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Mein Freund Tom saß in Tallinn fest. Er hatte kein Visum für Estland und wusste, dass er nicht in diese kleine, entlegene Stadt zurückkehren konnte, wenn er sie einmal verlassen würde. Das viel dringlichere Problem war allerdings die russische Stripperin, mit der er flirtete, beziehungsweise ihr Freund, der angefangen hatte, vor Toms Haustür herumzulungern. Ich sollte Tom besuchen, weil er überzeugt war, dass der Typ sich nicht mit uns beiden anlegen würde.
Tom und ich kannten uns damals noch nicht allzu gut, im Vergleich zu später eigentlich gar nicht, aber das Ganze klang wie ein guter Vorwand für eine Reise. Anders als Tom konnte ich meine Wohnung in Berlin verlassen, wann immer ich wollte – ich hatte ein deutsches Journalistenvisum und keine gehörnten baltischen Schlägertypen vor der Tür – tatsächlich war ich sowieso mehr unterwegs als zu Hause. Damals wusste ich oft nichts mit mir anzufangen, und am Leben in Berlin gefiel mir am besten, dass es so leichtfiel, die Stadt zu verlassen. Etliche meiner Freunde waren schon weitergezogen oder in ihr echtes Leben in New York zurückgekehrt, und auch ich fragte mich, ob es nicht langsam an der Zeit wäre, meine Sachen zu packen. Ich wusste allerdings nicht wohin, denn kein Ort schien mir so verlockend, wie Berlin es einmal gewesen war und eigentlich immer noch sein sollte. Ich hatte im lieblichen und provinziellen San Francisco gewohnt und war dann nach Berlin gezogen, weil ich das Gefühl hatte, sonst etwas Spannendes zu verpassen. Und jetzt war ich drauf und dran, das lebhafte und provisorische Berlin zu verlassen, weil ich befürchtete, etwas Ernsthaftes zu verpassen. Auf der anderen Seite legte ein Blick auf meine Erfahrungen und Geschichten der letzten Jahre nahe, dass ich es, wenn ich mich tatsächlich zu einem Umzug an einen Ort aufraffen würde, den ich für »ernsthaft« hielt, sowieso wieder bereuen würde, all die neuen, interessanten Menschen anderswo zu verpassen. Ich hatte an New York gedacht – wo ich nie lange gelebt hatte, aber wo ich in meiner Vorstellung plötzlich für all die Gewohnheiten und Bindungen bereit sein würde, aus denen das wirkliche Leben besteht (Katze, Yoga, eine Beziehung). Vielleicht also nicht New York. Vielleicht Kiew. Kiew sei billig und cool, hatte ich gehört. Ich hatte mir oft vorgenommen, mir das mal anzusehen.
Tom und ich teilten die Hoffnung, dass es eine geographische Lösung für Probleme wie Unentschlossenheit gab, für Langeweile und den Verdacht, dass attraktivere Menschen an angesagteren Orten interessantere Dinge erlebten. Tatsächlich war das vor allem meine Sorge. In Toms Vorstellung erlebten fleißigere Menschen an besinnlicheren Orten uninteressantere Dinge. Tom war mit der Idee nach Tallinn gezogen, dass er dort zur Produktivität gedrängt werden würde, dass die Abgelegenheit und Exotik des Ortes ihn zwingen würden, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, die er vor lauter Videospielerei und weitaus zügelloseren Freizeitaktivitäten vernachlässigt hatte. Ich hingegen war gerade wegen der Zwanglosigkeit nach Berlin gekommen. Ich hatte die Hoffnung, dass mir die grenzenlosen Möglichkeiten der Stadt dabei helfen würden, herauszufinden, was ich wirklich wollte. Natürlich funktionierte beides nicht, und das lag nicht an der russischen Stripperin. Tom wurde klaustrophobisch und suchte verzweifelt nach Ablenkung, meine Abgelenktheit hingegen ließ mich von Disziplin träumen. Wir waren zwei Schiffe, die auf Wind warteten, um in der Nacht aneinander vorbeizusegeln.
Tom holte mich am winzigen Flughafen von Tallinn mit einem Taxi ab und brachte mich auf den neuesten Stand. »Ich habe mal in Saigon gelebt«, sagte er, »und nach einem Jahr musste ich da weg, weil mein Leben außer Kontrolle geriet. Dann war ich in Rom, und nach sechs Monaten musste ich weg, weil mein Leben ganz klar schon wieder außer Kontrolle geriet. Dann bin ich nach Las Vegas gezogen, aber musste auch da sehr schnell wieder weg, weil mein Leben ohne jeden Zweifel einmal mehr außer Kontrolle geriet.«
»Du bist nach Vegas gezogen, weil du dein Leben in Rom nicht mehr im Griff hattest?«
»Ich bin also aus Vegas weg und dachte mir, okay, ich muss dieses schon längst überfällige Buch fertig schreiben, also ziehe ich in ein kleines, abgelegenes Land mit unlernbarer Sprache und setze mich hin und schreibe von morgens bis abends. Bis das Buch fertig ist. Deshalb bin ich hier.«
Er sah aus dem Fenster auf die mittelalterlichen Giebel der Altstadt, wo er heutige New Yorker Mietpreise zahlte, um in einem aufwändig renovierten 14. Jahrhundert zu leben. »Und jetzt kann ich mit letzter Sicherheit sagen, dass mein Leben insgesamt außer Kontrolle gerät.«
Ich kannte Tom noch nicht lang genug, um mir anzumaßen, ihm Ratschläge zu geben. Außerdem war er ein erfolgreicher Autor, den ich bewunderte und dem ich nacheiferte. Er war nur sechs Jahre älter als ich, also keine Vaterfigur, aber alt genug, um ein Vorbild sein zu können, und ich zog es vor, ihn mir aufgeräumter vorzustellen, als er sich selbst gerne darstellte. Ich nahm an, dass sein Leben trotz aller offensichtlichen Fehlplanungen einer größeren Logik folgte. Außerdem lebte er eine leicht verzerrte, aber immer noch gut erkennbare Version meiner eigenen Fantasie: VIP-Zutritt mit zukünftigen baltischen Diktatoren zu Clubs und nächtelanger Sittenverfall mit baltischer B-Prominenz. Ich beschloss, dass meine Gesellschaft und meine Verehrung das Beste waren, was ich für ihn tun konnte.
Woran ich mich nach dem folgenden viertägigen Rausch hauptsächlich erinnere: wie ich in meinem Bett aufwache, meine überraschenderweise ungelesenen E-Mails anstarre und mir klar wird, dass ich zurück in Berlin bin. Es gibt vage Erinnerungen daran, dass ich am Stadtrand von Tallinn vor einem Sowjet-Hochhaus in einem Taxi mit laufendem Motor sitze, vage Erinnerungen an einen Abend mit sibirischen Tänzern und dem Mann, der einmal die nächste nationale Front Estlands führen soll, und daran, wie ich durch ein schwankendes Bullauge auf graues Wasser starre, während Tom seine Stirn an einem Resopaltisch kühlt. Ich sah auf meine Kamera und entdeckte ein paar verschwommene Bilder einer Stadt, die ich mittlerweile für Helsinki halte. Der einzige andere Anhaltspunkt war eine Seite in meinem kleinen Notizbuch. In vier Tagen war mir eine einzige Notiz geglückt: »Camino de Santiago – Zielstrebigkeit – 10. Juni.« Das Wort »Ziel« hatte ich unterstrichen.
Diese Camino-Geschichte kam mir irgendwie bekannt vor. Das Internet berichtete, dass im Jahre 813 die vermeintlichen Knochen Jakobus des Älteren in Santiago de Compostela im äußersten Nordwesten Spaniens ausgegraben worden waren. Jakobus soll angeblich noch im entferntesten Galicien missioniert haben – Tom hält das für unwahrscheinlich –, ehe er im ersten Jahrhundert in Palästina den Märtyrertod starb. Man sagt, dass seine Überreste in einem Boot aus Stein an die Atlantikküste kamen, das vermeintliche Ende der Welt, wo sie dann bis zu ihrer Entdeckung achthundert Jahre später unter einer Einsiedelei vergraben lagen. Im nächsten Jahrhundert kamen erste Pilger, vermutlich auf den Pfaden eines heidnischen Todeskults (die Keltiberer spazierten ans Ende der Welt, um die Sonne allabendlich im Meer untergehen zu sehen). Um 1140 tauchte dann das Jakobsbuch auf, eine Mischung aus How-to-Do-Buch und spirituellem Ratgeber, gewissermaßen der erste Reiseführer der Welt – auf der Route soll auch das Schnickschnack-Souvenir erfunden worden sein –, und seitdem war eine mehr oder weniger stetige Erlösungsparade unterwegs nach Santiago de Compostela. Seit zwanzig Jahren erfreut sich die Route zunehmender Beliebtheit bei einem weltlichen Publikum – nicht zuletzt dank eines bekloppten deutschen Fernsehkomikers. Sie ist ungefähr neunhundert Kilometer lang, je nachdem wo man beginnt und ob man bis ans Meer läuft, und die meisten Menschen brauchen etwa einen Monat dafür.
Das Buch, für das Tom nach Estland gezogen war, war die Geschichte seiner Reisen zu den entlegenen Grabstätten der Apostel, und als ich meine Recherchen über den Jakobsweg abgeschlossen hatte, der mich damals aus unerfindlichen Gründen sofort reizte, dämmerte in mir die entfernte Erinnerung daran, dass Tom von seinem Plan erzählt hatte, im nächsten Sommer von der französischen Seite der Pyrenäen aus durch Spanien zu spazieren. Nur mit meiner »10. Juni«-Notiz konnte ich nichts anfangen, also rief ich Tom via Skype an. Seit ich abgereist war, hatte er nicht geschlafen, aber er klang putzmunter und schien sich über meinen Anruf zu freuen.
»Du fehlst, Mann«, sagte er. »Ich bin wieder einsam, ich wünschte, du wärst noch hier.«
»Ich auch, mein Freund.« Ich zögerte. »Sag mal, Tom, was ist eigentlich am 10. Juni?«
»Das ist der Tag, an dem wir aufbrechen«, sagte er. »Das Datum passte uns beiden gut in den Terminplan.«
Ich hatte keinen nennenswerten Terminplan, also gab es da nichts zu diskutieren. Tom allerdings auch nicht. Der Gedanke, dass etwas in unser beider Terminpläne passte, war mir suspekt.
»Der Tag, an dem wir zu was aufbrechen, Tom?«
»Unsere Wanderung durch Spanien. Hast du die vergessen? Nachts durch sanfte Hügel schlendern, nur du und ich und der Weg vor uns? Hotelübernachtungen gehen auf mich? Deine flammende Rede, dass wir jeden Morgen mit dem simplen Vorsatz aufwachen, einfach nur draufloszulaufen? Du hast mit der Faust auf den Tisch gehämmert und durch die ganze Bar gebrüllt, dass du hundertprozentig dabei bist. Ein paar Esten haben sogar geklatscht, aber wahrscheinlich nur, weil sie wollten, dass du still bist. Wir...
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