Schweitzer Fachinformationen
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»Kinder, kommt ihr bitte! Wir wollen los! Till, Jan, der Bodensee wartet!« Es war ein sonniger Sonntag Ende März, einer der ersten schönen Tage im Jahr, an denen man versucht ist, die Winterjacken bis zum nächsten Herbst im Keller einzumotten. Doch hier im Hinterland des Bodensees weiß man, dass man dies frühestens im Mai machen darf, wenn auch die Sommerreifen auf die Autos gezogen werden. Es ist kaum vorstellbar, dass diese 20 Kilometer Entfernung einen solch großen klimatischen Unterschied ausmachen können. So ist es auch nicht verwunderlich, dass man an diesen ersten schönen Tagen jede Menge Sigmaringer, Tuttlinger und Rottweiler auf den Uferpromenaden des Überlinger Sees zwischen Ludwigshafen und Meersburg trifft. Auch ich plante mit meiner Familie den ersten Bodensee-Ausflug des Jahres, der uns traditionell nach Ludwigshafen führt, von wo aus wir am See entlang ins ruhigere, touristisch kaum erschlossene Bodman wandern. Wir hatten diesen Weg für uns entdeckt, als wir vor sieben Jahren mit dem Kinderwagen am See entlangspazierten. Damals war unser ältester Sohn Till gerade ein paar Monate alt. Drei Jahre später fuhr Till den Weg mit seinem Laufrad, und sein Bruder Jan wurde im Kinderwagen geschoben. Till war mittlerweile sieben und nahm sein Kickboard mit, während der dreieinhalbjährige Jan zum ersten Mal einen Ausflug mit seinem Fahrrad machen wollte. Er hatte das Fahrradfahren gerade erst gelernt und sauste schon wie ein Profi um die Kurven. Jan war ein kleiner Chaot. Vollkommen unerschrocken stürzte er sich in jede Gefahr. Mir blieb bei seinen Abenteuern regelmäßig das Herz stehen und ich dankte dem Universum jeden Abend dafür, dass er wieder einen Tag ohne größere Unfälle überstanden hatte.
»Denkt an eure Helme. Ich fahr schon mal das Auto aus der Garage! Alex, kommst du dann auch?« Mein Mann war vor einer halben Stunde im Arbeitszimmer verschwunden, nur um »noch mal schnell die Mails zu checken«. Das war nichts Neues für mich. In etwa zehn Minuten würde er mit einem Stapel Papiere unter dem Arm auf dem Beifahrersitz Platz nehmen und die Fahrt zum Arbeiten nutzen. Ich hatte Alex während des Studiums kennengelernt. Schon damals war er sehr ehrgeizig und zielstrebig gewesen. Während ich das Studentenleben in vollen Zügen genoss, büffelte er für Klausuren. Wir ergänzten uns hervorragend. Ich brachte Lebensfreude und Leichtigkeit in sein Leben, und er sorgte dafür, dass ich zwischen den Partys das Studium nicht ganz schleifen ließ.
Mit Picknickdecke und Wanderrucksack bewaffnet, öffnete ich gut gelaunt die Tür unseres Einfamilienhauses, um das Auto für den Sonntagsausflug zu beladen.
»Das ist ja ein Service! Man öffnet mir schon, bevor ich klingeln konnte. Hast du wieder hinter der Gardine gelauert, um die Nachbarn zu bespitzeln?«
Was war das? Das konnte, nein, das durfte nicht wahr sein! Jemand, der aussah wie meine Schwester Sibylle, stand direkt vor mir und versperrte mir den Weg ins Freie.
»Was ist denn los, Schwesterherz? Hat dir die Wiedersehensfreude die Sprache verschlagen?«
Doch, sie war es tatsächlich. Sie war den weiten Weg von Köln hierhergekommen, um mir meinen Sonntag zu versauen. Warum nur? Was hatte ich ihr getan? War das die späte Rache dafür, dass ich ihr als Kind einmal ihre Lieblingsbluse zerschnitten hatte? Dabei war das doch bloß Ausdruck meiner Enttäuschung darüber gewesen, dass sich meine große Schwester mehr für ihre Klamotten als für mich interessierte. War sie wirklich so nachtragend oder warum stand sie hier so plötzlich und unangekündigt vor meiner Tür?
Sibylle war drei Jahre älter als ich. Ich hatte sie stets für ihre traumhafte Figur und ihr stilsicheres Auftreten bewundert, doch für sie war ich immer nur ein lästiger Klotz am Bein – die kleine nervige Schwester, auf die man ständig aufpassen muss, die einem mit ihrem aufdringlichen Geplapper jedes Date vermiest. Dabei hatten wir uns früher richtig gut verstanden. Sibylle war stolz, endlich große Schwester zu sein. Sie sah in mir eine Verbündete gegen unseren Bruder Thorsten. Thorsten war zwei Jahre älter als Sibylle und piesackte seine kleine Schwester, wo er nur konnte. Er hatte nicht viel übrig für Sibylles Barbie-Welt. Thorsten war fünf, als ich geboren wurde, und der Star der Bambini-Fußballmannschaft. In unserer Heimatstadt Mönchengladbach wird einem der Fußball quasi in die Wiege gelegt. Unser Vater widmete sein Leben der Borussia. Er selbst war seit seiner Kindheit Vereinsmitglied, spielte als Erwachsener bei den Amateuren und trainierte verschiedene Jugendmannschaften. Thorsten war sein ganzer Stolz. Papa begleitete ihn zu jedem Training und natürlich auch zu allen Spielen. Samstagabends saßen die zwei einträchtig vor der Sportschau und fachsimpelten über die Spiele der Bundesliga. Damals war Sibylle sehr glücklich darüber, eine kleine Schwester zu bekommen. Doch als sie in die Pubertät kam, wurde sie richtig zickig. Mit einem Mal gab es für sie nur noch Jungs, Musik und Mode. Morgens blockierte sie stundenlang das Badezimmer. Sie sagte immer: »Wart’s mal ab. Bald interessierst du dich auch für Jungs, und dann zeig ich dir, wie man sich richtig schminkt.« Doch ich entwickelte mich irgendwie anders als sie. Bis heute brauche ich im Bad nicht länger als 45 Minuten, und das nur, weil ich allein 25 Minuten dafür benötige, meine langen blonden Haare zu trocknen. Bald verbanden mich mit Thorsten mehr gemeinsame Interessen als mit meiner Schwester. Für Sibylle war ich ein langweiliger Bücherwurm, mit dem man keinen Spaß haben konnte. Sie hingegen rockte auf jeder Party; mit 17 war sie kaum noch ein Wochenende zu Hause. Nachdem ihr die Discotheken im »Provinzkaff Mönchengladbach«, wie sie sich ausdrückte, zu langweilig wurden, fuhr sie mit ihrer Clique ins nahe gelegene Düsseldorf oder auch nach Köln. Hier lernte sie Stefan kennen. Seinem Vater gehörte eine große Kölner Straßenbaufirma, bei der er Sibylle nach ihrem sehr mittelmäßigen Abitur eine Ausbildungsstelle organisierte. Als Stefan nach seinem Ingenieursstudium in die Firma einstieg, hörte Sibylle auf zu arbeiten. Stefan verdiente mehr als genug. Gemeinsam lebten sie in einem stylischen Loft im Kölner Stadtteil Ehrenfeld und genossen auch nach 20 Jahren noch das Partyleben in vollen Zügen. Kinder wollten sie nicht – da waren sich beide einig. Auch geheiratet hatten sie nie – zu spießig für coole Lofties. Obwohl Stefan nun schon so viele Jahre quasi zur Familie gehörte, hatte ich ihn kaum mehr als ein Dutzend Mal gesehen. Zu Familienfeiern erschien Sibylle stets allein. Einmal hatte ich sie in Köln besucht, aber seit die Kinder da waren, passten wir so gar nicht mehr in die Welt der Schönen und Reichen. In meinem früheren Beruf als Produktmanagerin in der Medizintechnik erschien ich Sibylle noch einigermaßen vorzeigbar. Immerhin unternahm ich viele Dienstreisen und war irgendwie wichtig. Wenn ich eine der Medizintechnik-Messen in Düsseldorf oder Köln besuchte, trafen wir uns abends in einer der angesagten Bars in der Kölner Altstadt und schlürften einen Cocktail zusammen. Als Hausfrau und Mama hingegen passte ich in Sibylles Welt überhaupt nicht mehr hinein. Und so beschränkte sich der Kontakt zu meiner Schwester in den vergangenen acht Jahren auf kurze Anrufe an Geburtstagen. Ganze zwei Mal hatte ich sie gesehen, seit Till auf der Welt war: zum 60. Geburtstag unserer Mutter und zur Kommunion von Thorstens Tochter Sarah vor zwei Jahren. Dass sie nun leibhaftig vor meiner Haustür stand, war also mehr als eine große Überraschung für mich – es war ein Schock!
»Sibylle, hey, was für eine Überraschung!« Ich konnte ihr keine Freude vorspielen. Wozu auch? Sibylle hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie unsere Lebensweise spießig und unwürdig fand. Unsere Jungs waren schlecht erzogen und stellten eine Bedrohung für die zivilisierte Welt dar. Warum sollte ich mich also über ihren unangekündigten Besuch freuen? Einen Herpes heißt man ja auch nicht herzlich willkommen, wenn er einen morgens plötzlich im Spiegel angrinst.
»Komm her, Maxi, lass dich drücken! Filou, was soll denn das? Du musst nicht eifersüchtig sein. Mami hat dich doch immer noch am liebsten!« Sibylles Handtasche entwickelte plötzlich ein aufgebrachtes Eigenleben. Sie wackelte und rüttelte an ihrer Schulter wie ein außer Kontrolle geratener Vibrationsalarm eines Handys. Dazu kläffte die durchgedrehte Tasche in einem fort, und es war klar, dass es sich nicht um einen außergewöhnlichen Klingelton handelte, der diesen Aufruhr verursachte. Meine Schwester trug tatsächlich so ein kleines Paris-Hilton-Ding in ihrer Handtasche spazieren. Wer auch immer sich mit der Frage beschäftigt, was den Menschen mehr prägt, die Umwelt oder die genetischen Anlagen, der muss nur eine halbe Stunde mit meiner Schwester und mir verbringen. Wir sind in derselben Familie aufgewachsenen, im gleichen sozio-kulturellen Umfeld, hatten die gleichen Bezugspersonen und könnten unterschiedlicher nicht sein.
»Das ist mein Helm, du Blödi! Gib den her! Mamaaaa! Der Till gibt mir meinen Helm nicht. Der Pups!« Till und Jan rangelten im Abstellraum um einen Fahrradhelm, vermutlich, weil einer der beiden seinen Helm am Vorabend irgendwo draußen liegen gelassen hatte, statt ihn ordnungsgemäß an seinen Platz zu räumen. Nun wollte sich keiner auf Helmsuche begeben. Lieber stritten sie zehn Minuten, als in nur drei Minuten den fehlenden Helm draußen einzusammeln. Sibylles Augenbraue hob sich missbilligend angesichts der unflätigen Ausdrucksweise meines Sohnes, aber sie sagte nichts.
»Till, Jan, kommt mal her und sagt ›Hallo‹ zu eurer Tante Sibylle.«
»Hat die...
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