Schweitzer Fachinformationen
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Das Ruhrgebiet war früher mehr als heute von Bahnstrecken durchzogen, die bekanntermaßen Kohle und Koks, Stahl und Eisen zwischen den Förderanlagen und Fabriken hin und her transportierten. Für die Fördertürme und rauchenden Schlote war die Region so bekannt, dass meine Freunde meinten, ich würde künftig auf einem Schornstein leben, als ich vor 30 Jahren von Bayern nach Bochum zog. Manche denken das sogar heute noch, weil sie immer nur Urlaub in Mallorca machen und Bochum nicht einmal von der Landkarte kennen. Dabei war schon damals, in meinen ersten Ruhrgebietsmonaten, der Himmel über der Ruhr längst wieder blau, und meine Vermieter trockneten ihre Bettlaken im Garten, ohne dass sie anschließend schwarz waren. Wenn mich jemand auf Bergbau anspricht, denke ich als Erstes an das Bochumer Museum und den Bottroper Herbstwaldlauf, der jahrelang am Bergwerk Prosper-Haniel ausgerichtet wurde. Es ist eine Vergangenheit, die zu der Region gehört, schon deshalb, weil bis in alle Ewigkeit Wasser abgepumpt werden muss, wenn das Ruhrgebiet nicht als Seenplatte vermarktet werden soll. Etwa ein Fünftel der Region liegt infolge des Bergbaus unter dem Grundwasserspiegel. Wir haben hier also nur geliehenes Land, nicht viel anders als die Küstenbewohner hinter den Deichen im Norden.
Hin und wieder sackt die Erde ab, nicht lange nach meiner ersten Ankunft in Bochum wurde sogar ein kompletter PKW verschluckt. Das hat mich damals sehr beeindruckt. Niemand weiß eben so genau, an welcher Stelle wie viel und mit welchen Folgen im Ruhrgebiet gebuddelt wurde. Vielleicht leben eine Etage tiefer noch ein paar Unterirdische, die sich von Staub ernähren, es gibt hier so viel Überraschendes, da würde mich das nicht wundern.
Im Wesentlichen sind Bergbau und Zechen allerdings Vergangenheit, der endgültige Kohleausstieg wurde 2018 intensiv gefeiert und beweint. Deswegen sind die Kohle- und Koksbahnstrecken unnötig geworden. Weil wir aber im Zeitalter der Wiederverwertung leben, entstehen auf diesen Trassen zunehmend Radwege. Relativ steigungsarm und nach Möglichkeit kreuzungsfrei schlängeln sie sich abseits vom Straßenverkehr durch die Landschaft. Ein Glücksfall für Sportler und Umweltbewusste, die ihre Einkäufe gerne autofrei erledigen, sofern sie dabei nicht Gefahr laufen, von einem Laster überrollt zu werden.
Nun sind Bahntrassen, die sich zu Radwegen verwandeln, keine Erfindung des Ruhrgebiets: In ganz Deutschland und auch darüber hinaus haben sich die Menschen die ehemaligen Bahnwege zunutze gemacht, wäre ja auch schade um die wunderbar angelegten Verbindungswege. Knapp 5500 Kilometer Trasse verzeichnet die Internetseite Bahntrassenradeln.de bundesweit. Spitzenreiter im Trassenradeln ist Nordrhein-Westfalen, vor allem wenn man die in Planung befindlichen Strecken mit einrechnet. 1013 Kilometer sind es schon derzeit, doch sind 24 weitere Trassen geplant. Die Bayern sind zwar mit 1017 Kilometern eigentlich genauso gut ausgestattet, aber das verteilt sich im Freistaat auf weit mehr Quadratkilometer, so dass die Trassendichte in NRW deutlich höher ist. Außerdem kann ich aus meiner langjährigen Erfahrung mit den Lederhosenbesitzern sagen, da spricht keiner über Trassen. Im schönen Bayernland geht man sonntags auf den Krottenkopf oder die Zugspitze, man trifft sich am Tegernsee oder an der Isar. Sie können sich also beliebig oft und lange in Süddeutschland verabreden, ohne dass Sie dem Wort "Trasse" jemals begegnen.
Das ist im Ruhrgebiet anders. Wenn Sie nicht gerade ausschließlich Museen und Theater besuchen, wird es nicht lange dauern, bis Ihnen jemand einen Spaziergang oder eine Radtour entlang einer Trasse vorschlägt. Das liegt sicher nicht nur an den 1013 Kilometern, sondern auch daran, dass es im Ruhrgebiet sehr viele Menschen und erstaunlich viele Autos gibt, die auf zahlreichen Autobahnen und Straßen durch die Metropolregion sausen. Meistens lassen sich Fahrzeiten von A nach B nicht ermitteln, sondern die übliche Antwort lautet: "Das kommt darauf an, wie lang der Stau ist."
Zwischen den Autostaustrecken stehen viele Häuser, die oft zwar gut zu bewohnen sind, aber nicht gerade ein optisches Highlight darstellen, und dann natürlich noch ein paar Fabriken und die legendären Schornsteine.
In so einer Umgebung ist eine Trasse ein kleines Wunder. Grün gesäumte Wege, die verkehrsfrei durch die Region führen, wo Sie entlangbummeln und -rollen können, ohne dabei überhaupt noch zu wissen, ob Sie noch in Bochum oder schon in Hattingen oder Essen sind. Autos und Häuser sind nur die Kulisse hinter diesen Freizeitwegen, die Sie ungestört von Straßenlärm genießen können. Dieses Trassennetzwerk hat das Ruhrgebiet verwandelt, es hat den Menschen ihre tatsächliche Automobilität zurückgegeben, denn "auto", so erläutert es das weltweite Lexikon, ist ein "Wortbildungselement mit der Bedeutung 'ohne fremdes Zutun'"; sinnverwandt wäre "eigen" oder "selbst". Wir können uns selbst bewegen auf diesen Trassen, ohne Motor, zu Fuß oder strampelnd mit unserer Muskelkraft. Da sind wir also viel mehr automobil als mit der motorisierten Form, die uns als Auto bekannt ist. Der Mensch hat Vorfahrt auf diesen Wegen, nicht die Maschine. Dennoch dauerte es für mich eine Weile zwischen der ersten Trassenlaufrunde und dem Augenblick, als ich dachte: Das ist ja der Wahnsinn, das muss ich aufschreiben.
Zu den 1013 Trassenkilometern gehören natürlich auch winzige Versatzstücke, die noch keinen ganzen Ausflug rechtfertigen. Aber in Bochum gibt es mindestens zwei Bahntrassenradwege, an denen kein Bochumer vorbeikommt: Die Springorum-Trasse und die Erzbahn. In den gut 30 Jahren, die ich schon in Bochum verbracht habe, lebte ich zunächst im Ortsteil Stahlhausen, und seit ein paar Jahren bin ich im südlichen Bochumer Zentrum, im Teil eines Stadtteils, der als Ehrenfeld bekannt ist, zu Hause. Man kann in den Zeitungen lesen und unterdessen an den Mietpreisen erkennen, dass dieses Viertel mittlerweile als hip gilt. Das allerdings interessiert die bodenständigen Bewohner weniger als die Tatsache, dass es hier kurze Wege zum legendären Bermudadreieck, zum Bahnhof, zum Schauspielhaus und dem Supermarkt gibt. Der Unterschied zwischen meiner Wohnlage in Stahlhausen und der im Ehrenfeld lässt sich für mich vor allem daran festmachen, dass ich zunächst nahe der Erzbahn und nun nahe der Springorum-Trasse wohne. Die eine verbindet Bochums Mitte mit Gelsenkirchen und dessen Zoo, die andere reicht vom Bochumer Zentrum bis an die Ruhr. Mittlerweile gibt es auch ein Verbindungsstück zwischen Erzbahn und Springorum-Trasse, so dass die Radler ungestört von den Eisbären zu den Kanadagänsen rollen können oder umgekehrt und dabei noch an Sehenswürdigkeiten wie der Jahrhunderthalle und dem Museum im Schlosspark vorbeikommen. Wer dort noch nicht geradelt oder gelaufen ist, war eigentlich noch nicht wirklich in Bochum.
Die Springorum-Trasse ist nun also seit ein paar Jahren mein erweitertes Wohnzimmer. Diese Trasse ist bei mir um die Ecke, weil ich dort hingezogen bin, wo sie ist oder besser, wo sie gerade begann zu sein. Sie wurde Teil meines Lebens, ehe sie überhaupt fertiggebaut war, eine Verbindungslinie zwischen der Innenstadt und dem Stadtteil Weitmar, die so logisch ist, dass wir Bochumer dort gelaufen und spaziert sind, als Zäune und Absperrungen uns noch vorgaukeln wollten, das sei eine Baustelle und kein Weg. Die Bochumer ließen sich nicht aufhalten, es war einfach ein Wegstück, das uns gehörte, noch ehe es asphaltiert war, und danach gehörte es uns natürlich auch und erst recht.
Es ist nicht weit zur Trasse für mich, es sind 1000 Meter oder 950, genauer ist meine Uhr nicht. Eine kurze Steigung ist dabei. Als Höhenmeter lässt sich das kaum messen, es sind vielleicht acht oder zehn Meter, gerade so wie ein Deich an der Küste.
Bevor die Trassen zu Radwegen wurden, gab es eine Zeit, als sie nahezu vergessen waren - nicht mehr für den Bergbau nutzbar, aber auch noch nicht für den Touristen. In dieser Nicht-mehr-noch-nicht-Zeit waren sie verwunschene Trampelpfade, welche die Einheimischen kannten oder Hundebesitzer, die konnten dort mit ihrem Fiffi mal eben ins Gebüsch, und keiner prüfte, ob sie alles in Plastiktüten wieder mitnahmen, was er verdaute, wer ging da schon lang.
Unterdessen sind diese Rad- und Fußwege sympathische Falten in dem neuen Gesicht des Ruhrgebiets. Vorzeigeobjekte für die Touristenstadt und Urlaubsregion. Von der Innenstadt bis an die Ruhr sind es zehn Kilometer, die Autos auf Abstand, dafür kollidieren Rennradler mit Schlendernden, die die ganze Trassenbreite für sich beanspruchen. Läufer stolpern über Hundeleinen, und Kinderwagen werden von E-Bikes überholt. Im Großen und Ganzen funktioniert es aber, ist es friedlich und unfallfrei. Der Name Springorum-Trasse schien mir immer etwas sperrig, bis ich es in ein "Spring-da-rum" verwandelt habe, was mir deutlich passender erscheint. In Wirklichkeit ist Springorum allerdings ein bekannter Name in Bochum. Es gab ein Steinkohlekraftwerk in Weitmar, das zunächst Kraftwerk...
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