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Leichtfüßig und wortgewaltig spaziert die Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff mit uns durch Hölle und Himmel. Die Hauptrollen in ihrem Roman spielen die größte Komödie der Weltliteratur, das Seelenheil von 34 Dante-Gelehrten und ein anrührender Erzähler, so sehr um Bodenhaftung bemüht, dass ihm ein Wort wie »Wunder« nicht leicht über die Lippen kommt.
Der Ort ist prachtvoll, die Stimmung aufgeräumt: Renommierte Dante-Gelehrte aus aller Herren Länder tagen im altehrwürdigen Saal der Malteser auf dem römischen Aventin, mit Blick auf den Petersdom. Im Mittelpunkt steht die Göttliche Komödie, Dantes realismusgetränkter Einblick in die Welt nach dem Tod. Einer der eifrig Debattierenden ist Gottlieb Elsheimer, Frankfurter Romanist und nach eigener Einschätzung eher ein Kandidat fürs Fegefeuer als fürs Paradies. Bei aller Leidenschaft für den Forschungsgegenstand scheint ihm das zunehmend ausgelassene Verhalten der Kollegen seltsamer und seltsamer. Als die Kirchenglocken das Pfingstfest einläuten, bahnt sich ein Ereignis unbegreiflicher Art an .
Nein. In meinen Kindertagen ja, seither nein. Dieses Nein will betont sein, denn es bedeutet etwas, es bedeutet sogar viel. In meinen Kindertagen war ich fromm, faltete die Händchen beim Zubettgehen, wie meine Mutter es von mir wollte, und hängte die Kleider ordentlich über die Stuhllehne, weil Jesus nachts kam und schaute, ob alles in schöner Ordnung am rechten Platz lag. Dann, in der Pubertät, setzte der große Kritikschub ein, und mit der Frömmigkeit war's mit einem Mal vorbei.
Ist es etwa gerecht, daß an so vielen Orten der Welt die Menschen auf übelste Weise verrecken, daß sie verhungern, vergast, erschossen, erschlagen, aufgeschlitzt oder gefoltert werden bis zum Wahnsinn, daß sie ohne ärztliche Hilfe den schlimmsten Krankheiten ausgeliefert sind? Und Gott schaut einfach zu? Von Seinem Eingreifen ist jedenfalls nichts bekannt. Und eine mehr als vage Hoffnung auf ein Paradies, in dem alle Schmerzen abgetan sind und die gereinigten Seelen sich des ewigen Lebens erfreuen - kann ein erwachsener Mensch, der seine Tassen im Schrank hat, das wirklich ernst nehmen? Einen derart verzweifelt naiven Trostwunsch?
Meine Kinderseele war immer gerecht gewesen, und das Gerechtigkeitsgefühl, der Zorn über die katastrophalen Zustände in den armen Ländern der Welt, hat mich nie verlassen. Allerdings ist in meinem späteren Erwachsenenleben der Zorn einer schlappen Mutlosigkeit gewichen. Der Schnarchsack da oben senkt auch bloß die Lider. Nein, ich ändere die Welt nicht, wie ich in einer grandiosen Aufwallung der Selbstüberschätzung geglaubt hatte. Als edlen, uneigennützigen Kommunisten sah ich mich, als einen Superhelden der Armen und Geschlagenen, der ihnen durchaus nicht nur mit Geld und guten Worten zur Seite stand, sondern mit der Kalaschnikow im Arm, die ihre Peiniger Mores lehrte. Überflüssig zu erwähnen, daß ich von meinen häuslichen Brot- und Fleischmessern abgesehen nie Waffen in der Hand hatte, und mit diesen Messern habe ich bloß friedliche Brotscheiben abgeschnitten und Fettstücke vom Steak getrennt, sonst nichts. Friedlich nach außen, im Inneren sieht's kriegerisch aus, selbstzerfleischend. Obwohl ich inzwischen zweiundsechzig Jahre alt bin und eigentlich ziemlich abgebrüht sein müßte. Was vor wenigen Tagen in Rom geschah, hat jedoch alles über den Haufen geworfen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Als hätte eine fremde Person meine Körperhülle gekapert und in ihr Platz genommen.
In meinen tumultreichen Pubertätsjahren, schwankend zwischen Hochgefühlen, die weit über das hinauszielten, was meinen Fähigkeiten zuzutrauen war - siehe Kalaschnikow -, und einem morosen Kleinmut, der mich tagelang als pickelbesäten düsteren Burschen durch die Gegend schleichen ließ, wußte ich natürlich nicht, wie es um mich stand, was meine Person im Innersten zusammenhielt und was davon nach außen hin vielleicht wirken mochte. Ich wußte rein gar nichts über mich, nur daß ich in meinen Tagträumen der tapfere Retter war und ziemlich groß geraten bin, wovon schon meine Schuhe Zeugnis ablegen, denn ich trage Größe 46. Einmal hat man mir gesagt, meine Augen seien kornblumenblau.
Heute lagert die Kalaschnikow in einer Spinnwebkammer mottenzerfressener Träume, und das Wissen über mich selbst ist wieder auf einige ziemlich unerhebliche Fakten zusammengeschrumpft. No sports lautet meine einzige Devise, frei nach Churchill, den ich verehre. Jetzt ist alles anders. Was davor geschah, wer ich davor gewesen sein mag, hat keine Bedeutung mehr. Der bisherige Gang meines Lebens erscheint mir so fade und unbedeutend, als hätte ich nie wirklich existiert.
Natürlich kenne ich meinen Namen, weiß, daß ich den Beruf eines Universitätsprofessors ausübe, der es als Dante-Gelehrter zu einigem Ansehen gebracht hat, allerdings innerhalb einer sehr überschaubaren Gemeinde. Ich weiß auch, wo ich wohne, und ich kann mich erinnern, daß ich sechs Jahre verheiratet gewesen bin, Jahre, auf die ich mit gemischten Gefühlen zurückblicke. Aufgewachsen in Stuttgart-Sillenbuch, ansässig in Frankfurt, verheiratet von 1982 bis 1988, geschieden, keine Kinder, so der Status, wie er in meinen staatsbürgerlichen Urkunden ausgewiesen ist. Gottlieb heiße ich, ein Name, der mir immer etwas peinlich war. In meiner Generation gibt es ihn selten. Auf der Schulbank wäre ich lieber als Max oder Hans oder Peter gehockt. Gottlieb hieß mein Großvater väterlicherseits, der im Krieg in Rußland verschollen ist. Ich sollte als mein eigener Großvater wieder aufleben, was mir schon als Kind unheimlich vorkam, weil auf diesem Großvater ein seltsamer Schatten lag.
All das ist jetzt unwichtig, das Unterste hat sich zuoberst gekehrt. Vorher - Nachher, das verbindet sich nicht mehr. Vorher führte ich das Leben eines Professors, der sich einbilden durfte, seine Studenten würden ihn verehren und erheblich jüngere Frauen sich für ihn interessieren. Vorher war mein Denken geprägt von einem modernen zeitgenössischen Realismus, down to earth, mit allenfalls im Schlaf winzigen Traumaufflügen in eine andere Sphäre.
Jetzt nicht mehr. Der Kongreß hat alles verändert. Bis in die Haarwurzeln hinein fühle ich mich als ein anderer, mir fremd gewordener Mensch. Vorher war ich nicht ganz so dünn, wie ich es inzwischen bin. Jetzt schlottern Hemd und Hose um meinen knochigen Leib. Wäre ich ein armer Landarbeiter, müßte ich mir die Hose mit einem Strick um den nicht vorhandenen Bauch binden. Noch etwas: ursprünglich waren meine Haare schwarz, ich habe das kräftige Haar der Mutter geerbt. Inzwischen ist mindestens die Hälfte davon grau, mag sein, daß der noch immer recht stattliche Schopf mit einer gewissen Plötzlichkeit ergraute - als eine der vielen Folgen des Vorkommnisses, auf das ich nach und nach zu sprechen kommen werde.
Vorkommnis, das Wort nimmt sich sonderbar aus, besonders in seiner genitivischen Form, aber ich wähle diesen nüchternen, aus dem bürokratischen Vokabelreservoir entlehnten Begriff mit Absicht. Doch wozu? Zu wem um Gottes willen spreche ich hier? Zu einem Leser? Lächerlich! Warum sollte ich irgend jemanden in diese Geschichte einweihen? Wozu sollte ich ihn ohne Vorbereitung, die ihn darauf einstimmen könnte, was geschah und wie es geschah, mit dem einzig passenden Begriff Wunder konfrontieren und ihn damit lesend über die Kante schubsen oder vielmehr vor die Alternative stellen, das Buch entweder sofort zuzuschlagen oder meinen Aufzeichnungen mit allzu treuen Hundeaugen Satz für Satz zu folgen?
Buch, Buch, Buch - wie albern! Ohnehin habe ich gar nicht die Kraft, alles in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Ich glühe inwendig und bin zugleich völlig ausgelaugt, eine schlechte Voraussetzung, um etwas Gescheites zu Papier zu bringen.
Wunder, das paßt auch nicht zu meiner Haltung in politischen und religiösen Angelegenheiten. Aus der Kirche bin ich zwar nicht ausgetreten, trotz meiner Abkehr von Gott und Jesus in der Pubertät - vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht weil ich das soziale Engagement meiner Kirche gutheiße. Aber in meinem Erwachsenenleben habe ich nur zweimal einen Gottesdienst besucht, anläßlich einer Taufe, das andere Mal, als Bekannte von mir kirchlich heirateten. Dann noch drei kirchliche Beerdigungen. Das war's. Ein Verächter der Bibel bin ich allerdings nicht. Im Gegenteil. In einer wissenschaftlich distanzierten Weise halte ich große Stücke auf das Buch der Bücher, was von einem Dante-Kenner auch nicht anders zu erwarten ist.
Wunder in seinem radikal emphatischen Sinn nehme ich ungern in den Mund. Es ist mir zu groß. Wenn ich Wunder sage, komme ich mir verloren vor. Ich bin zu ängstlich, zu sehr um Bodenhaftung bemüht, als daß mir so ein epiphanisches Entfaltungs- oder, abschätzig gesagt: Blähwort mir nichts, dir nichts über die Lippen käme. Vielleicht fühle ich mich nicht würdig genug, es überhaupt in den Mund zu nehmen. Vielleicht hat es für mich einen albern prunkenden Beigeschmack, wer weiß.
Vorkommnis also. Ein Vorkommnis übrigens, das - nimmt man die Tage hinzu, bevor es sich in seiner Blüte zeigte - ziemlich unspektakulär begann, jedenfalls nicht mit einem Paukenschlag oder einer sonstigen Bemerklichkeit, über die sich einer von uns hätte den Kopf zerbrechen müssen. Bemerklich war höchstens die Tatsache, daß sich alles in Rom zutrug und nicht in Florenz oder Ravenna, wo es aus gutem Grund auch hätte beginnen können.
Rom, natürlich Rom. Die Hauptstadt des christlichen Weltreichs. Das glanzvolle Rom. Das verkommene Rom. Das in den Augen Dantes durch unwürdige Päpste herabgesunkene Rom, das die Einheit Italiens verhinderte. Dennoch sind die Herrschaftswelten von Papst und Kaiser hier verbunden, damit ist Rom die vom Irdischen ins Jenseitige weisende Stadt, sei sie nun verderbt oder erstrahlend im Glanz. Und nicht zuletzt ist es das mythische Rom des Vergil. Haben sich die Strebungen unseres Unbewußten vielleicht nach Rom gesehnt, damit geschehen konnte, was geschah? Damit wir in Hörweite der Glocken des Petersdoms tagten, die zu uns herüber- und zugleich hinauftönten in höhere Sphären?
Unsere Geschichte, meine Geschichte, meine Not, sie beginnt in Rom, oder vielmehr - man möge mir die etwas aufgebockte, in andere Sphären zielende Wortwahl verzeihen - sie begab sich zu Rom, nicht irgendwann, nicht irgendwie, sondern zu Pfingsten im Jahre 2013. Präziser gesagt: in dem Moment, da die Glocken des Petersdoms einsetzten, um das Pfingstfest einzuläuten. Was auf dem Aventin geschah, ist so irrsinnig, daß es mein Hirn bewimmelt. Ich denke pausenlos daran, wofern ich nicht wie ein Scheintoter ins Bett falle und für einige Zeit alles...
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