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Er war ganze zwanzig Jahre jünger als ich. Bis heute weiß ich nicht viel über ihn. Um genau zu sein, wusste ich bis vor drei Tagen nicht einmal, dass er auf dieser Welt existiert hatte. An sich ist es natürlich nichts Erstaunliches, jemanden nicht zu kennen, aber dass ich jetzt mal eben für seinen Leichnam zuständig war, hat mich schon ein wenig aus der Bahn geworfen. Zwar kann man ohne jede Vorwarnung sterben, selbst wenn man nur halb so alt ist wie ich, aber das allein rang mir nicht mehr Erschütterung ab, als wenn ich Morgen für Morgen aufs Neue in den Nachrichten höre, wie viele Menschen diesmal wieder irgendwo ums Leben gekommen sind. Was mich viel unheimlicher anmutete, war die Art und Weise, wie der junge Mann dahingegangen war. Es ist doch trostlos, wenn jemand in seinem Alter einfach so stirbt, im eigenen Zimmer, still im Bett liegend und ohne dass jemand anderes bei ihm weilt. Ein solches Lebensende passt nicht in unsere Zeit, in der wir - ob zum Glück oder leider, weiß ich nicht - den Tod sehr ernst nehmen. Wir sollen ihn als etwas absolut Böses sehen, als ein Mysterium, das eigentlich nicht passieren darf.
Der Arme hätte einen ehrenhafteren Tod sterben können, der es seinen Angehörigen erträglicher gemacht hätte. Zum Beispiel hätte er mit Freunden zusammen aus dem Leben scheiden können. Selbst wenn der gemeinsame Tod das einzig Verbindende zwischen ihnen gewesen wäre, hätte ihnen dies einen nicht zu unterschätzenden Trost geboten. Kollektives Sterben ist seit einiger Zeit ohnehin sehr in Mode. Oder er hätte vor Zeugen sterben können, und die Einzelheiten über seine letzten Momente, die sie immer wieder erzählt hätten, wären seinen Liebsten ein Trost gewesen oder hätten seiner Geschichte einen bittersüßen Beigeschmack beschert, sodass man sich intensiver und länger an ihn erinnert hätte. Oder er hätte vor seinem Tod noch in irgendeiner Weise leiden können, sodass sein Ableben das Ende dieses Leidens gewesen und sein Umfeld erlöst gewesen wäre. Im schlimmsten Fall wäre es immer noch besser gewesen, er wäre bei einem Verkehrsunfall oder etwas in der Art gestorben, sodass man über die Irrwege des Schicksals hätte sinnieren können. Selbst eine solche Sinnlosigkeit, auch wenn sie tödlich war, hätte einem doch noch eine Art Lektion bereitgehalten, und wer davon gehört hätte, hätte bestürzt um Luft gerungen und sich betroffen auf die Brust geschlagen.
Für den Verschiedenen hätte all das allerdings kaum einen Unterschied gemacht, denn bekanntlich leiden die Toten bei weitem nicht so sehr unter ihrem Tod wie die Nachgebliebenen. Diesen bleibt nur, die Trümmer aufzulesen, die durch den Tod des Verstorbenen verursacht wurden, und ansonsten weiterzuleben, als sei nichts gewesen. Dass sie dies schaffen, ist ein noch erstaunlicheres Wunder als eine Geburt und nicht weniger tragisch als der Tod selbst.
Jedenfalls wurde ich durch einen Zufall zu einem von einem besonderen Unglück heimgesuchten Menschen - einem, der sich mit der Unbill des Todes einer Person abgeben musste, die er nie gekannt hatte. Jedoch konnte ich außer mir selbst deswegen niemandem einen Vorwurf machen, denn an jenem Abend gegen Mitternacht, als Aiman mich aus Kairo angerufen hatte und alles seinen Anfang nahm, hätte ich sein Anliegen auch rundweg ablehnen können. Ich hätte einfach nein sagen oder mich mit einer kleinen Notlüge herausreden können, wie ich es öfter mache, seit ich in London lebe. Aber man sollte nicht unterschätzen, wie unangenehm es zuweilen sein kann, jemandem etwas abzuschlagen.
Denn das war das erste und einzige Mal, dass Aiman mich um etwas bat, ja genau genommen hatte mich, seit ich Ägypten verlassen hatte, vorher noch niemand aus Kairo um irgendeinen Gefallen gebeten, den ich ihm hier in London tun könnte. Nach vollen zehn Jahren war dies daher für mich eine einmalige Chance zu beweisen, dass es auch jemandem von Nutzen sein kann, dass ich nun hier lebe. Wenn man allerdings Stolz und Verlegenheit zugleich verspürt, dann führt diese Mischung meist direkt in eine Katastrophe.
Aiman versicherte mir nach einer kurzen Einleitung, dass es mir ganz freistehe, in der Angelegenheit zu helfen, und dass er volles Verständnis habe, falls ich ablehnte. Es gehe darum, am nächsten Morgen in einer Klinik im Osten von London den Leichnam eines Mitte Zwanzigjährigen abzuholen und seine Bestattung zu organisieren. Einfach so, mehr sagte er nicht.
»Ich brauche von dir nur ein Ja oder ein Nein.«
Aiman sprach sehr bestimmt, und ich begriff, dass keine Hoffnung bestand, ihn von seiner Bitte abzubringen. Ich versuchte es gleichwohl: »So geht das aber nicht«, wandte ich ein. »Ich kenne den Toten doch gar nicht. Wie kam denn das alles?«
Wie ich erwartet hatte, brachte das nichts. Er formulierte jetzt nur umso spitzer: »Wenn du uns diesen Gefallen tun willst, sage ich dir, was ich weiß. Wenn nicht, brauchen wir gar nicht weiterzuquatschen. Also: ja oder nein?«
Aiman bekam die gewünschte Antwort in Rekordzeit, kaum eine halbe Minute nach Beginn seines Anrufs. Sein Trumpf war nicht die Schärfe, die in seiner Stimme lag, auch nicht seine Entweder-oder-Frage nach Ja oder Nein, die in ihrer Schlichtheit so unerbittlich ist wie keine andere Frage auf der Welt, sondern es war meine Neugier, die ihn gewinnen ließ. Aiman hätte mir nicht erzählt, was mit dem Toten passiert war, wenn ich abgelehnt hätte, ja er hätte mich bestraft, indem er das Thema nie mehr auch nur mit einem Wort erwähnt hätte. Er wusste, dass meine Neugier meine Schwäche war, und das nutzte er gnadenlos aus.
Aber so düster und rätselhaft Aimans Ansinnen, ich solle einen Unbekannten beerdigen, auch war, erlosch meinerseits der Reiz, mehr zu erfahren, sofort, als er mit den Erklärungen begann. Schon nach wenigen Sekunden war meine Spannung wie weggeblasen. Kennt man ein Geheimnis, ist kein Platz mehr für Wissensdurst, das war mir nicht neu. Außerdem finde ich Fakten, so viel Wirbel um sie auch gemacht wird, in der Regel überbewertet und entsetzlich langweilig.
Wäre die Geschichte mit dem toten jungen Mann, der übrigens Ghiyath hieß, vor, sagen wir, zehn Jahren passiert, wäre sie spannender gewesen. Oder wenn so etwas nicht so furchtbar oft geschähe. Oder wenn sie ein unerwartetes Ende gehabt hätte oder der Tod des jungen Mannes einfach etwas heroischer gewesen wäre. Seine Geschichte aber war ein wenig langweilig und enttäuschend, sodass ich mich kaum an ihre wesentlichen Eckpunkte erinnere. Jedenfalls kennt Aiman eine syrische Familie, die sich im Dorf seiner Mutter in einer kleinen Wohnung eingemietet hatte, und das war vielleicht schon das Interessanteste an der ganzen Geschichte, denn ich hätte mir nicht vorstellen können, dass Syrer jetzt schon bis nach Tayyibin vorgedrungen waren, einem Kaff in Oberägypten, das man kaum auf einer Landkarte verzeichnet findet.
Jedenfalls war diese Familie vor dem Krieg in Syrien geflohen, als es zu schlimm wurde. Und dass es sie ausgerechnet nach Ägypten verschlagen hatte, bewies entweder, wie verzweifelt sie waren, oder dass sie beispielloses Pech gehabt hatten. Der einzige volljährige Sohn der Familie, jener Ghiyath, war jedoch in Syrien geblieben, und zwar aus einem einfachen Grund: Er war nämlich bei einer Abteilung des syrischen Geheimdienstes inhaftiert, ich habe vergessen, in welcher, und selbst wenn ich es wüsste, würde das die Geschichte nicht begreiflicher machen. Jedenfalls, so Aiman, soll Ghiyath mit zwei anderen Gefangenen aus seiner Zelle mit Plastiklöffeln einen Tunnel von hundert Kilometern Länge gegraben haben, sodass sie vom Regimegebiet in eine Gegend gelangten, die von der Opposition kontrolliert wurde. Als sie dort aus dem Erdloch krochen, nahm sie aber aus irgendeinem Grund die gerade dort herrschende Oppositionsgruppe fest. So weit, so gewöhnlich. Ghiyath blieb dort drei Wochen in Haft, während die Gruppen, die sein Gefängnis betrieben, zweiundzwanzig- oder dreiundzwanzigmal wechselten (genau weiß ich es leider nicht mehr). Und aus einem weiteren undurchsichtigen Grund verurteilte ihn der Schariarichter einer dieser Milizen zum Tode, wurde allerdings selbst eine halbe Stunde darauf hingerichtet. So entkam Ghiyath fürs Erste seinem zunächst unausweichlich scheinenden Tod.
Die Geschichte ging noch viel weiter, wurde aber im Einzelnen nicht wirklich interessanter. So soll Ghiyath einhundertvierzigmal Luftangriffen von Flugzeugen aus einundzwanzig Staaten entkommen sein und Fassbomben, die das Regime abwarf, sowie Giftgasangriffe mit farbigen oder farblosen und stinkenden oder geruchlosen Chemikalien überlebt haben. Dazu kamen noch Katjuscha-Raketen. So jung Ghiyath war, so viel hatte er von alldem erlebt.
Dass er dann wieder dem Geheimdienst, diesmal aber einer anderen Abteilung, in die Hände fiel, ist nur ein weiteres wiederkehrendes Detail seiner Geschichte. Zwar muss man zugestehen, dass die Foltermethoden in diesem Knast besonders ausgefeilt und fantasiereich waren und die Peiniger sich besondere Mühe bei ihrer Arbeit gaben, aber das Ergebnis war wiederum sehr ähnlich wie zu Beginn. Diesmal grub Ghiyath einen noch längeren Tunnel und gelangte so ganz aus Syrien hinaus. Er grub ihn allein und ganz ohne Werkzeug, aber ich glaube, Aiman übertrieb, als er behauptete, Ghiyath habe das alles mit auf den Rücken gefesselten Händen getan.
An seinem neunzehnten Geburtstag gelangte er jedenfalls durch seinen selbst gegrabenen Tunnel ans Meer und schwamm anschließend in nur drei Tagen von Beirut nach Alexandria, wobei ihn ein netter Delfin begleitet und auf ihn aufgepasst haben soll. Zu seinem Unglück aber landete er so in Ägypten. Es war ein Sommertag, und es war kein besonders...
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