Schweitzer Fachinformationen
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Am Anfang war das Meer.
Es hatte die Stadt hervorgebracht, deren Kinder sie waren. Es sollte auch ihren Abschied empfangen.
Andere Meere würden sie durchqueren, andere Städte würden ihnen zur Wohnung werden. Aber keine der Städte würden sein wie diese. Und keines war wie dieses Meer.
Der Fürst ihrer Stadt pflegt einmal im Jahr hinauszufahren, an einem gleißend hellen Tag, ins blaue Leuchten hinein, dorthin, wo sich Himmel und Erde begegnen, um einen Ring vom Finger zu streifen. Sich mit dem Element zu vermählen.
Nun fahren sie beide hinaus, bei Nacht, und keine Prunkbarke trägt sie, sondern ein schwarzer Nachen, und der Ruderer ist genau so dunkel vermummt, wie sie es sind. Aber es gilt ja auch nicht, sich zu vermählen, sondern zu scheiden.
Sie sitzen schweigend, die Kapuzen ihrer Mäntel bis zu den Augen herabgezogen, und halten im Schoß die Reliquien ihres bisherigen Lebens, halten sie mit beiden Händen umklammert, wie man eine Schütte mit Saatkorn festhalten würde. Bewahren sie. Noch. Ein paar Ruderschläge lang.
Der Mond ist jung in dieser Nacht. Scheint zu flüchten, jagt dahin zwischen Wolkenschatten, wie gehetzt, eine junge Hindin, die vorm Jäger flieht. Luna, mal hell, mal dunkel.
Die Inseln der Lagune tragen ihre kleinen Feuer an der Stirn - hier und da ein Haus, wo man nicht schläft. Wo jemand betet, liest, stirbt oder wo man sich liebt beim Schein der Öllampen.
Das Ruderblatt lässt von Zeit zu Zeit Blitze im Wasser aufspringen. Tiere der Tiefe? Nächtliche Geister? Oder nur der Widerschein fernen Lichts?
Die eine der vermummten Gestalten im Boot dreht sich um, streift die Kapuze mit einer Hand zurück, sucht die Stadt mit dem Blick. Dunkel vor grauem Wolkenhimmel, die Umrisse so vertraut, dass man sie mit geschlossenen Augen nachzeichnen könnte. Die Kuppeln, die Türme, der gen Himmel weisende Zeigefinger des Campanile, die zackig zerrissene Silhouette der Häuser und Palazzi.
»Hier. Hier sollten wir es tun. Hier ist es tief genug.«
Die andere Gestalt nickt, heißt die Entscheidung gut. Sie gibt dem Schiffer das Zeichen: Beugt sich vor und berührt mit der Hand seinen Rücken.
Nun, ohne das Ruderplätschern, ist es so still auf dem Wasser wie am Tage, nach dem die Welt erschaffen wurde. »Wer fängt an?«
»Du. Du bist diejenige, die mehr weggeben muss.« Die erste lacht leise.
»Nein«, sagt die zweite. »Lass es uns anders machen. Ich gebe dir meines. Du gibst mir deines, nacheinander. Dann sind wir verbunden.«
»Das sind wir ohnehin. Aber gut.«
»Schaff uns Licht, Lelio.«
Der Schieber einer Blendlaterne wird aufgezogen. Der schwache gebündelte Strahl erhellt die Gesichter der beiden Frauen. Ernst, gesammelt. Das Boot schaukelt, gewiegt vom Atem des Wassers, lässt den Lichtschein hin und her geistern zwischen den beiden.
Die zweite wählt aus den Dingen in ihrem Schoß ein Bündel Briefe. Sie sind von einem verblichenen Band umschlungen, zusammengehalten durch ein Siegel. »Hier. Die Kopien der Briefe an dich. Ich weiß nicht, wie viele dich davon erreichten.«
»So viele.« Die andere hält ein schmaleres Päckchen hoch, zerknittert, verschlissen. »So viele.«
»Du hast sie gelesen?«
»Nein.«
»Lügst du?«
»Ja. Aber ich wusste immer, dass auch diese Briefe nur Lügen enthalten. Deshalb ist es so gut, als hätte ich sie nicht gelesen.«
»Alsdann .«
»Alsdann: Addio.«
Sie tauschen. Und die beiden Briefbündel klatschen mit dumpfem Laut aufs Wasser, treiben eine Weile oben, dann verschluckt sie das Meer.
»Weiter. Du hast noch mehr geschrieben, Donata.«
»Ja. Briefe, die die Wahrheit enthalten. Die ich nie abgeschickt habe.«
»Gib sie mir.«
»Noch kannst du sie lesen.«
»Wozu?« Leonida reißt das Päckchen so heftig an sich, dass sich das Band löst. Ein Schwarm weißer Vögel, flattern die einzelnen Papiere durch die Luft, versinken hier und dort. »Addio.«
»Jetzt weiter du, Donata.« Leonida schiebt die Gegenstände hin und her, die sich auf ihrem Schoß, im Bausch des Mantels befinden. Reicht dann ein an den Rändern versengtes Pergamentblatt hin, versehen mit fremdartigen Schriftzeichen. Das Siegel ist groß und prunkend.
»Das stammt vom Türken. Hat es mit uns zu tun?«
»Mehr, als du denkst.«
Donata hebt schon die Hand zum Schwung, aber Leonida beugt sich vor und fängt ihren Arm auf. »Nein, warte. Pergament will oft nicht untersinken. Verbrenn es.«
Donata sagt nichts. Sie öffnet das Hornfenster der Laterne und hält das Schriftstück an die offene Flamme. Beide beobachten, wie sich das Blatt verfärbt, sich krümmt im Todeskampf, schließlich auflodert, wie der feuerrote Siegellack schmilzt und herabtropft. Mit konzentrierten Gesichtern sehen sie beide zu. Die unruhigen Flammen tanzen und werfen Schatten über ihre Stirnen.
Donata wirft die Asche ins Meer. Greift dann von ihrem Schoß einen Goldring. Schleudert ihn, weit ausholend, davon, ehe die andere eingreifen kann. »Das Pfand meiner Ehe. Fort damit!«, sagt sie wild.
»Ich hätte ihn wegwerfen sollen!«, sagt Leonida spöttisch. »War es nicht so abgemacht, dass wir die Dinge tauschen?«
Donata ringt nach Worten. »Du hast - du hast ihn ja schon wertlos gemacht, bevor ich ihn am Finger trug«, sagt sie leise.
Leonida antwortet nicht. Stattdessen nimmt sie ebenfalls einen Ring aus ihrem Vorrat, schmal, mit einem Mondstein. Hebt ihn hoch, das Gold blitzt im Licht der Laterne. »Fort mit dem, was wir liebten!«, flüstert sie. Holt aus. Wirft.
Und nun, wie auf ein Zeichen hin, beginnen sie, regellos alles über Bord zu werfen, was sie noch haben an seltsamen Gedenkstücken. Verdorrte Blumen und Bänder, Ranken von Weinlaub, ein Becher und eine dünne Fußfessel, ein paar Kinderschuhe und ein Fächer, eine Flöte, in rotes Leder gebundene Büchlein, ein bunt gemaserter Stein. Immer schneller. Das Wasser spritzt auf, die Kreise breiten sich aus, gehen ineinander über. Irgendwo springt ein Fisch.
»Vorbei«, sagt Donata schließlich tonlos. »Alles weg. Was wir liebten. Was uns betrübte. Alles da unten im Schoß unseres Meers. Aufgehoben bei unserer Stadt, von der wir uns für immer trennen werden.«
Leonida greift nach ihren Händen, hält sie fest. »Die Dinge sind fort. Gehören nun der Adria. Aber vieles wird wohl bleiben. Das in unseren Herzen bleibt. Und auch das Erlebte in unserem Kopf.«
»Ich hätte meine Tagebücher behalten sollen.«
»Aber du weißt doch alles. Wort für Wort, nicht wahr?«
»Wort für Wort, cara.«
Sie schließen den Schieber der Laterne, geben dem Schiffer das Zeichen zur Umkehr. Im Rudertakt schwebt die Stadt auf sie zu, bis der Ferge beidreht, das Boot nach Westen hin fortbewegt, hinter der Kirche San Giorgio Maggiore hinüberfährt nach Castello, fort von der Pracht zur Ehre Gottes, von Glanz und Schönheit, hin zu Armut und Bescheidenheit. Dort, wo die Arbeiter des Arsenals wohnen, gehen die beiden Frauen an Land.
Die Mitternacht ist vorüber. Sie entlohnen den Schiffer, und er küsst Donata die Hand. Der Mann sieht sie an. Noch nicht so lange her, und sie war seine Herrin. Nun will sie fort auf Nimmerwiedersehen. Mit der anderen.
Donata hält die Blendlaterne. Sie gehen über Ziegenpfade und feuchte Sträßchen, vorbei an den niedrigen Häusern der arsenalotti, über hölzerne Brücken. Reden nicht miteinander. Katzen schreien. Es ist Brunstzeit. Donata kennt das - sie hat bereits eine Zeit lang hier gewohnt.
In San Biagio wartet die Clarissin schon auf sie, bringt sie, ebenfalls schweigend, in ihre Zellen. Hier werden sie übernachten. Das Gepäck steht aufgetürmt, ein dunkler Batzen von Taschen und Ledersäcken. Morgen werden sie diese Stadt, dies Meer verlassen. Heimlich. Ja, und auf Nimmerwiedersehen.
Aber es gibt nichts, was sie je vergessen werden, auch wenn sie ihre Andenken tief, tief versenkt haben, damit sie hier bleiben ...
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