Schweitzer Fachinformationen
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Am 28. Februar 2000 schneit es über Berlin. Der Wind treibt den Schnee hoch und runter über den Hackeschen Markt und die S-Bahn-Gleise am Bahnhof. Unter den Gleisen ist ein Durchgang zur schöneren Seite Berlins, darin stehen Leute aneinandergedrängt, weil es so zieht und der Schnee bis hier reinweht, wo ohnehin schon alles nass ist. In der Straßenzeile gegenüber fällt ein altes, grünliches Haus auf, darin ist ein Fenster erleuchtet, dahinter ein Schreibtisch, daran eine Frau.
Diese Frau heißt Elisabeth Schlosser, und sie schreibt einen Brief.
Draußen schneit es und schneit. Die Menschen, die in dem S-Bahnhof stehen, zögern, das Pflaster zu betreten, sie halten sich eine Minute vielleicht oder zwei noch im Durchgang auf, sie warten, aber sie warten vergeblich, es schneit in Berlin, und es wird weiterschneien. Dunkel und wolkenverhangen wird Berlin sein in diesen Tagen, und die Frau oben schreibt und wird weiterschreiben, so wichtig ist ihr dieser Brief.
*
Liebe Sonja Trotzkij-Sammler!
Gestern in einer Buchhandlung konnte ich nicht anders, als ein gewisses, mir gänzlich unbekanntes Buch aufzuschlagen, von dem ich noch niemals gehört hatte, und wie sich herausstellte, enthält es den Roman Ihres Lebens.
Seit gestern mache ich nichts anderes, als dieses Buch zu lesen, und es versetzt mich in solche Aufregung, dass ich mir keinen anderen Weg weiß, als Ihnen mit einem Brief zu antworten, und dieser Brief wird, so fürchte ich, lang werden.
Denn es gibt einiges, was uns verbindet, und das sind nicht nur die grausigen Zeiten, die hinter uns liegen, die russischen Steppen und mährischen Wälder, nicht nur die Städte Prag, Wien oder Brünn, nein, es ist tatsächlich Familie und noch etwas anderes, wofür es gar keine Worte gibt, wie ich bisher glaubte, und wovon zu reden mir aus diesem Grunde bisher nicht möglich war, bis ich Ihren Bericht las, und der hat meine Zunge in einem Maße gelöst, wie ich es in diesem Augenblick noch nicht überschaue.
Nun also, wir kennen uns nicht und werden uns wohl auch so schnell nicht kennenlernen. Denn obwohl man heutzutage nur wenige Minuten braucht, um sich von einer beliebigen Stelle der Welt zu einer anderen hinüberwuchten zu lassen - was würde es uns helfen, einander gegenüberzustehen? Sie, eine Hundertjährige, und ich, nur halb so alt, also eigentlich noch jung, aber steif und festgefahren in meinen Gewohnheiten.
Wenn Sie wüssten, wie glücklich ich war, von Ihnen zu hören! Wenn Sie wüssten!
Ich las Ihren Bericht im »Café am Steinplatz« in Westberlin, und noch beim Lesen - ich war bereits an der Stelle, wo Sie sich mit Ihrem niemals sterbenden ewigen Geliebten Bruno Mlock in Gestalt eines Panthers in der Brünner Oper befinden und dazu hinreißen lassen, in den Gefangenenchor von Nabucco einzustimmen, und zwar auf Italienisch - da ließ ich das Buch sinken und sah in die Runde.
Es war nicht das erste Mal, dass ich in diesem trüben Café saß, das ja eine Attrappe ist, man sitzt in Wirklichkeit auf der Straße, denn es sind nur ein paar Glasscheiben um einen herum aufgestellt und eingerahmt - da sah ich also in die Runde, ich sah die Kellner an der Bar sich langweilen wie immer, und Buster Keaton auf dem riesigen Foto über dem Tresen sah mich noch genauso an wie bei meinem ersten Besuch hier im Westen, als ich meinen Reisepass alle paar Minuten erfühlte im Brustbeutel unter dem Pullover, ganz genauso sah er mich an, aber ich, mit Ihrem Bericht auf dem Schoß, konnte auf einmal mein ganzes Leben überblicken, alle Wege, die mich dorthin geführt hatten, dorthin, auf diesen Holzstuhl neben einer Glasscheibe, und dieser, mein neu gewonnener Rundumblick, kam wie eine Übelkeit tief aus dem Bauch, er hebelte mich regelrecht heraus aus diesem Etablissement - und nun sitze ich an der Schreibmaschine und wende mich an Sie.
Sonitschka! Ihr Sohn hat sich der Spionage ergeben. Weit weg von uns, in Tibet, mäht er das Gras und ruft Sie nicht an. Mein Sohn aber, Sonitschka, spricht nicht mehr mit mir. Er spricht mit den Kümmelkörnern auf den Brotkrusten, er krümelt sie ab, vertauscht sie und klebt sie in geheimnisvoller Reihenfolge mit Spucke wieder an.
Was kann man tun?
Wir beide, Sonitschka, unterscheiden uns in vielem, aber einiges verbindet uns, unter anderem das: Wir haben nicht viel Zeit. Von Kümmel allein kann kein Mensch leben, aber mein Sohn isst nicht einmal diesen. Und Sie, die Hundertjährige, befinden sich auf der Reise nach Zürich, wie ich gelesen habe?
Sonja, reicht Ihre Zeit dafür aus? Wie lange soll die Abwesenheit denn dauern, von Ihrer Vaterstadt Brünn? Sie wird Ihnen nicht hinterherkommen, fürchte ich.
Alles können Sie mir erzählen, und ich nehme Ihnen alles ab, alles, Bruno vor allem, den unsterblichen Liebhaber, den unsichtbaren, aber dass Sie Brünn verlassen wollen, das nehme ich Ihnen nicht ab.
Denn sehen Sie, sogar ich, so alt oder jung, wie ich bin, weiß doch genau, dass mein Großvater mit meinem Vater gleich hier um die Ecke in der Uhlandstraße so die Straßenseite wechselte, eines Sommertages, untergehakt liefen sie beide, mit Hüten auf den Köpfen, und sie hatten große Köpfe, die beiden, sehr große, ich habe sie beerbt und mir passt kein Hut auf Anhieb, und selbst wenn ich lange suche, passt mir doch immer noch keiner, so überquerten sie langsam die Uhlandstraße, wo ja sowieso kaum ein Automobil entlangfuhr, im Jahr 1930, und sprachen über mich, eine Tochter, und wie ich heißen sollte, und es war von Olga die Rede, Olga, jedoch geboren wurde ich erst viel später, vierzehn Jahre später!, und dreitausend Kilometer entfernt von der Uhlandstraße, und mein Name wurde Elisaweta. Aber glauben Sie bitte, auch zu diesem Zeitpunkt habe ich mich immer noch nach der Uhlandstraße gesehnt. Leider: ich wusste es nicht. Übrigens habe ich auch einen Eisenbahner in der Familie, so wie Sie.
In meinem Fall ist es der Großvater mütterlicherseits, der sein Leben lang nichts anderes machte, als mit der Eisenbahn zu fahren, und nicht mit irgendeiner, sondern mit der Transsibirischen Eisenbahn, er fuhr von Omsk bis Wladiwostok und von Petersburg bis Mandschukuo, allerdings nicht als Lokomotivführer wie Ihr Vater, sondern als Sicherheitsinspektor, aber davon später.
Aus mir selber ist kein Sicherheitsinspektor geworden, sondern eine Dramatikerin. Die Theater lassen sich meine Stücke geben und stopfen sie in die Ritzen ihrer undichten Heizungsleitungen, sie benutzen die Rückseiten meiner Texte als Schmierpapier und Unterlagen für ihre Plastikkaffeebecher, die sonst überall feuchte Ringe hinterlassen würden, aber kann das ein Grund sein, nichts mehr zu essen?
Gestern im »Café am Steinplatz« dachte ich: Ja. Alles ist ein Grund.
Denn alle Wege liefen da zusammen in einem Bündel von Wegen, und nun?
Sie ordnen sich von selber, sie begradigen sich von selber, wenn ich nicht aufpasse, fließen sie zusammen zu einem Strom, einer Schneise, einem lang gezogenen leeren Fleck!
Das ist es, was mich drängt und beflügelt zugleich - sie verschwinden! Wo ich sie gerade erst sah, Sonitschka, mit Ihrer Hilfe, und deswegen, bitte, seien Sie mein Zuhörer, denn nur Sie werden verstehen, was ich erzählen will.
So weit Elisabeth Schlosser in ihrem Zwiegespräch mit Sonja Trotzkij-Sammler, aber schon an diesem Punkt wurde Frau Schlosser unsicher und schrieb erst einmal gar nichts mehr.
Sie hatte ja das »Café am Steinplatz« längst verlassen und saß in ihrer eigenen Wohnung am Hackeschen Markt, in einem alten, grünen Mietshaus, das allen Veränderungen ringsherum zum Trotz sich gar nicht verändert hatte, seit der Krieg zu Ende gegangen war. Das grüne Haus war eines der wenigen hier, die nach wie vor nur gleichmäßig und grauenhaft verfielen.
Aus ihrer dritten Etage hatte sie einen Blick auf die S-Bahn-Gleise und alle die Züge, die in den S-Bahnhof Hackescher Markt einfuhren oder herausfuhren, und weil ihr das in der Regel genügte, um zu träumen, genügte es diesmal auch, und von ihrem Schreibtisch aus verfolgte sie die Züge und die Menschen auch, wie sie allein oder in Gruppen aus dem Durchgang unter den S-Bahn-Bögen rannten, schlurften oder hüpften, denn es war kalt draußen.
Was sollten solche Briefe? Sie konnte Frau Trotzkij-Sammler auch ganz einfach gratulieren zu ihrem Buch. Ein schönes, gelungenes Buch.
Der Schutzumschlag zeigte einen Mann neben einem Kinderwagen. Es war ein niedriger, rundlicher Kinderwagen mit kleinen dicken Rädern, wie sie in den vierziger Jahren modern waren.
Elisabeth Schlosser schlug das Buch an der Stelle auf, wo erzählt wird, wie ein gewisser Bruno aus der Wiener Leopoldstadt im Januar 1900 unter das Eis der Donau gerät und ertrinkt, ohne die Erzählerin kennengelernt zu haben, die zu diesem Zeitpunkt in Brünn gerade das Licht der Welt erblickt, aber als sie die Seite umblätterte und über den Rand des Buches sah, schlenderte unten eine Figur aus dem Bahnhof, die sie an jemanden erinnerte. Es war ein Mann.
Er blieb einen Augenblick stehen und schien sogar hochzusehen zu ihrem verkommenen grünlichen Haus, er schien auch zu frieren und zu überlegen, wohin, denn er schlug den Kragen hoch und strich sich sichtlich fröstelnd über den Kopf, aber dann sah man ein leichtes Zittern durch das Körperchen gehen, denn groß und stark war er nicht gerade, dieser Mann, er gab sich einen Ruck sozusagen, drehte sich um und verschwand wieder unter dem S-Bahn-Bogen.
Ob er nun zu der schöneren Seite der Innenstadt laufen wollte, zum Schloss und zur Spree also, oder die Treppen hoch zur Bahn und dann raus aus...
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