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Wie stellt sich das Phänomen der unterschiedlichen Milieus dar?4
Zu einem besseren Verständnis der Problematik möchten wir zu Beginn die verschiedenen aktuellen Untersuchungen zu diesem Bereich darstellen. Wir setzen sie in Bezug zu den älteren Ansätzen von Pierre Bourdieu, Soziologe und Philosoph, auf den spätere Werke verweisen, und dessen Aussagen eine grundsätzliche Reflexion entfalten, um so die theologische Betrachtung zu erleichtern, die wir dann im folgenden Kapitel versuchen möchten.5
Was versteht man unter Milieus? Milieus sind Gruppen innerhalb der Bevölkerung, die sich durch gemeinsame Lebensbedingungen, Erfahrungen, Anschauungsweisen und ihre jeweilige Lebensart charakterisieren lassen. Diese Gruppen ähneln sich in ihrem Lebensstil, der durch ihre Bildung, ihr Einkommen, aber auch durch ihre eher moderne oder eher traditionelle Orientierung geprägt wird. Diese Lebensstile kommen in unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens zum Ausdruck: im Bereich des Sports und der Musik, im Bereich der Ernährung und Raumgestaltung, der Politik und der Sprache etc.6 Daher kann man auch von >Kulturen<, genauer noch von >Subkulturen<, innerhalb der europäischen Kulturräume sprechen.
Abbildung 1. Die Sinus-Milieus in Deutschland 2018. Soziale Lage und Grundorientierung. Quelle: SINUS-Institut.
Je weiter oben ein Milieu in dieser Graphik platziert ist, desto höher sind Bildungsniveau, Einkommen und Berufsgruppe seiner Vertreter. Je weiter rechts es sich befindet, desto moderner sind seine Vertreter in ihrer grundsätzlichen Orientierung. Zuerst werden von den Verfassern die eher gehobenen Milieus beschrieben: Konservativ-Etablierte, Liberal-Intellektuelle, Performer und Expeditive. Im Herzen der Gesellschaft macht man das Milieu der bürgerlichen Mitte aus, Sozialökologische und Adaptiv-Pragmatische. Im unteren Teil befinden sich die Traditionellen, die Prekären und die Hedonisten. Die Graphik macht deutlich, dass die einzelnen Milieus nicht strikt voneinander abgegrenzt sind, da es Überschneidungen und Übergänge zwischen benachbarten Milieus gibt.
Allerdings müssen dabei die Grenzen dieser Untersuchungen beachtet werden. Das Konzept der homogenen Milieus, selbst mit durchlässigen Grenzen, kann methodologisch Zweifel wecken. Die Menschen, die in die verschiedenen Milieus eingeordnet wurden, würden sich selbst nicht unbedingt mit den von den Soziologen verwendeten Begriffen beschreiben. Als solche bedeuten die Namen, die in den Untersuchungen verwendet werden, um ein bestimmtes Milieu zu beschreiben, nicht viel.18 Deswegen ist es wichtig, die Menschen nicht in bestimmte Schubladen zu stecken und sie nicht abzustempeln. Dazu kommt, dass die Untersuchungen verschiedene Voraussetzungen haben, je nachdem, wie sie die Menschen, die untersucht werden, verstehen: Geht es um den Menschen als Zielgruppe in einer Marktlogik, geht es darum, das einzelne Individuum zu verstehen, um mit ihm zu kommunizieren, oder soll der Mensch unter der aus der christlichen Tradition stammenden Perspektive der Nächstenliebe betrachtet werden?
Diese Beobachtungen zu den methodologischen Grenzen der Untersuchungen im Bereich der Milieus führen nicht dazu, sie nicht mehr zu gebrauchen. Wir werden es noch sehen: Diese Untersuchungen ermöglichen es, die Variationen im religiösen Verhalten unserer Mitmenschen besser wahrzunehmen und sich selbst mit seinen eigenen Grenzen besser einzuschätzen. Aber das Hauptaugenmerk dieses Buches liegt vor allem auf dem Faktum der Diversifizierung, auf dem Funktionieren der Unterscheidung durch Identifizierung und Distinktion, auf der Herausforderung, die diese Entwicklung für die Kirchen darstellt - mehr als auf der exakten Beschreibung eines bestimmten Milieus.
Wie sieht das Verhältnis der unterschiedlichen Milieus in Bezug auf die Kirchen aus? Im Rahmen unserer Ausführungen wollen wir uns auf die Sinus-Milieu-Studien der Jahre 2005 und 2012 stützen, die sich mit der Frage nach der religiösen und kirchlichen Orientierung unter Katholiken befasst haben, und auf die weitere Studie von 2012, die sich in detaillierterer Weise mit den evangelischen Kirchen in Baden-Württemberg beschäftigte. Themen wie der Sinn des Lebens, die Sicht auf die Welt, die Religion und die Kirchen, Gebrauch und Bedeutung der Bibel, das Bild von der Kirche, Sorgen und Forderungen an die Kirche wurden behandelt. Diese Motive lassen sich auch in der Unterscheidung der Lebensstile wiederfinden, so wie sie in der IV. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) vorgeschlagen wurde.26 Wenn wir die unterschiedlichen Ansätze kombinieren, resultiert daraus eine gewisse Ungenauigkeit in der Beschreibung. Wir werden dies in Kauf nehmen, umso mehr, da die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Milieus fließend sind und unser Ziel eher eine Beschreibung der Tendenzen als eine genaue Analyse der Milieus ist. Außerdem verändern sich die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen ständig, sodass eine zu genaue Beschreibung noch schneller überholt wäre.27
Wir beginnen unsere Beschreibung mit den, aus wirtschaftlicher und sozialer Perspektive betrachtet, gehobenen Milieus. Diese befinden sich nach ihrer Wertorientierung in der Mitte und im rechten Teil der Graphik, das heißt sie sind eher fortschrittlich.
Die gerade beschriebenen Milieus entsprechen dem von Soziologen als Entwicklung der Gesamtbevölkerung beschriebenen Bild. Man denke nur an Danièle Hervieu-Léger, die von einer »Religion in Bewegung«31 spricht, oder z.B. an die Beschreibungen der Individualisierung des Religiösen bei Hubert Knoblauch.32 Aber die Milieu-Studien zeigen, dass ein großer Teil der Gesellschaft nach einer anderen Logik lebt. Daher wollen wir nun die Milieus näher betrachten, die sich im linken Bereich der oben gezeigten Graphik befinden und in ihren Orientierungen eher traditionell ausgerichtet sind.
In der Studie kommt ein weiteres traditionelles Milieu vor, das, sozial und ökonomisch gesehen, eher benachteiligt ist: die Prekären. Einige seiner Vertreter gehören angesichts ihrer Haltung gegenüber den Kirchen auch zu den enttäuschten Kritikern. Unter ihnen befinden sich neben zahlreichen älteren Menschen auch kinderlose Paare oder Alleinstehende. Es handelt sich um die Unterschicht auf der Suche nach Orientierung und Teilnahme, mit vielen Ressentiments und Ängsten in Bezug auf die Zukunft. Das Hauptziel besteht darin, mit den Konsumstandards der Mittelklasse mithalten zu können, die als Ausgleich für die vielen Unannehmlichkeiten des Alltags angesehen werden. Das prekäre Milieu ist durch eine Perspektivlosigkeit in Bezug auf den sozialen Aufstieg gekennzeichnet. Während bisher die Ärmeren eher im unteren Bereich der oben dargestellten Graphik dargestellt waren, konzentrieren sie sich nun, was ihre Werteorientierung betrifft, in einem einzigen Milieu im Zentrum der Graphik. Dieser Lebensstil ist gekennzeichnet durch seine Distanz zu allen Kennzeichen der anderen Milieus. Man lehnt Geselligkeit ab und Kontakte mit den Nachbarn sind selten. Man mag volkstümliche Musik und ist im Bereich der Normen traditionell orientiert. Diese Gruppe neigt bei vielen Fragen zu einer mittleren Zustimmung, was man als Zeichen der Gleichgültigkeit deuten könnte.
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun den mittleren Klassen zu, die sich im Zentrum, nicht aber im oberen Bereich der Graphik befinden.
Betrachten wir nun die postmodernen Milieus, so stellen wir fest, dass Kirchen und Religion hier kaum präsent sind. Das Bild der Kirchen wird durch Klischees und die Medien bestimmt, ohne dass die Vertreter dieser Milieus eigene Erfahrungen in diesem Bereich gemacht hätten. Dazu kommt, dass diese Milieus Schwierigkeiten mit der Sprache und Ästhetik der Kirchen haben und dem deutschen System der Kirchensteuer kritisch gegenüberstehen. Seine Vertreter sehen in der Kirchenmitgliedschaft keinen Nutzen, wobei die Kirchen als rein funktionales Angebot in Konkurrenz zu anderen Einrichtungen gesehen werden. Trotzdem gibt es auch in diesen Milieus eine Bereitschaft, sich für einzelne Projekte zu engagieren. Man erwartet von den Kirchen Hilfe, die Kraft und Energie für die Anforderungen des Alltags...
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