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Mein Vater war eins von nur zwei Kindern, die in dem kalten, harten Herbst 1939 in der schmucklosen Klinik von Old Buckram geboren wurden. Das andere, ebenfalls ein kleiner Junge, lebte nicht lange genug, um einen Namen zu bekommen oder um seine Seele zu retten. Es wurde von seiner Mutter auf einem Berghang in der Nähe beerdigt, als der Boden noch warm genug war, dass sie ihm ein Grab schaufeln konnte. Ohne einen Pfarrer, ohne dass die Kirchengemeinde ein Lied sang. Als Grabstein, wenn man ihn denn als solchen bezeichnen wollte, diente lediglich ein großer glatter Flusskiesel. Dort wurde es zur letzten Ruhe gebettet, nur mit dem stummen Gebet der Mutter an einen abwesenden Gott, die darum bat, Er möge dem Kind die Sünde vergeben und es gütigst im Himmel aufnehmen.
Old Buckram, wo diese Geschichte beginnt, ist ein graues abgeschiedenes Städtchen in den Appalachen, in der nordwestlichsten Ecke von North Carolina gelegen. 1799 betrug die Bevölkerungszahl 125; 1939 war sie auf 400 gestiegen. Die Straßen und Bürgersteige sind meist leer und verwaist. Die wenigen Läden - eine altmodische Eisenwarenhandlung, ein Futtermittelladen, eine Schuhmacherei, ein Café, ein billiges Textilgeschäft und die Werkstatt eines Grabsteinmetzes - können nur mit Müh und Not überleben. In den dunklen Wintertagen, bevor der erste Schnee fällt, schließen sie früh. Eine Bahnstrecke führt durch die Stadt, aber Züge kommen schon seit Jahren nicht mehr hindurch. Es ist ein Ort mit kleinen roten Backsteinkirchen, einfachen Gebäuden mit einem einzigen Versammlungsraum, die über die Hänge und kleinen Täler verstreut sind. Ein Ort, an dem man an einen Gott glaubt, der lebendig, aber zugleich weit weg ist. Ein Bestattungsunternehmen bringt fast alle Toten unter die Erde. Old Buckram ist aber auch eine Stadt der Gespenster und des Aberglaubens. Hier gibt es die Teufelstreppe, den Schlangenzungenfels und den Abaddon Creek, der bei der Überschwemmung von 1916 tatsächlich ein Ort des Verderbens wurde und eine ganze Familie in den Tod riss. Oberhalb des Flusses, am Stadtrand, liegen die Barrowfields, auf denen aus irgendeinem mysteriösen Grund nichts wächst außer grauem Moos, das über Felshügel und versteinerte Baumstümpfe kriecht, die die gläubigeren Stadtbewohner für Grabsteine aus einer Zeit vor unserer Zeit halten. Andere behaupten, vor tausend Jahren sei ein mächtiger Windstoß über die Berge gefegt, habe alle Bäume ausgerissen und alles Gute aus dem Erdreich fortgetragen, sodass nie wieder etwas darauf gewachsen sei. Fast alle glauben, der Boden sei verhext. Niemand würde auf den Gedanken kommen, sich dort zum Picknick hinzusetzen.
Wenn überhaupt einmal bekannt war, wie die Familie meines Vaters nach Old Buckram kam, dann sind die Geschichten längst von den gnadenlos verrinnenden Jahren und Jahrzehnten zum Verstummen gebracht worden. Mein Großvater, dessen Taufname Helton war, erzählte mir einmal, dass die Asters irgendwann im 18. Jahrhundert aus dem Norden zugewandert seien, über die Great Wagon Road, die von Pennsylvania zum Piedmont in North Carolina verlief. Unsere Vorfahren hätten vermutlich zu den ersten Siedlern auf diesem rauen, unwirtlichen Land gehört. »Was beweist, dass sie nicht die Hellsten waren«, sagte er.
Sie waren arm, bettelarm, wie fast alle in den Bergen, doch mit harter Arbeit und Entschlossenheit schafften sie es, sich eine einigermaßen würdige Existenz aufzubauen. Mein Großvater nahm jede Arbeit an, erledigte sie ehrlich und sorgfältig und murrte nicht - außer wenn er sonntagmorgens in der Kirche mit Gott Zwiesprache hielt. In den Dreißigern arbeitete er mehrere Jahre lang als Sprengmeister für die Works Progress Administration am Blue Ridge Parkway. Seitdem war er auf einem Ohr taub und kriegte von Gesprächen kaum noch etwas mit. Er war wie ein alter Hund, der still in seiner Zimmerecke sitzt und das, was um ihn herum passiert, an sich vorbeiziehen lässt.
Ich wüsste nicht, dass er je in seinem Leben etwas Außergewöhnliches getan hätte. Er arbeitete fünf Tage die Woche, blieb trotz unzähliger bitterer Winter und unbarmherziger Armut bis zum Schluss mit meiner Großmutter Madeline verheiratet und erwarb weder nennenswertes Geld noch Gut. Am Tage seines Todes besaß er kaum mehr als ein leidlich großes Farmhaus, das sich neigte, wenn der Wind blies, und ein unbrauchbares Stück Land, das er für fünf Dollar den Morgen auf einer Auktion erstanden hatte. Das einzige Buch in seinem Besitz war die Heilige Schrift, die nach seinem Tod an mich überging. Auf der ersten, leeren, pergamentenen Seite steht in kaum lesbarer Schrift ein Satz seines Vaters William, meines Urgroßvaters: »Lies diese Bibel und verhalte dich danach.« Auf der nächsten Seite befindet sich eine verblasste Reproduktion des Bildes »Christus in Gethsemane« von Heinrich Hofmann. Mein Großvater hatte seinen Namen in die Bibel geschrieben und im Laufe der Zeit etliche Kommentare. Der erste steht am Anfang des ersten Buches Mose und lautet schlicht und ergreifend »4004 v. Chr.«. Für ihn das Jahr, in dem die Zeit begann.
Obwohl mein Großvater sein gesamtes Leben in Old Buckram verbrachte, tauchte er nur einmal in der Lokalzeitung auf. Wider besseres Wissen ließ er sich nämlich zur Kandidatur für ein politisches Amt im County aufstellen. Der Pfarrer seiner Gemeinde hatte ihn dazu überredet, weil er ihn als besonnenen, anständigen Mann mit gesundem Menschenverstand schätzte, aber er bekam nach einem kurzen Wahlkampf in einem eisigen Herbst nur zwei von fünfundzwanzig Stimmen. In der Zeitung stand ein einziger Satz dazu:
T. VANHOY AUS VELLUM'S CASKE GEWINNT WAHL ZUM LANDRAT MIT GROSSEM VORSPRUNG VOR H. L. ASTER
Weil mein Großvater wusste, dass er sich selbst gewählt hatte, sagte er, dass er von da an weder seiner Frau noch seinem Pfarrer so recht über den Weg traute. Und bevor er am nächsten Tag in die Stadt ging, verwendete er viel Mühe und Sorgfalt darauf, seine Pistole zu säubern und zu laden. Die Familie beobachtete es mit stummer Besorgnis. Maddy erzählte später, er sei vom Tisch aufgestanden, habe sich die Waffe betont feierlich in den Gürtel gesteckt und auf ihre Frage: »Meine Güte noch mal, Helton, was willst du mit der Knarre?« erwidert: »Ich schätze mal, dass ein Mann, der nicht mehr Freunde hat als ich, zumindest so klug sein sollte, Vorkehrungen zu seinem Schutz zu treffen.« Dann schloss er die Tür hinter sich und ging den langen Weg zur Stadt zu Fuß. Für ein Amt bewarb er sich nie wieder. Es schlug ihn auch keiner mehr vor.
Als Junge fuhr ich mit meinem Großvater in seinem verrosteten Ford Pritschenwagen manchmal nach der Schule oder am Wochenende zum Schlachthof, der nördlich von Old Buckram lag. Im Erdgeschoss befand sich ein Laden, in dem Speck, Wurst, Gemüse und andere Lebensmittel verkauft wurden. Hinter dem Gebäude hatte man vier Rinnen in den Betonboden gehauen, die in einem schwarzen Gully endeten. Auf dem Schild an der Straße prangte ein wohlgenährtes schwarz-weißes Schwein.
Jeder kannte hier draußen jeden. Als mein Großvater und ich einmal freitagnachmittags Milch kaufen wollten, begrüßte ihn ein riesiger Mann in Latzhose mit einem jovialen Schlag auf den Rücken.
»Helton, was gibt's Neues?«, fragte er.
Worauf mein Großvater erwiderte: »Woher soll ich das wissen? Seit wann passiert hier überhaupt was?«
Der Kerl in der blauen Latzhose lachte und zwinkerte mir freundlich zu. Vor dem Laden saßen Männer, allesamt arbeitslos, stundenlang auf Bänken, erzählten sich Witze, prokelten sich mit Zahnstochern in den Zähnen und beobachteten das Kommen und Gehen ihrer Mitmenschen. Wieder andere saßen drinnen auf den Holzstühlen mit geflochtener Sitzfläche und beugten sich mit offenen Mündern über ihre Schachbretter. Nur hin und wieder hoben sie den Kopf, um sich umzuschauen oder auszuspucken. Die Männer tranken Cola aus Flaschen und redeten über das Wetter und darüber, wie schnell sich die Dinge änderten. Sie änderten sich nicht. Rote und gelbe Tomaten in den verschiedensten Formen lagen hübsch aufgereiht neben Weidenkörben voll frisch gepflückter grüner Bohnen; Kartoffeln, noch mit trockener brauner Erde verkrustet, hatte man in Papiertüten verpackt. In einer Ecke summte ein antiquierter Getränkeautomat. Und der unebene Holzboden knarzte jedes Mal, wenn die Leute an den Regalen entlangliefen.
Einmal kam ein Schwarzer, den niemand kannte, herein und bezahlte eine Gallone Benzin. Mit ihm kam Stille und ging mit ihm wieder hinaus. Als er die Straße hochlief, schüttelten ein, zwei faltige alte Männer ungläubig den Kopf. In Old Buckram wohnten wenige schwarze Familien, und wenn, dann fast ausnahmslos in dem klar abgegrenzten Viertel hinter dem städtischen Parkplatz. Laut einem arg strapazierten alten Witz lebten im ganzen County genau einhundert Schwarze - keiner mehr, keiner weniger. Die Pointe, unweigerlich mit schiefem Grinsen und einem Seitenblick erzählt: Wenn einer mehr in die Stadt komme, bitte man einen anderen höflich darum, zu gehen. Schenkelklatschen, brüllendes Gelächter, verschleimtes Raucherhusten.
Während meiner Zeit in Old Buckram lebten in der Stadt nicht einmal tausend Leute, Weiße und Schwarze. Die anderen wohnten außerhalb, an unbefestigten Straßen und Schotterwegen, die sich endlos bergauf wanden und schließlich im Nichts endeten. In Trailern, deren Dächer zum Schutz gegen den starken Wind mit abgefahrenen Autoreifen beschwert waren, oder in kleinen Holzhütten mit dünnen, kaum regenfesten Asbestdachplatten.
Auf dem Heimweg vom Schlachthof fuhren mein Großvater und ich quer durch die Stadt und bogen am Ende auf die Larvatis Road ab, die zu seinem und...
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