Schweitzer Fachinformationen
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Wohin, bevor einer mich sieht. Wie ich hier im Parterre herumstehe, inmitten von Studierenden, die alle irgendwohin schlendern, zu einem Hörsaal, einem Seminarraum, lachend und quasselnd die Treppen hoch. Und ich, hallo, Frau Behrmann, was machen Sie denn hier, muss nirgends hin. Zwei leere Stunden. Ich könnte nach Hause, dann zurückkommen. Den ganzen Vormittag Auto fahren, wegen denen. Oder hoch ins Büro und jedem sagen, der mich sieht: Noch ist das hier mein Platz. Im Flur dann die Kollegen, die es eilig haben und geradeaus gucken, nach unten gucken, ganz in Gedanken, haben zum Grüßen keine Zeit, kurzer Blick aufs Handy, ein Stirnrunzeln, schon ist man vorbei. Vorbei an mir. Und im Vorzimmer die Truschke. So ein Vorzimmer, ein Logenplatz in dem ganzen Theater. »Na, Frau Behrmann, das ist ja eine schlimme Sache . und wenn ich das so sagen darf, ganz dünn sind Sie geworden!« Die Truschke kriegt jetzt Kuchen in den anderen Sekretariaten: »Na, Angela«, so heißt sie doch wirklich, Angela Truschke, »erzähl mal, was macht die, wie sieht die aus, die Behrmann?« Also nicht ins Büro. Also schnell in die Kapelle, durch die einzige Tür, die keiner öffnen wird außer mir heute. Schwer in den Angeln. Schon deshalb sitzen hier nie Studierende, schon deshalb ist das hier nicht einfach nur ein leerer Raum.
Und rein, Tür zu.
Hinsetzen.
Durchatmen. Erst einmal durchatmen. Es ist kalt hier, den Mantel behalte ich an. Heute Mittag, in zwei Stunden, die Entscheidung. Unvorstellbar, eigentlich, dass die mich entlassen. Seit Gründung hat die Maximilian-Universität Wien keinen Professor, keine Professorin entlassen. Man entlässt nicht mal eben eine Professorin. Aber jetzt, nach dem, was im Standard stand, Psychischer Missbrauch an der Uni Wien, scheint es möglich. Und ich bin die Ahnungslose. Ich, die diskret blieb, immer, nie herangetreten bin an die Presse, nicht ich. Psychischer Missbrauch! Selina, meine Doktorandin. Dass das von ihr kommt. Selina, perfekt geschminkt, roter Lippenstift: Ich wurde psychisch missbraucht. Wie kommt man auf so was. Dass eine Zeitung das abdruckt, nur weil sie es so sagt. Und Peter nicht zu erreichen die ganzen Tage, bis gestern seine E-Mail in meinem Postfach landet. Peter, der Vize-Rektor. Bei jedem Piep, die Pieperei habe ich angestellt, sehe ich nach, habe ich früher nie gemacht, so kann man nicht arbeiten, und dann sehe ich endlich eine Nachricht von ihm. Ich kann ein Zittern nicht verhindern, öffne sie, denke, das ist jetzt, das wird jetzt der Richterspruch, das Urteil sein, zumindest angedeutet. Bereite mich vor auf Erleichterung, den tiefsten Punkt erreicht und durchschritten, ja, und halb auch auf das Gegenteil, aber nur halb. Ich kann immer noch nicht glauben, dass die das ernst meinen, lese: »hallo miriam, kannst du morgen um 09:00, dann werden wir entschieden haben.« Wir. Ein neues Wir, zu dem ich nicht gehöre. Entschieden haben über mich. Also heute Morgen, die Entscheidung, deshalb bin ich ja hier, überpünktlich, niemand soll sagen . Aber dann Peters Nachricht vor zehn Minuten, ich steige gerade die Treppen hoch Richtung Sitzungsraum. Es strengt mich an, das Treppensteigen. Das Handy hat schon im Auto gepiept, aber ich, ich schaue nicht nach, denke, das ist Tom, Tom mit irgendwelchen aufmunternden Worten, mit Ich liebe Dich, was ich nicht lesen will, nicht jetzt. Aber dann, Gott sei Dank, schaue ich doch noch nach, es könnte ja am Ende was sein mit dem Termin: »miriam, wir beide vertagen uns auf 12:00 zum Lunch, ich teile dir dann alles mit. hoffentlich erreicht dich das noch rechtzeitig.« Nein, hat es nicht. Aber immerhin Lunch, man verkündet keinen Rausschmiss beim Lunch. Wenn die mich kündigen, ist es aus mit mir. Ganz und gar aus. Ich bin die Treppe wieder runter, schnell, damit keiner mich sieht: Aha, die also schon hier, hat es nicht abwarten können. Nachher glauben die noch, dass ich Einfluss nehmen will, dass ich nicht weiß . Peters neues Wir, dass ich das nicht mitgekriegt hätte.
Dass Peter Rektor werden will, das hat er mir ja selbst gesagt, damals noch. Was heißt damals, weniger als ein Jahr ist das her, wir sind beide beim Lunch beim Italiener, wie jeden Dienstag. Wir mögen keine Mensa, diese schnellen Arbeitsessen im Lärm. Kantinengeschmack, das ist nichts für uns, für Peter und mich. Stattdessen: weißes Tischtuch, bauchige Weingläser, die Gewissheit guten Essens. Wir sitzen wie immer ums Eck, ich auf der Bank, Peter auf dem Stuhl, lächelnd. Manchmal betrachtet er meinen Hinterkopf im Spiegel, meinen Dutt, meine Dienstagsfrisur. Peter bestellt den Wein, meistens weiß, den er kostet, genüsslich, mit einem Nicken.
Klaus hat mal wieder Sonderdrucke verteilt, Peter grinst, mitten in der Fachbereichssitzung. Er dreht den Wein im Glas. Hatte mit der Tagungsordnung gar nichts zu tun. Stell dir vor, Sonderdrucke, in welchem Jahrhundert leben wir denn!
Mit mir redet Peter, wie er sonst nicht reden kann. Wir lächeln uns an, wir wissen, was jetzt kommt. Mit seiner Unschuldsmiene fragt Peter: Was hat Klaus Stirn . Pause . im Gehirn? Peters Mundwinkelgrinsen, genüsslich, unsere Komplizenschaft, wir heben unser Weinglas. Kollege Stirn, Klaus, hat keine einzige Publikation mit Peer-Review, nur Anthologien und ein Bäuchlein mit Weste. Cordhose. Aber er nennt sich Stern, auf seinen Sonderdrucken: Klaus Stern. Klaus Stern, Collective Moral Decisions - From shared responsibility to responsible sharing. Klingt gut, ist aber Bullshit, sagt Peter. Als Klaus anfing, auf Englisch zu publizieren, erzählt Peter - als Letzter im Fachbereich übrigens, lässt sich sein Zeug wahrscheinlich übersetzen -, da hieß er plötzlich so: Stern. Angeblich war das ein Tippfehler. Die Kollegen in der Sitzung steckten den Sonderdruck ein wie immer, als hätten sie gar nichts gemerkt, nur ich, sagt Peter, habe damals nachgefragt: Heißt du jetzt Stern, oder was? Und Klaus ist um keine Spur verlegen: Die Amis halt, wegwerfende Handbewegung, joviales Lachen, Stirn kennen die ja nicht, also Stern, na, mir soll's recht sein. Seitdem Peter mir das erzählt hat, ist Klaus dienstags immer ein Tischthema von uns. War immer ein Tischthema von uns. Klaus Stern, also wirklich. Sollte ich mal Rektor werden, sagt Peter, und, Miriam, das erzähle ich nur dir im Vertrauen, wird es für Leute wie Klaus ein bisschen enger.
Klaus Stirn, das Bäuchlein, sitzt gleich mit Peter am Tisch, in Peters Vize-Rektoratsbüro, berät sich mit ihm und den anderen, sie alle beraten über mich. Klaus Stirn als Selinas neuer Doktorvater. Oder haben die das auch verschoben, das Gespräch über mich? Müssen die vorher noch was klären? Was der gerechte Umgang mit mir wäre? Das haben die doch tatsächlich geschrieben, im Standard: Kampf für den gerechten Umgang. Unermüdlich gegen Miriam Behrmann - das zumindest stimmt. Peter, dass der bei seiner Brillanz Rektor werden will, zum Forschen kommt man dann ja nicht mehr, das hat mich schon gewundert, aber weiter habe ich mir nichts dabei gedacht. Nach Peters zweiter Nachricht bin ich die Treppe runtergerannt, nicht gegangen. Immerhin, falls mich einer sieht, gut angezogen bin ich ja. Haare dreimal gewaschen. Nach den letzten Tagen, die ich einfach die ganze Zeit im Schlafanzug ungewaschen im Haus geblieben bin, wozu anziehen, wozu waschen, gekocht und geputzt habe, das ja, der Putzfrau freigegeben, niemand sollte mich sehen, außer Tom, aber sonst, sonst nichts gemacht habe, da war das nötig, das dreimal Waschen. Hochgesteckt, ein paar Strähnen fallen locker in die Stirn. Geschminkt. Mein rotes Jackett. Wie zum Berufungsvortrag. Noch gebe ich nicht auf. Tom mit seinem besorgten Gesicht, dem kurzsichtigen, vorsichtigen Blick: Nein, aber übernimm dich nicht. Hält mich im Arm, jeden Abend sein ruhiger Herzschlag. So ein zarter Mann, und muss vor nichts Angst haben, nie. Wenn ich in den Sitzungsraum gekonnt hätte, vor sie hintreten, wie vereinbart um 09:00, nichts hätte man mir angemerkt. Aber dass die das verschieben, so kurz davor. Und ohne Ortsangabe. Dass nur noch Peter mit mir sprechen soll, nicht mehr sie alle. Peter, du kennst die Behrmann am besten, bring du ihr das bei. Aber dann stünde es ja schon fest: das Schlimmste. Und Peters Nachricht, die zweite, nur »miriam«, ohne »hallo«, und keine Entwarnung, kein: »vorweg: es kommt nicht zum schlimmsten.« Nein, hoch ins Büro, das kann keiner verlangen. Ins Café, aber mir ist nicht nach Café, und hier um die Uni herum, so nahe, da begegne ich denen noch, und wie die mich nicht anschauen würden, so als wäre ich nicht da, und mir würde der Nacken wehtun vom Nichthinsehen. Noch mehr wehtun. Also sitze ich hier, in der Kapelle, die keine ist, aber niemand sagt Hörsaal, alle sagen Kapelle. Sogar auf Programmen, bei Konferenzen, immer: Tagungsort Kapelle. Dabei mag ich entweihte Räume nicht. Bis zur Unwirksamkeit verdünnt bleibt das Kirchliche im Raum. Allein schon die Fenster, aber auch, vor allem vielleicht, die Luft. Kalt, sehr kalt, und diese Ahnung einer Ahnung von Weihrauch. Kein wirklicher Geruch, aber trotzdem. Und vorn die Wand, an der das Kreuz gehangen hat. Wenn man sich nur ein bisschen auskennt, sieht man, wo das hing. Man sieht gewissermaßen das Nichtmehrhängen des Kreuzes wie einen Fehler in der Statik. All die Sonntage, als Kind, als Jugendliche. Das schreibt sich ins Gedächtnis, auch wenn man andenkt dagegen, seit Jahrzehnten andenkt dagegen, den Gedankenmüll, den religiösen, abgetragen hat, eine Tonspur, eine Geruchsspur, Gewohnheit des Auges, das bleibt. Die Kapelle sei doch schön. Für Tagungen, Ansprachen, Vorträge. Das bunte Licht auf den Steinfliesen. Sonst ja nicht. Sie haben ganz recht, Frau Kollegin, für die Lehre wird sie ja...
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