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Am 22. September 2008, dem Tag meines achtzigsten Geburtstags, verfasste ich gegen sieben Uhr abends den Brief, in dem ich meinen Selbstmord ankündigte. Es war kein typisch melodramatischer Abschiedsbrief voller Bedauernsäußerungen, Entschuldigungen oder selbstmitleidigem Gejammer, nein, ich ging es eher spielerisch an, der Brief sollte ein Geschenk zuallererst an mich selbst sein (ich muss zugeben, dass ich mich beim Schreiben amüsierte) und des Weiteren an meine alten Leser, für den Fall, dass man den Brief irgendwo veröffentlichen würde. »Alte Leser« deshalb, weil ich seit Ewigkeiten nichts mehr publiziert hatte und weil sie daher unweigerlich mit mir gealtert sein mussten.
Sagen wir's einfach so, der Brief war die letzte literarische Arbeit des Schriftstellers Pietro Rinaldi (Mailand 1928 - Genua 2008). Eines Schriftstellers von einer gewissen Geltung, wie ich hinzufügen möchte, zumindest bis zu seinem endgültigen Rückzug, der zu einem Zeitpunkt erfolgte, als er seine besten Zeiten hinter sich hatte, nämlich 1990 mit der Veröffentlichung seines Romans Leckt mich doch alle am Arsch. Das Buch war ein Flop.
Auf dem Titel hatte ich bestanden, der Verleger war dagegen gewesen, er hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, mich umzustimmen, aber ohne Erfolg, auch wenn er im Nachhinein betrachtet vielleicht nicht völlig unrecht hatte. Nur in Sachen Covergestaltung gab ich nach, dort hätte ich eigentlich gerne eine Hand mit hochgerecktem Mittelfinger abgebildet gesehen. Schließlich wollte ich sicherstellen, dass das mit dem Flop auch klappte (ja, der Misserfolg war tatsächlich geplant, denn dann würde man kein weiteres Buch mehr von mir haben wollen und mir damit den Vorwand liefern, das Schreiben endgültig an den Nagel zu hängen), aber um alle Eventualitäten auszuschließen, hatte ich im Vertrag noch zwei Zusätze untergebracht. Zum einen verbat ich mir jegliche Werbemaßnahmen für das Buch, die meine Anwesenheit erforderten. Zum anderen würde ich mich um keinen Literaturpreis bewerben (mit einem derartigen Titel hatte ich sowieso kaum Chancen auf den Premio Strega). Außerdem stellte ich klar, dass ich nicht die leiseste Absicht hegte, Bücher für Literaturkritiker zu signieren, zumal etliche dieser Typen in meinem Schlusskapitel Alle, die mir auf den Sack gehen namentlich aufgelistet waren. Das hatte logischerweise zur Folge, dass nur wenige Rezensionen erschienen, und diese wenigen waren mörderische Verrisse. In dem Schlusskapitel wurden übrigens auch Schriftsteller genannt.
Das einzige Zugeständnis an die Vermarktung meines Romans war gewesen, dass der Verlag Zeitungsanzeigen schalten durfte, was jedoch, wie ich später erfuhr, leider nicht gelang. Dass die Repubblica oder der Corriere della Sera eine Annonce auf die Titelseite druckte, die mit der Parole »Leckt mich doch alle am Arsch« warb, war zugegebenermaßen auch ziemlich unwahrscheinlich.
Hier also der Brief.
Morgen ist der letzte Tag meines Lebens: Ich bringe mich um. Ich leide nicht etwa an Depressionen, nein, ich bin buchstäblich lebensmüde. Dass ich diese Entscheidung nicht früher getroffen habe, hat verschiedene Gründe, deren vielleicht wichtigster meine Scheu gegenüber der Aufgabe ist, das Ganze zu organisieren. Und da ist auch noch die Furcht, wiedergeboren zu werden, man kann ja nie wissen. Der Gedanke, mit allem neu anfangen zu müssen, würde mir doch sehr missfallen. Ich möchte nicht nochmal losheulen müssen, weil mir meine Rassel runtergefallen ist. Oder in Mathe nicht vorbereitet sein, obwohl ich weiß, dass ich in der Schule abgefragt werde. Oder mich in Liebesqualen verzehren, weil meine Freundin mich verlassen hat, nur um mich zwei Jahre später nicht mal mehr an ihren Namen erinnern zu können. Wiedergeboren zu werden hieße, die Last des Lebens wer weiß wie viele Male schultern zu müssen, und das muss ich nicht haben, dazu bin ich nicht bereit. Ich ertrage es mit Mühe, ich selbst zu sein, wie wäre es erst, in der Haut eines anderen wiedergeboren zu werden, den ich noch nicht mal kenne, und der hätte dann zu vollenden, was ich unerledigt gelassen habe. Zum Beispiel leide ich unter Flugangst. So wie ich mein Karma kenne, würde ich im nächsten Leben wahrscheinlich Pilot und müsste einen Jumbojet fliegen. Darauf pfeife ich, ich will keinen Jumbo fliegen und auch sonst nichts, was die Lüfte durchpflügt. Außerdem bedeutet wiedergeboren zu werden ja auch, dass man ein weiteres Mal alt wird und stirbt. Nein, danke. Mir reicht es, einmal alt zu werden und zu sterben, und die Flugangst behalte ich solange. Sterben und dann für immer verschwinden.
Gewiss ist auch denkbar, dass wir nur einmal geboren werden und uns nach dem Tod die Ewigkeit erwartet. Wenn dem so ist, dann komme ich als Selbstmörder garantiert in die Hölle. Da das Leben ein Geschenk Gottes ist, kennt der Allmächtige da sicher kein Erbarmen - wenn einer seine Gabe zurückweist, schickt er ihn also geradewegs in die Hölle. Was für eine Mimose! Kann Gott wirklich so empfindlich sein? Aber wer weiß, wenn es wirklich nach den klassischen Regeln des Christentums geht, dann haben wir ein Problem. Nehmen wir mal an, jemand bringt sich um, nicht ich, irgendjemand. Eine Sekunde später steht er vor Gott, und der sagt: »Ab in die Hölle mit dir.« Das wäre keine schöne Nachricht. Ich stelle mir den Dialog wie folgt vor:
»Wie, in die Hölle?«
»Ich hab dich gewarnt, du wusstest es seit dem Erstkommunionskurs.«
»Ach komm, Gott, das geht doch nicht.«
»Und ob das geht. Was glaubst du, wie oft ich diese Reaktion schon gesehen habe, vor allem bei den Linken ... Die kommen hier an und sind völlig von den Socken. Ich habe dir das Leben geschenkt, und du hast es dir genommen, also kommst du in die Hölle.«
»Nicht doch, ich bitte dich ...«
»Jetzt kommst du mir mit Bitten! Zu spät.«
»Lass uns doch in Ruhe reden ... Ich habe mir das Leben genommen, okay, aber davon abgesehen, scheint mir, war ich kein großer Sünder.«
»Davon abgesehen? Du hast dich umgebracht, findest du das wenig?«
»Schon klar, ich habe mich umgebracht, aber ... Entschuldige mal, nur so aus Neugier, was ist eigentlich aus Pippo Pardieri geworden?«
Gott denkt einen Moment lang nach, dann sagt er: »Paradies.«
»Paradies? Das gibt's doch nicht! Der hatte doch alles Mögliche auf dem Kerbholz ... Schmiergelder, geheime Verbindungen bis in mafiöse Kreise, der hat diverse arme Schlucker übers Ohr gehauen, und außerdem, ich weiß nicht, ob dir das bekannt ist, er hat auch noch meine Frau gevögelt ...«
»Ich weiß, natürlich weiß ich das! Aber auf dem Sterbebett hat er Reue geübt.«
»Ach, großartig, auf dem Sterbebett hat er Reue geübt, aber nicht in meinem Bett, und was soll er bereut haben, wenn ich fragen darf - dass er meine Frau gevögelt hat?«
»Seine Reue war eher allgemeiner Natur.«
»Na klasse, dann leck mich doch am Arsch. Da macht einer jeden Scheiß, der ihm in den Sinn kommt, solange er's hinterher nur bereut ...«
»He! Immer sachte, pass auf, wie du mit mir redest!«
»Ach ja, warum denn, was hast du sonst mit mir vor? Mehr als in die Hölle schicken kannst du mich ja wohl kaum.«
»Es gibt Hölle, und es gibt Hölle.«
»Nein, im Ernst jetzt ... Also wirklich, Gott, willst du mir etwa weismachen, es gibt da Kreise wie in der Göttlichen Komödie?«
»Nein, Dante ist reines Geflunker, der hat sich das alles bloß ausgedacht. Den habe ich übrigens auch in die Hölle geschickt.«
»Du hast Dante in die Hölle geschickt, weil er die Göttliche Komödie geschrieben hat?«
»Die Göttliche Komödie hatte damit nichts zu tun. Es gibt da ein paar Dinge, die du nicht weißt, Sachen mit Beatrice, und überhaupt, wenn du gestattest, sind wir die Verfasser der Bibel, die verkauft sich übrigens wesentlich besser als Dante.«
»>Wir<? Ist das ein Majestätsplural?«
»Nein, ich sagte >wir<, weil wir die Bibel zu dritt geschrieben haben.«
»Zu dritt?«
»Klar doch, schon mal von der Heiligen Dreifaltigkeit gehört?«
»Also bitte ... Gott ... Du hast die Bibel zusammen mit Jesus und dem Heiligen Geist geschrieben? Ich fasse es nicht ... Dann gibt es also auch Luzifer, die Flammen und den ganzen Scheiß?«
»Nenn du es nur Scheiß.«
Auch ohne Flammen und Luzifer wäre eine Hölle denkbar: Sie könnte zum Beispiel darin bestehen, sich in alle Ewigkeit zu langweilen, und zwar allein. Das wäre tausendmal schlimmer als jede Strafe, die Dante sich ausgedacht hat. Merkwürdig, dass der sommo poeta nicht darauf gekommen ist, aber vielleicht erschien ihm diese Strafe fantasielos, zu naheliegend. Und doch, man stelle sich mal einen Menschen vor, der mutterseelenallein in der Einöde steht und nirgendwohin sonst kann, weil die Lage überall dieselbe ist, oder noch schlimmer, es gibt nur einen einzigen Ort, und dort leidet er weder Hunger noch Durst, weder Kälte noch Hitze, nur eine unermessliche, endlose Langeweile. Wäre das nicht tausendmal schlimmer, als in Strömen von Blut zu schwimmen oder in stinkendem Schlamm festzustecken oder von wilden Hündinnen verfolgt oder von Harpyien zerrissen zu werden? Sicher, gewaltige Felsbrocken hin und her schieben zu müssen, und das für immer und auch außerhalb der üblichen Arbeitszeiten, dürfte eine furchtbare Mühsal sein, aber ich würde es einer ewigen und gelangweilten Einsamkeit doch vorziehen....
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