Schweitzer Fachinformationen
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Tropfen. Du zählst die Tropfen.
Siehst zu, wie sie aus der bräunlichen Phiole in das hochstielige Glas aus Murano fallen.
Sie sind farblos, diese Tropfen, aber ihre Beschaffenheit ist wie die von Öl; träge und langsam gleiten sie aus der runden Öffnung und fallen ins Wasser, mit dem sie verschmelzen, und du zählst.
Stehst gleichsam neben dir selbst und zählst.
Unnötig eigentlich.
Auf Esther Kyra ist Verlass. Was Esther Kyra, die Händlerin, einem beschafft, ist von bester Qualität.
Auf keinen Fall weniger als zehn, hat sie gesagt. Bis zehn sind sie nur ein Schlafmittel. Zwanzig, das ist sicher.
Das Einfachste wäre doch, den ganzen Inhalt der Phiole auszugießen ins Glas. Je mehr, desto besser. Und dann auf einen Zug hinunter. Weg damit. Weg mit dir, Señora.
Du zählst aus Gewohnheit. Weil du dein ganzes Leben lang gezählt hast, und das mit Vergnügen. Du hast die Gold- und Silberstücke aller Länder der bekannten Welt gezählt, du hast sie miteinander verglichen und Perlen gezählt und Juwelen. Und Schiffe auf dem Meer und Handelspartner überall in der Welt und die Unsummen, die dir gekrönte Häupter schulden.
Vielleicht, dass du dir nun eine letzte Freude gestattest mit dieser Zählerei.
Jetzt sind es zwanzig. Zwanzig Tropfen. Ob es wirklich reicht?
Überm Goldenen Horn das übliche Gefunkel. Ein Sonnenuntergang, wie ihn der Ewige, gepriesen sei sein Name, Abend für Abend geschehen lässt; was für eine Verschwendung von Schönheit.
Für einen Augenblick stellt sie die Phiole ab, merkt sich die Zahl der Tropfen.
Auf dem Wasser gleiten zwei Barken vorbei; das Segel der einen bläht sich voller Übermut im Wind, das andere flattert und schlägt. Der Schiffer ist kein Könner oder auch nur nachlässig, er dirigiert das Leinen nicht sicher. Diese zweite Barke ruckt und zuckt hin und her wie eine Wasserspinne, aber sie kommt trotzdem vorwärts. Sie halten beide auf gleicher Höhe, so unterschiedlich sie auch fahren. Werden zur gleichen Zeit ihr Ziel erreichen.
Du musst dein Ziel allein erreichen, Señora, sagt sie sich. Das Begleitsegel ist dir abhandengekommen.
Hinter ihrem Rücken, im Hintergrund des Raums, ist eine Bewegung.
Hastig stöpselt sie das Gefäß zu und verbirgt es in der Tasche des Kleids, stellt das Glas aufs Fensterbrett. Nicht, dass sie jemandem Rechenschaft schuldig ist über ihr Tun und Lassen, aber sie hat keine Lust auf Gejammer und Geklage, auf Bitten und Vorstellungen. Und am allerwenigsten auf irgendeinen heiligen Mann, der ihr sagt, dass ihr Vorhaben wider die Gebote des Ewigen verstößt.
Aber du hättest wissen müssen, dass es nur eine einzige Person sein kann, die da kommt, denn du hast Befehl gegeben, niemand Fremdes vorzulassen an diesem Abend.
Das Klappern der Schuhe. Hölzerne Schuhe, wie wir sie trugen, als wir noch in Venedig waren. Reyna.
Sie wendet sich um.
Ja, es ist Reyna, die Tochter, und sie trägt Schwarz.
Aber gewiss nicht meinetwillen. Von meinem Fortgang weiß sie ja noch nichts.
Es gibt mir einen Stich. Schwarz. Sie sieht sich als Witwe. Glaubt also an Josephs Tod.
Schwarz. Als wenn es mir selbst nicht viel eher anstehen würde, diese Farbe zu tragen. Denn geliebt hat er mich.
Und ich habe zudem viel mehr zu betrauern als nur einen toten Geliebten.
Ich habe den Verrat einer ganzen Welt zu betrauern. Aber trotzdem trage ich heute ein Kleid von der Farbe dunklen Weins, ein würdevolles Kleid. Bei meinem Stelldichein mit Azrael, dem Todesengel, will ich festlich aussehen.
Reynas Augen sind gerötet, sie hat geweint. Ich kann es nicht ausstehen, wenn sie weint. Sie ist kein Kind mehr.
»Was willst du?«, frage ich schroff.
Sie antwortet mit einer Gegenfrage: »Was tust du?«
Ich mache eine vage Handbewegung hin zu dem Bogen der Fensteröffnung über mir, der geformt ist wie ein Schlüsselloch, ein Schlüsselloch zur Welt. »Ich spähe den Abend aus, belauere Himmel und Erde.«
Die Wolken über den weißen Dächern des Neuen Serails auf der anderen Seite des Topkapi-Hügels färben sich rosa.
Reyna tritt neben mich ans Fenster.
»Die Karawane vom Balkan ist zurück«, sagt sie leise. »Ohne ihn.«
»Es ist schon die zweite Karawane ohne ihn«, entgegne ich, »hör auf, Karawanen zu zählen.« Und Trauer und Zorn pressen mir die Kiefer zusammen.
»Mutter!«, sagt sie.
Sie steht dicht bei mir, ich fühle die Wärme ihres Körpers. Es ist mir unerträglich, wenn sie mir so nahe kommt, seit sie eine Frau ist. Seine Frau.
Sie ist üppig im Fleisch und größer als ich, ihre Gegenwart erregt mir Unlust. Immer aufs Neue muss ich mir klarmachen, dass sie das gleiche Wesen ist, das ich als Kind an meinen Brüsten gestillt habe, das Mädchen mit den runden Wangen und den leuchtenden Traumaugen, das in Antwerpen an einen christlichen Adligen verkuppelt werden sollte und um dessentwillen ich alles aufgab, um sie zu schützen und mit ihr zu fliehen quer durch Europa.
Die Rivalin nun.
Ich hätte sie ihm nicht zur Gemahlin geben sollen .
Es sollte mich milder stimmen, dass wir uns heute zum letzten Mal begegnen. Schließlich hat sie nun bald doppelten Grund für ihr schwarzes Kleid.
Aber ich kann nicht.
Ich sage heftig: »Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn dein Atem mir das Ohr streift.«
Gehorsam weicht sie einen Schritt zurück.
»Was willst du?«
»Mutter. Ist es nicht an der Zeit, dass wir Kaddisch sagen für Joseph?«
Kaddisch, das Totengebet. Fast muss ich lachen. »Warten wir noch ein paar Tage!«, sage ich leichthin und stecke die Hand in die Tasche meines Kleids. »Wer weiß, was sich noch alles ändert.«
Die Phiole fühlt sich hart und kühl an. Meine Finger kreisen um den Stöpsel, der aufragt wie eine harte Brustwarze. Still mich bald mit deiner tödlichen Milch.
»Was soll sich ändern?«, fragt sie, und ihre Stimme zittert.
Nun erst drehe ich mich vollends zu ihr herum.
Ihre Augen, genauso nachtschwarz wie die meinen, genauso verschattet von uralter Melancholie, unter schmalen Brauenbögen wie Mondsicheln, stehen schon wieder bis zum Wimpernrand voller Tränen.
(Er hat mir gesagt, dass diese Augen sein Trost gewesen seien in der Hochzeitsnacht, das Vertraute in dem fremden rundlichen Gesicht, das, wo er seine Heimat wiederfand. Als wenn er je nach einer »Heimat« gesucht hätte bei all den nicht gezählten Gesichtern, denen er auf seinen Abenteuern begegnete! Nur - meine Augen sind nicht solche Brunnen wie die meiner Tochter. Sie bleiben trocken. Immer.)
Sie sieht auf mich herab. Ich bin es gewohnt, dass alle Welt auf mich herabsieht, ich reiche den meisten Menschen nur bis zur Schulter. Warum bringt es mich bei ihr so auf? Der Zorn presst mir die Kehle zu.
»Was sich ändert? Alles ändert sich, Tochter, alles und immer«, erwidere ich und presse meine Finger so fest um das Fläschchen in meiner Tasche, dass es weh tut. »Vor ein paar Tagen glaubten wir noch, der Welt Widerstand zu leisten, und heute sind wir ärmer und verachteter dran als je zuvor. Der Löwenmut unserer Rabbiner hat sich in Feigheit gewandelt, der eine Teil unseres Stammes hat den anderen verraten, die Scheiterhaufen brennen, der Ewige wendet sein Antlitz ab von uns, seinem erwählten Volk, und lässt uns scheitern, da, wo Hoffnung war .«
»Du redest von diesem Ancona«, fällt sie mir ins Wort, und nun ist sie genauso heftig wie ich, »und ich spreche von meinem Mann!«
Ich hole tief Luft. Erwidere dann doch nichts.
Es ist meine Schuld. Ich habe sie niemals mit einbezogen in die großen Spiele um Macht und Geld. Ich habe sie ihr kleines Mädchenleben durchspielen lassen an der Seite ihrer munteren Cousine La Chica, und außer sie - insgeheim! - unsere Riten, die jüdischen Riten, zu lehren in einer Welt voller feindlicher Christen, die allernötigsten Regeln der Verstellung und List, hat man ihr nichts beigebracht. Gerade einmal Lesen und Schreiben, Singen, Lautespielen und Tanzen.
Aber mehr als ihre Unwissenheit und dieser Blick, der so eingeengt ist wie der eines Rosses mit Scheuklappen, macht mich wütend, wie sie »mein Mann« sagt.
Ja, es ist ihr Mann. Muss sie ihn vor mir so nennen?
»Don Joseph Nasi, dein Gatte und mein Neffe und Schwiegersohn«, sage ich und betone alle drei Bezeichnungen gleich, »wird sein Kaddisch bekommen. Warten wir ab, bis der Mond voll ist. Vielleicht trifft bald noch eine weitere Karawane vom Balkan hier ein.«
»Aber der Großwesir des Padischahs hat bestellen lassen, wir sollten nicht allzu sehr hoffen .«
»Der Großwesir des Padischahs ist ein Staatsmann, er treibt verschiedene Spiele, Tochter«, unterbreche ich. »Eins davon heißt Irreführung. Wenn Don Joseph, dein Mann, in geheimer Mission unterwegs ist, nimmt er wohl auch in Kauf, dass man ihn totsagt.«
»Du meinst .?«
Ein winziges, ein verzagtes Lächeln. Hoffnungslächeln.
Plötzlich schlägt meine Stimmung um.
In diesem dünnstimmigen »Du meinst?«, begleitet von diesem Lächeln, verwandelt sich dies prächtige Stück Fleisch in Schwarz da zurück in mein kleines Mädchen, das ich in der Kutsche unter meinem Mantel verstecke, um sie aus Antwerpen hinauszuschmuggeln, und das sich angstvoll an mich schmiegt wie ein kleines Tier an seine Mutter.
»Ich meine«, sage ich fest und beruhigend, so wie ich es zu dem schüchternen Kind sagte, das sich so leicht fürchtete, »und wenn ich etwas meine,...
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