sich diese unbequeme Haltung wohl auf Nacken, Kopf und Geist auswirken mag? Besser nicht darüber nachdenken.
Schließlich findet er das Abteil, das er gesucht hat, und öffnet mit einem kräftigen Ruck die Schiebetür. Stickiger Muff strömt ihm entgegen, wie unerträglich, er wendet sich ab und schnappt im Gang nach Luft. Dann grüßt er ins Dunkel hinein, doch niemand antwortet, auch nicht Brenner. Damit verfliegt seine letzte Hoffnung, den Studenten wenigstens hier anzutreffen. Zumindest hat er das Abteil ganz für sich allein.
Nietzsche wuchtet seinen Koffer ungelenk auf die Ablage über den Sitzen, wo dieser hoffentlich sicher verstaut ist. Prüfend zieht er am Ledergriff, um sich zu vergewissern, dass ihm das Ding unterwegs nicht auf den Kopf fallen kann. Schon stört jemand die ersehnte Ruhe, ein Schatten pocht von außen viel zu laut an die Fensterscheibe. Was soll das? Taub ist er schließlich nicht.
Jetzt winkt der Schatten auch noch wie wild, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Ja, so viel kann er trotz seiner stark kurzsichtigen Augen noch sehen. Doch das viele Lesen in dunklen Räumen hat keineswegs zu ihrer Besserung beigetragen. Im Gegenteil - inzwischen kann er kaum mehr seine eigene Schrift entziffern, muss nahezu alle seine Gedanken diktieren. Da ist der junge Jurastudent gerade recht gekommen, um ihm als Sekretär zu dienen.
Kurz darauf betritt Albert Brenner keuchend und schwitzend das Abteil und muss erst einmal durchschnaufen. Selbst schuld - warum taucht der auch immer und überall auf den allerletzten Drücker auf! Wenigstens ist er endlich da.
Er habe am falschen Gleis gewartet und bitte höflich um Entschuldigung. Mit zwei Koffern und einer Tasche voller Bücher könne man nun einmal nicht so schnell rennen, er schon gar nicht, wie der Herr Professor wisse. Gerade will er ausführlich werden, da ruckelt der Zug laut schnaubend los.
Während der Student seinen Koffer unter den Sitz schiebt und sich gedankenverloren ans Fenster setzt, wählt Nietzsche den abseitigen Platz in der dunklen Ecke des Abteils und zieht seinen Hut tief ins Gesicht. So muss er das lästige Laternenlicht nicht ertragen, das draußen in immer rascherer Folge vorbeihuscht. Auch nach einer Unterhaltung ist ihm nicht zumute. Vor allem will er sich auf seine Reise besinnen, auf all das Glück, das vor ihm liegt, wenn ihn das ständige Rattern nur nicht unablässig daran erinnerte, wie sehr man beim Bahnfahren der Erde verhaftet bleibt, mit Reisen hat so etwas nichts zu tun. Zwar kommt man rasch vorwärts, doch leider ist das in jedem Moment deutlich zu spüren. Wäre dieses Zugfahren nur nicht so ein unerquickliches Unterfangen! Dieses rastlose Rattern und Quietschen stört das Nachdenken ungemein, der Lärm dringt erbarmungslos durch das Gehör in das Gehirn, zieht und zerrt an jeder Nervenfaser. Wäre er doch nicht so empfindlich!
Schon verspannen sich seine Nackenmuskeln, vor den Augen zucken Blitze und ach, auch im Kopf. Es ist wieder so weit. Es beginnt, was sich eben ahnungsvoll angekündigt hat, da nützt selbst der Hut nichts mehr. In jeder Hirnwindung fängt es an zu rattern, von innen her gegen die Schläfe zu pochen, bald wird der Schmerz anfluten und sich, wie immer, in der gesamten linken Kopfhälfte breitmachen. Das war zu befürchten, das dürfte jetzt so weitergehen bis morgen Nachmittag, bis Genua, daran ist allein die verfluchte Eisenbahn schuld.
Immerhin bleiben ihm in Genua ein paar Tage, um sich von allen Qualen und Strapazen zu erholen, ehe er mit einem Schiff nach Süditalien weiterreisen wird. Eine Schifffahrt ist etwas ganz anderes, ein sanftes, wiegendes Reisen, als schwebte man auf Wolken seinem Ziel entgegen, viel ruhiger und bekömmlicher für die Gesundheit. Vielleicht hat er auch Glück, und es handelt sich lediglich um eine kurze Schmerzattacke, der er durch Schlaf oder einen Wachtraum entkommen kann.
In Sorrent wird alles besser werden. Wärme und Ruhe und sanftes Licht, die Nähe zur bewunderten antiken Kultur sollten ihm ausreichend Linderung verschaffen, seine Gesundheit wiederherstellen und die Unbeschwertheit seiner Kindheit zurückbringen. Er wird im Schatten der Pinienwälder spazieren gehen und am Abend ein gutes Essen unter Freunden genießen. Gemeinsam wird man lesen, diskutieren und philosophieren. Wenn alles so gut verläuft, wie es die Ärzte in Aussicht gestellt haben, wird er sogar eine Akademie für junge Geister gründen können. So ist es jedenfalls mit Fräulein von Meysenbug angedacht.
Wenn Brenner nur den Vorhang vorziehen wollte! Warum muss man den jungen Mann auf alles hinweisen? Ein wenig selbstständiger und umsichtiger könnte der schon sein mit seinen neunzehn Jahren. Was liest er denn da? Hoffentlich nicht wieder Plato! Aber das kann nicht sein, das Buch hat er ihm erst kürzlich aus der Hand gerissen und aus dem Fenster geworfen.
Hinter den Bergen geht der Mond auf und leuchtet Nietzsche direkt ins Gesicht. Es ist die Pest, ganz gleich, wohin er den Kopf dreht oder wie weit er den Hut hinunterzieht, das Licht strahlt gleißend in seine Augen.
Als wäre es damit nicht genug, springt die Tür zum Abteil knarzend auf. Erschrocken zieht Nietzsche seine Beine zurück. Eine vornehm gekleidete, doch leider ältliche Dame betritt das Abteil und zerrt stöhnend einen riesigen Koffer hinter sich her, gefolgt von einer deutlich jüngeren, wie erfreulich! Sie müsse sich unbedingt setzen, gibt die Ältere von sich. Man habe den ganzen Zug nach diesem Abteil abgesucht. Wie elend lang diese modernen Züge doch mittlerweile seien. Es reisten ja auch immer mehr Menschen durch die Welt, wo solle das noch hinführen?
Erstaunlich, wie eifrig und beflissen der junge Brenner aufspringt, um das Gepäck der Frauenzimmer in die Ablagen zu hieven, so schnell hätte er selbst beim besten Willen nicht reagieren können. Das sollte zuvorkommend und behänd aussehen, doch Brenner kann ein Hüsteln kaum unterdrücken. Sein Lächeln wirkt gequält, schon steigt ihm die Röte ins Gesicht, er hat sich übernommen.
Als die missglückte Vorstellung beendet ist, haben sich die Frauen auf die Fensterplätze niedergelassen. Eigentlich eine vorzügliche Gelegenheit für den Studenten, direkt neben dem Fräulein Platz zu nehmen - zu dumm nur, dass er das günstigere Billett gekauft hat, das ihn in die zweite Klasse verbannt. Nach der Hetzerei zum Zug hat er sich nur kurz ausruhen wollen und schlicht nicht mehr daran gedacht, jetzt muss er eben weichen.
Er wolle zunächst ohnehin nur bis Turin mitfahren, erklärt Brenner an den Herrn Professor gewandt, und werde erst später in Genua eintreffen, man sehe sich dort, wie besprochen, am Sonntag im Hotel.
Kaum ist der Student fort, lehnt sich Nietzsche in seinem Sitz zurück, streckt abermals die Beine aus und zieht seinen Hut demonstrativ ins Gesicht - die Ruhe muss verteidigt werden. Vielleicht wäre es besser, sich ein leeres Abteil zu suchen, aber wer weiß schon, ob nicht auch dort noch jemand auftaucht. Und solch eine Flucht würde sicher sehr unhöflich wirken.
Zum Glück schweigen die Damen. Allmählich entspannen sich Beine, Nacken und Nerven, selbst die Kopfschmerzen scheinen sich verflüchtigt zu haben. Ein treuer Freund ist dieser Brenner, trotz seiner Ungeschicklichkeit. Er kommt zwar selten zur rechten Zeit, doch ist er ein geduldiger Sekretär, nur ein wenig tölpelhaft in seiner Jugend. Liebenswürdig ist er auf jeden Fall, und Mitleid darf man mit ihm haben, eine...
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