Schweitzer Fachinformationen
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Du hattest mir fest versprochen, dass ich heute eher gehen kann«, sagte Marie und sah ihre Vorgesetzte, die Leiterin des Kindergartens Sonnenschein, herausfordernd an. »Du weißt, wie wichtig der Termin für mich ist.«
»Das habe ich getan, bevor ich wusste, dass Biggi sich krankmeldet«, antwortete Judith und stieß einen Seufzer aus. »Das ist bereits der dritte Ausfall diese Woche. Wenn Ingrid morgen nicht wiederkommt, müssen wir auf Notbetreuung umstellen. Kannst du die Wohnung nicht an einem anderen Tag besichtigen?«
»Nein, das wird nicht gehen, es ist ein offener Besichtigungstermin«, entgegnete Marie enttäuscht. »Aber vermutlich hätte ich sowieso keine Chance gehabt. Zwei Zimmer für diesen Preis und in dieser Lage in Frankfurt, da kommen bestimmt Hunderte Interessenten. Wieso sollte der Vermieter ausgerechnet mich nehmen?« Ihre Schultern sackten nach unten. »Wenn das so weitergeht, werde ich vermutlich für immer in meinem Kinderzimmer versauern.«
»Jetzt lass den Kopf nicht hängen«, versuchte Judith Marie zu trösten. »Bestimmt findest du bald eine passende Wohnung. Hast du denn an unserem Schwarzen Brett endlich deine Suchanzeige aufgehängt? Oft ergeben sich die Dinge ja unter der Hand und nicht über offizielle Anzeigen.«
»Hab ich längst. Aber bisher hat noch niemand einen der Zettel mit meiner Nummer abgerissen oder mich darauf angesprochen«, antwortete Marie. »Es ist echt schade, dass das heute Nachmittag nicht klappt. Am Ende hätte mich der Vermieter doch genommen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Ich hab heute Morgen sämtliche Unterlagen eingesteckt. Einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis, perfekte SCHUFA-Auskunft, ich habe keine Haustiere, keine Kinder, ich rauche nicht, ich fahre kein teures Auto, sondern bloß ein klappriges Fahrrad. Eine bessere Mieterin kann sich doch niemand wünschen, oder?«
»Also gut«, lenkte Judith ein. »Ich rufe Susanne an. Eigentlich kann sie mittwochs nicht, aber vielleicht haben wir heute Glück.«
»Danke dir«, antwortete Marie erleichtert.
Eines der Kinder störte ihr Gespräch. Es war die fünfjährige Paula, eines der Vorschulkinder im Kindergarten Sonnenschein und für ihr Alter erschreckend reif und vernünftig.
»Marie, du musst schnell in die Gruppe kommen. Francesca verkloppt Martin mit einer der Puppen und schimpft ganz laut auf Italienisch.«
Alarmiert eilte Marie zurück in die Bärengruppe, die sie aktuell betreute. Dort war der kleine italienische Wirbelwind Francesca doch tatsächlich damit beschäftigt, Martin mit einer der Stoffpuppen zu verkloppen.
»Maria Donna!«, schimpfte sie dabei.
Sogleich ging Marie dazwischen.
»Francesca, hör auf!«, ermahnte sie die Kleine und nahm ihr die Puppe ab. »Du kannst doch nicht einfach Martin schlagen. So etwas macht man nicht.«
»Aber ich, er hat .« Mehr kam aus der kleinen, zuckersüß aussehenden Person nicht heraus, deren Kopf hochrot angelaufen war. Tränen der Wut standen in ihren Augen, und sie ballte die Fäuste. Francesca hatte langes dunkelbraunes Haar und große Augen, doch so niedlich sie auch aussah, ihr südländisches Temperament galt es nicht zu unterschätzen. Erst neulich in der Mittagspause hatte Biggi den zukünftigen Ehemann des Mädchens bereits bedauert. Der arme Kerl würde nichts zu lachen haben. Allerdings war es bis zur Heirat der Kleinen noch ein Weilchen hin, und in der Gegenwart musste dafür gesorgt werden, dass sie es unterließ, andere Kinder zu verprügeln.
»Egal, was Martin getan hat. Wir schlagen uns nicht.« Marie hob mahnend den Zeigefinger. »Hast du das verstanden?« Sie war vor Francesca in die Hocke gegangen und sah der Kleinen ernst in die Augen.
Die Miene des Mädchens war finster. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und streckte trotzig ihr Kinn vor. Einsicht sah definitiv anders aus.
Marie wollte noch etwas hinzufügen, kam jedoch nicht mehr dazu, denn zwei weitere Kinder kamen angelaufen, eines von ihnen hatte blutige Finger, was Marie alarmiert herumfahren ließ.
»Elli, um Himmels willen! Was ist passiert?«, rief sie erschrocken.
»Sie hat die Finger in den Kurbelspitzer gesteckt«, erklärte das begleitende Kind.
»Ach du je«, entfuhr es Judith, die just in diesem Moment den Raum betrat. »Ich sag's ja. Wir sind definitiv unterbesetzt. Komm, Elli, ich gehe dich verarzten.« Sie legte tröstend den Arm um das weinende Mädchen und führte es aus dem Raum. Maries Blick folgte den beiden, und in ihrem Inneren breiteten sich Schuldgefühle aus. Hätte sie wegen des dummen Besichtigungstermins nicht die Gruppe verlassen, wären Ellis Finger bestimmt noch heile. Wieso musste diese Wohnungsbesichtigung auch schon um fünfzehn Uhr dreißig stattfinden? Welcher Vollzeit arbeitende Mensch hatte denn so früh am Nachmittag Zeit?
»Ich nicht hauen wollte den Martin«, drang nun Francescas Stimme an ihr Ohr, sie klang plötzlich kleinlaut. »Aber er hat mich gezogen an Zöpfen.« Grammatik war noch nicht ganz ihre Stärke. Ihre niedliche Entschuldigung brachte Marie zum Schmunzeln.
»Ach, Liebes«, sagte sie und ging vor ihr in die Hocke. »Das weiß ich doch. Komm. Ihr sagt beide zueinander Entschuldigung. Und danach wird es Zeit für unsere Vorlesegeschichte. Magst du die heute aussuchen?«
»Au ja«, erwiderte die Kleine und konnte nun schon wieder lachen. »Die Glitzerfeen hätte ich gern.« Sie eilte zum Bücherregal und zog eines der Bücher heraus.
Eine Weile darauf war das Wunder tatsächlich geschehen, und Marie hatte vorzeitig gehen können. Gut gelaunt verließ sie die Kita und setzte, nachdem sich die Eingangstür hinter ihr geschlossen hatte, ihre Mütze auf. Ihr Notnagel, Susanne Ebener, sprang ein. Die gute Laune hielt jedoch nur kurz an, denn nun stand Marie im kalten Nieselregen vor ihrem klapprigen, mokkabraun gestrichenen Fahrrad und stellte missmutig fest, dass es einen Platten hatte und außerdem das Rücklicht kaputt war. Städtischer Vandalismus machte anscheinend auch vor einem runtergekommenen Fahrrad vor einem Kindergarten nicht halt.
»So ein Mist, jetzt muss ich mit den Öffis fahren«, fluchte sie. »Wenn ich Pech habe, komme ich deswegen zu spät. Was für Idioten.«
Einige Minuten später saß sie in der Straßenbahn und blickte auf die an ihr vorüberfliegende, in herbstliche Tristesse versunkene Stadtwelt, Regentropfen liefen an der Scheibe hinunter. Die Freude darüber, dass sie eher hatte gehen dürfen, war verflogen, und in ihr breitete sich wieder dieses Gefühl der Verlorenheit aus, das sie häufig empfand, seitdem ihr Verlobter Lukas sie wegen einer anderen verlassen hatte. Die dämliche Straßenbahn fuhr nun ausgerechnet durch die Gegend, in der sie früher gemeinsam gewohnt hatten. In einer kleinen ZweiZimmer-Dachgeschosswohnung, im Sommer kochend heiß, im Winter war ständig die Heizung ausgefallen. Aber sie war günstig gewesen, ihre kleine gemeinsame Insel in der Stadt. Noch letzten Sommer hatte sie mit Lukas an warmen Sommernächten auf dem Dach gesessen und bei einer Flasche billigem Rotwein Pläne für die Zukunft geschmiedet, gemeinsam die Hochhäuser von Mainhattan bewundert. Dann war der Sommer abrupt von einem kühlen September beendet worden, und sie hatte herausbekommen, dass es eine Christina in Lukas' Leben gab. Die makellos schöne Frau studierte ebenso wie er Literaturwissenschaften und Germanistik, langbeinig, schlank, perfektes, welliges, blondes Haar und eine gemachte Nase, wie Silke, Maries beste Freundin, abfällig angemerkt hatte. Die weltgewandte Christina, die Lukas so viel mehr geben konnte als die kleine Erzieherin aus Sossenheim. Monatelang hatte er sie mit ihr schon betrogen, dieser Mistkerl.
Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe der Straßenbahn. Geplatzt war der Traum von einem gemeinsamen Leben, es würde keine Reise nach Sri Lanka geben oder nach Norwegen, wo sie gemeinsam die Nordlichter hatten bewundern wollen. Fünf Jahre Beziehung, und nun stand sie vor einem Scherbenhaufen und musste sehen, wie sie ihr gebrochenes Herz wieder geflickt bekam.
Sie erreichte ihre Haltestelle im Frankfurter Stadtteil Bockenheim und stieg aus. Die Wohnung lag im fünften Stock eines modernen Mietshauses, in dessen Erdgeschoss sich ein großer Supermarkt befand, überhaupt reihte sich in der Straße ein Geschäft an das nächste. Es gab Restaurants, einen Floristen, eine Bäckerei, ein Friseurgeschäft und eine Pizzeria. Erste Schaufenster waren bereits weihnachtlich dekoriert. Das düstere Wetter passte ganz gut zum Fest. Schnee wäre noch nett, aber der war bei zwölf Grad plus nicht zu erwarten.
Marie steuerte auf den Hauseingang mit der Nummer fünfzehn zu. Davor hatte sich bereits eine recht ansehnliche Menschenmenge versammelt, was ihre Hoffnung, den Zuschlag für die Wohnung zu erhalten, schmälerte. Einige der Anwesenden sahen, im Gegensatz zu ihr, wie die perfekten Mieter aus. Ein Pärchen schien einer Werbeanzeige für die Deutsche Bank entstiegen zu sein. Der Mann trug einen teuer aussehenden Anzug, sie ein dunkelblaues Kostüm, ihre Figur war perfekt, nur mit dem Make-up hatte sie es etwas übertrieben.
Maries Blick fiel auf ihr eigenes Spiegelbild in der gläsernen Haustür. Sie trug ihren heruntergekommenen Übergangsmantel aus braunem Cord, den sie an zwei Stellen bereits geflickt hatte. Darunter eine Jeans von H&M, ein T-Shirt und die bunte, von ihrer Oma gestrickte Wolljacke, die die Kinder in der Kita besonders gern mochten. Ihre blonden Locken hatte sie hochgebunden, sie war ungeschminkt, und an ihrer Backe klebte mal wieder etwas Glitzer vom vormittäglichen Basteln. Vielleicht...
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