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In den folgenden Monaten suchten die beiden Männer unermüdlich nach Antworten auf das Rätsel, das sie beschäftigte. Robert Lepetit verließ das Kloster und richtete sich im Haus des Arztes ein, sehr zum Ärgernis der Juden, die nicht verstanden, was er im Judenviertel zu suchen hatte. Schließlich wurde der Vorsteher der Gemeinde persönlich in der Calle de la Estrella vorstellig, um mit Don Ezequiel zu reden und ihm deutlich zu machen, welches Unbehagen sein Verhalten bei seinen Nachbarn hervorrief.
»Er ist mein Patient«, entgegnete der Arzt.
»Aber das verpflichtet dich nicht, ihn bei dir aufzunehmen.«
»Es ist mein Wunsch.«
»Er ist ein Christ.«
»Na und? Ich behandle jeden Tag Christen, und du treibst Handel mit ihnen.«
»Aber ich nehme sie nicht in meinem Haus auf und beleidige so meine Nachbarn mit ihrer Gegenwart.«
»Jeder sollte sich um seine Angelegenheiten kümmern und die anderen in Frieden lassen.«
Der Vorsteher ging, doch er schwor sich, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen und den Rat einzuberufen, damit dieser den Ungläubigen des Viertels verwies. Der Arzt kam zum ersten Mal ins Zweifeln, seit er vor einigen Wochen diesen Mann bei sich aufgenommen hatte, der ihn so sehr beschäftigte. Vielleicht war seine Entscheidung voreilig gewesen. Sein Gast war eine beunruhigende Erscheinung, und mehr als einmal war dem Arzt der Schreck in die Glieder gefahren, wenn dieser plötzlich in der Küche oder seinem Arbeitszimmer stand. Allerdings hatte er keinen Grund zur Klage. Der Mann hielt sein Zimmer sauber und verließ dieses nicht, wenn Don Ezequiel aus dem Haus ging, so dass nicht einmal die Frau, die sich um den Haushalt kümmerte und das Essen kochte, Gelegenheit hatte, ihm zu begegnen. Außerdem war er ein maßvoller Esser und trank ausschließlich Wasser. Die Stunden jedoch, die sie gemeinsam damit verbrachten, der Bedeutung des Gänsespiels auf den Grund zu gehen, alle Möglichkeiten durchzuspielen, Bücher und Karten zu konsultieren und sich über theologische Fragen zu unterhalten, entschädigten ihn reich für die feindselige Haltung der Nachbarn. Nur einer von ihnen teilte ihr Geheimnis.
Yucé Tob kam so oft wie möglich, und immer nur abends, um Gerede zu vermeiden. Der frühere Lehrer langweilte sich, seit man ihn wegen seines Alters durch einen Jüngeren ersetzt hatte. Diese heimlichen Treffen taten ihm gut, sie weckten seine Neugier. Genau wie sein Freund Don Ezequiel beschäftigte er sich gerne mit allen möglichen Fragen, selbst wenn es um ein so unorthodoxes Thema wie Aberglauben ging, der jeder Grundlage entbehrte. Die drei Männer saßen bis tief in die Nacht zusammen, die Fensterläden fest verrammelt wie Verschwörer, während sie alle möglichen Hypothesen aufstellten, von den naheliegendsten bis hin zu völlig abwegigen.
Robert Lepetit verachtete die Juden, aber diese beiden gelehrten Männer betrachtete er nicht als solche. Es war viel Zeit vergangen seit seinem Studium an der Hochschule von Nôtre-Dame de Paris, als alle ihm eine glänzende Zukunft voraussagten. Lange war es her, seit er ein Gespräch geführt hatte, das seiner Intelligenz und Bildung entsprach. Diese beiden Alten wirkten nicht wie Juden, zumindest nicht wie jener Typ Jude, wie er ihn sich vorstellte. Er hatte die beiden sogar schätzen gelernt: die beharrliche Zielstrebigkeit seines Gastgebers, die phantasievolle Improvisationsgabe des Lehrers. Die beiden ergänzten sich perfekt. Er hatte den Arzt gebeten, bei ihm wohnen zu dürfen, weil er ihn brauchte, um das Geheimnis des angeblichen Spiels zu lüften - falls es ein solches Geheimnis gab. Aber es gab noch einen wichtigeren Grund: Es war gefährlich für ihn, noch länger in dem Benediktinerkloster zu bleiben. Früher oder später würde ihn jemand erkennen. Gab es ein besseres Versteck als das Judenviertel, das durch eine Mauer von den Christen getrennt war? Niemand würde auf die Idee kommen, ihn an einem solchen Ort zu suchen. Außerdem hatte er kein Geld, um anderswo unterzukommen.
Er war fasziniert von dem Rätsel, das er in Händen hielt. Die Sache mit den Zahlen war mühselig für ihn, da er sich nie für Mathematik interessiert hatte und nichts von den Syllogismen des Aristoteles verstand. Er begriff nicht, wie man durch Zahlen die Botschaft des Alten Testaments deuten sollte, aber irgendetwas war an der Sache dran. Yucé Tob hatte eine Tafel mit dem Wert und der Bedeutung der Zahlen besorgt. Ihr zufolge war die vollkommenste und heiligste Zahl die Zehn, die Tetraktys des Pythagoras, weil sie die Summe der ersten vier Zahlen 1, 2, 3 und 4 war und weil eins plus null in der Quersumme eins ergab: die Schöpfung, Anfang und Ende aller Dinge. Sein Staunen kannte keine Grenzen, als die beiden Juden herausfanden, dass der griechische Name Jesu der Zahl 2368 entsprach, deren Quersumme neunzehn ergab, also neun plus eins, und dies wiederum ergab zehn, und dies wiederum eins. Das konnte nicht nur Zufall sein.
»Und die 666?«, fragte er die beiden verblüfften Männer. Ohne ihre Antwort abzuwarten, sprach er weiter: »Wer Verständnis hat, berechne die Zahl des Tieres, denn es ist eines Menschen Zahl. Und seine Zahl ist 666.«
Es war nicht das erste Mal, dass er aus der Offenbarung des Johannes zitierte. Auch während seines Kreuzzugs gegen die Katharer in Nordfrankreich und seiner Wanderung auf dem Pilgerweg nach Navarra hatte er sich häufig darauf berufen. Seine Predigten hatten erreicht, dass die Gläubigen ihm und seinen zwölf Bettelbrüdern Obdach und Essen gaben und zudem seine Börse füllten.
»Die Sechs ist die Zahl Gottes, denn sie entspricht dem Buchstaben >Waw<, Verbindung zwischen Zukunft und Vergangenheit«, erläuterte der Lehrer. »Sechs Tage währte die Schöpfung, sechs sind die Buchstaben, mit denen die Heiligen Schriften im Hebräischen beginnen, sechs Jahrtausende sind es seit der Schöpfung, sechs Himmelsrichtungen gibt es - oben, unten, Norden, Süden, Osten, Westen -, sechs Flügel haben die Seraphim, sechs Zacken hat der Davidstern und sechs Seiten die Bundeslade.«
»Es ist die Zahl Satans, ohne jeden Zweifel«, betonte Lepetit.
»Mit Verlaub, aber ich bin nicht Eurer Ansicht«, beharrte Yucé Tob.
Robert Lepetit sah ihn wütend an, sagte aber nichts. Von einem Juden war nichts anderes zu erwarten.
»Es gab eine Zeit, in der ich mich mit dem Buch der Christen beschäftigte«, fuhr der Lehrer fort, ohne auf die empörten Blicke zu achten, die ihm der Gast seines Freundes zuwarf. »Ich habe es aufmerksam gelesen und tatsächlich zahlreiche Zitate und Bezüge auf unsere Thora gefunden, was nicht verwundert, bedenkt man, dass Euer Messias und seine Jünger gleichfalls Juden waren.«
»Wollt Ihr mich beleidigen?«
»Nichts liegt mir ferner. Ich wollte lediglich sagen, dass ich die Offenbarung des Johannes natürlich ebenfalls gelesen habe, allerdings im griechischen Original. Dabei fiel mir an der von Euch erwähnten Stelle etwas auf. Ich hatte es ganz vergessen, aber Ihr habt mich wieder daran erinnert.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?« Der ehemalige Inquisitor horchte auf.
»Das Wort >Bestie< - also Tier - bedeutet im Griechischen nicht grausam oder wild wie im Lateinischen, sondern übernatürlich, wundersam oder außergewöhnlich.«
»Wollt Ihr damit sagen, die Heiligen Väter hätten den Text verfälscht, als sie ihn übersetzten? Oder dass der heilige Johannes Satan als >außergewöhnlich< bezeichnete?«
»Eine Übersetzung ist nur eine Übersetzung, und ein- und dasselbe Wort kann in zwei verschiedenen Sprachen etwas anderes bedeuten. Vielleicht bezog sich der Autor nicht auf Hashatan, den irregeleiteten Spion Gottes auf Erden, wie wir Muslime glauben.«
»Worauf sollte er sich sonst beziehen?«
»Ich weiß es nicht, aber ich erinnere mich nicht, dass er die Bestie mit dem Teufel gleichsetzte. Und noch etwas: In der griechischen Version, die ich las, war die Zahl des Tieres nicht 666, sondern 616. Deren Quersumme ergibt dreizehn, und eins plus drei ist vier.«
»Und?«
»Die heiligste Zahl der Kabbala ist die 26, der Name Yahwes. Zwei plus sechs sind acht, und acht ist das Doppelte von vier. Die Vier wiederum ist nach der Zehn die wichtigste Zahl in der Theorie des Pythagoras. Findet Ihr das nicht sonderbar?«
»Zufälle.«
»Das Universum besteht aus den vier Grundelementen Feuer, Erde, Luft und Wasser. Vier Kardinalpunkte gibt es, vier Mondphasen, vier Säulen der Erde. Und vier christliche Evangelien«, schloss der Lehrer, stolz auf seinen Scharfsinn.
Robert Lepetit dachte nach.
»Ihr besitzt nicht zufällig ein Exemplar des Neuen Testaments?«, fragte er schließlich, an Don Ezequiel gewandt.
Dieser schüttelte den Kopf, während er auf das halbe Dutzend Bücher sowie einige Schriftrollen deutete, die sorgfältig auf einer großen Truhe gestapelt lagen.
»Vielleicht .«, sagte der Lehrer zögernd, dann verstummte er.
»Besitzt Ihr eines?«, drängte Robert.
»Nein, aber ich kenne jemanden, der uns eines beschaffen könnte. Ich fürchte allerdings .«
»Was? So sprecht schon!«
Er musste unbedingt an eine Ausgabe kommen. Er musste noch einmal die Offenbarung des Johannes lesen. Er erinnerte sich nur an einige Textstellen, die er in seinen Predigten immer angeführt hatte, um seine Zuhörer einzuschüchtern, aber er wusste, dass in dem Text Zahlen und Ziffern vorkamen, Zeichen für jene, die sie zu deuten wussten.
»Mein guter Freund fürchtet, der Preis, den...
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