Schweitzer Fachinformationen
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Kai Winter, ein hochgewachsener, attraktiver Mann mit ernstem Gesicht und ersten silbernen Strähnen im dunklen Haar, küsste seine kleine Tochter sanft auf die Stirn.
Schlaftrunken öffnete sie die Augen. »Igitt!«, protestierte sie kichernd und zog sich die Decke über den Kopf. Dann schnarchte sie übertrieben laut und stellte sich schlafend.
Kai musste lachen. »Raus aus den Federn, mein Schatz. Celine bringt dich heute zur Schule!«
Emma kämpfte sich augenblicklich unter der Decke hervor. »Aber du wolltest mich doch fahren!«, protestierte sie heftig, und Tränen traten ihr in die Augen. Ihr Mädchengesicht nahm einen verkniffenen Ausdruck an. Emmas langes dunkelblondes Haar stand ungezähmt in alle Richtungen ab. Sie sah aus wie die aufmüpfige kleine Schwester des Struwwelpeters.
Kai nickte bedauernd. »Ich weiß, aber mir ist ein Termin dazwischengekommen. Ich muss heute früher in die Arbeit als sonst.«
»Immer arbeitest du!«, sagte Emma mit kindlichem Vorwurf. »Nie hast du Zeit für mich. Das ist richtig gemein! Du hast mich überhaupt nicht mehr lieb.«
»So was darfst du noch nicht einmal denken!«, protestierte ihr Vater entgeistert. »Ich liebe dich und würde alles für dich tun, Emma!« In einem Punkt jedoch hatte seine kleine Tochter tatsächlich recht. Seit dem Tod seiner Frau stürzte Kai sich fast krankhaft in Arbeit. Ihm war vollkommen klar, dass es eine Flucht aus seiner nicht enden wollenden Traurigkeit war, wie eine Sucht, die verhinderte, sich den Tatsachen endgültig zu stellen. Und ihm war absolut bewusst, dass es langsam an der Zeit war, ein neues Kapitel zu beginnen, und doch: Alles in ihm versuchte exakt das zu verhindern. Obwohl seit Tinas Unfall ganze vier Jahre vergangen waren, hatte er ihren sinnlosen Tod nach wie vor nicht verwunden. Es war ihm ganz recht, dass es in seinem unglücklichen Leben nur noch das Büro und Emma gab. Er hatte keine Hobbys, kaum Freizeit und erst recht keine Freundin. Aber es war ein freiwilliger Entschluss, und Kai hatte sich in seiner vertrauten Traurigkeit eingerichtet.
Natürlich wusste er ganz genau, dass Emma sich sehnlichst eine Familie wünschte: Aber eine neue Partnerin kam ihm nicht in den Sinn. Keine würde Tina jemals ersetzen können. Außerdem hieße ein Neuanfang, aus dem selbst gebastelten Hamsterrad auszusteigen. Er musste unter Leute gehen, sein Schicksal am Schopf packen. Aber dazu fühlte Kai Winter sich einfach nicht in der Lage.
Kais Blick versank deprimiert in der Prinzessin-Lillifee-Bettwäsche seiner Tochter. Ohne dass er es bemerkte, hatte er seine Hände verzweifelt zu Fäusten geballt. Ein betrunkener Autofahrer hatte Tina von jetzt auf gleich aus dem Leben gerissen. Ein betrunkener Autofahrer hatte Emma zur Halbwaise gemacht und Kais Seele verwüstet. Seit dem frühen Tod seiner Frau war jede Lebensfreude in ihm verkümmert. Eine Zeit lang hatte ihm sein Hausarzt Tabletten verschrieben. Hochdosierte Zufriedenheit, die ihm vorgekommen war wie eine Lüge.
Prinzessin Lillifee lächelte ihn gleichgültig an. Für eine Sekunde schloss Kai müde die Augen, vertrieb dann aber seiner Tochter zuliebe die dunklen Gedanken. Emma war damals zu klein gewesen, um sich überhaupt noch an irgendetwas zu erinnern. Sein Schmerz war nicht ihr Schmerz, und sie hatte ein Recht auf eine unbeschwerte Kindheit. Also scheuchte er sie aus dem Bett, indem er sie sich schnappte und kitzelte. Emma kreischte laut auf.
»Ich arbeite so viel, weil irgendjemand all deine tollen Spielsachen bezahlen muss!«, erklärte er, während sich seine Tochter prustend aus seiner Umklammerung befreite. Kai bückte sich, um ein einzelnes schwarzes Puzzleteil vom Boden aufzuheben. Wie ein Beweisstück hielt er es hoch.
»Da ist es ja wieder!«, rief Emma mit einer so tiefen Erleichterung, als würde ihr Lebensglück von dem verlorenen Puzzleteil abhängen. »Das ist nämlich das Auge vom Walfisch! Endlich ist er nicht mehr blind. Walfische sind keine Fische, Papa! Wusstest du das? Und sie sind Vegetarier und essen Gemüse.« Ohne seine Antwort abzuwarten, schnappte sie das wiedergefundene Teil und warf es achtlos auf ihren Nachttisch. Zweifelsohne würde es bald schon wieder verloren gehen.
»Sie essen wohl eher Plankton«, murmelte Kai Winter. Er versuchte wirklich, seiner Tochter jeden Wunsch zu erfüllen. Ihr blau tapeziertes Zimmer quoll über vor Spielzeug: neben einem funkelnden Barbieschloss, einer fabrikneuen Playmobil-Burg und spannenden Lego-Bausätzen bogen sich die Regale nur so vor Büchern, Spielen und Kuscheltieren. An der Wand hing eine gerahmte Illustration von Maurice Sendak, natürlich ein Original. Kai hatte die Zeichnung des weltberühmten Illustrators von Wilde Kerle in einem Auktionshaus in London entdeckt und sie für seine geliebte Tochter erstanden.
»Mist! Ich habe meine Hausaufgaben vergessen!« Aus weit aufgerissenen Augen sah seine Tochter ihn an. »Und ich muss noch Spielsachen einpacken!«
Kai unterdrückte einen Anflug von Ärger. Genau für diese Zwecke war Celine schließlich da. Er verstand nicht, warum die französische Au-pair sich nicht ausreichend kümmerte, schließlich zahlte er ihr den doppelten Lohn, der üblich war. Im Prinzip hatte sie bei ihm Narrenfreiheit. War es zu viel verlangt, dass sie darauf achtete, dass Emma gut vorbereitet zur Schule ging? Aber er wollte Emma seinen Unmut nicht spüren lassen.
»Wieso Spielsachen einpacken? Und was hat das mit deinen vergessenen Hausaufgaben zu tun?«, fragte er stattdessen. Er reichte Emma die Kleidung, die Celine am Vorabend für sie bereitgelegt hatte: eine zartlila Jeans, die erschütternd modisch für ein Grundschulkind war. Ein geputztes Paar Sneaker und eine frisch gebügelte Bluse mit einem Einhorn darauf. Wenigstens das hatte die junge Nanny also geschafft. Kai war gestern erst spät aus dem Büro heimgekehrt, da hatte Emma schon seit Stunden geschlafen.
»Wir sollen unser Lieblings-Spielzeug heute mit in die Schule bringen!«, erklärte Emma in dem für sie üblichen aufgeweckten Tonfall. Sie schlüpfte emsig in ihre Klamotten, und Kai lächelte gerührt. Ihre flinken Bewegungen waren typisch für sie, genauso wie die Tatsache, dass sie stets die Bluse falsch zuknöpfte.
»Spielt ihr jetzt etwa in der Schule?«, fragte Kai, scherzhaft empört.
Erheitert schüttelte Emma den Kopf. »Aber Papa! Das ist doch Schule. Wir lernen Englisch.«
»Ach so .« Kai kratzte sich an der Schläfe. Seit diesem Schuljahr unterrichtete die Grundschule seiner Tochter auf spielerische Art und Weise Englisch. Aus seiner Sicht war es eher Unterricht in Kauderwelsch - mit ungewissem Ausgang.
»Ich weiß auch schon, was Teddybär auf Englisch heißt!«, behauptete Emma neunmalklug. »Teddy Bird oder so ähnlich.«
»Ich bin beeindruckt!« Ein winziges Lächeln umspielte Kais Mund. Seine Tochter stand fertig angezogen vor ihm. Ein paar Minuten hatte er noch, also knöpfte er ihre Bluse richtig zu. Celine würde ihr später hoffentlich noch eine hübsche Frisur zaubern.
Aus Hundeaugen sah seine Tochter ihn an. »Papa, darf ich die Puppe mit in den Unterricht nehmen?«
Für einen Moment verstand Kai nicht, wovon sie sprach. Emma hatte zahllose Puppen, ihr Kinderzimmer war wie ein Warenlager von Toys »R« Us. Er wusste nicht, welche Puppe sie meinte, aber dann fiel der Groschen. Eine Falte grub sich in seine Stirn. Er hasste es, Emma einen Wunsch ausschlagen zu müssen.
»Du meinst die Puppe in der Vitrine, nicht wahr?«, fragte er zögernd. Mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck ging er vor ihr in die Knie. Seine Tochter nickte beglückt. Voller Vorfreude sah sie ihn an. Sie schien sich sicher zu sein, dass er es heute ausnahmsweise erlaubte.
Unbehaglich biss sich Kai auf die Lippe. Warum musste Emma von allen möglichen Wünschen nur diesen einen haben?
»Deine Lehrerin hat doch extra gesagt, dass es euer liebstes Spielzeug sein soll«, versuchte er sie von der begehrten Puppe abzulenken. »Was ist denn mit Schlappi?«
Schlappi war ein Steiff-Hund, für den Kai etliche Hundert Euro hingeblättert hatte. Er konnte sich nicht erinnern, seine Tochter jemals damit gesehen zu haben.
Emma zog einen Schmollmund. »Ich spiele nicht mit der Puppe aus dem Glasschrank, weil du mich nicht damit spielen lässt!«, motzte sie und klang auf einmal erstaunlich erwachsen. »Wenn du es mir erlauben würdest, wäre sie mein Lieblingsspielzeug. Es ist nämlich die schönste Puppe auf der ganzen Welt!«
Ein tiefes Gefühl von Trauer stieg in Kai auf. Für einen Moment drohte sie ihn zu verschlingen. Seine Stimme klang seltsam gepresst, als er seiner Tochter erklärte, dass sie die Puppe auf keinen Fall mitnehmen durfte.
»Weißt du, Emma, die Puppe ist absolut unbezahlbar für mich. Sie ist der wertvollste Gegenstand, den ich besitze. Wertvoller als mein Computer. Wertvoller sogar als meine teure Uhr!« Er hielt wie zum Beweis sein Handgelenk hoch. Emma hatte keine Ahnung vom Wert teurer Uhren, aber es hatte sie damals beeindruckt, dass er die Armbanduhr mit seiner goldenen Kreditkarte bezahlt hatte. Außerdem hatte der Verkäufer Emma einen winzigen Anhänger in Herzform geschenkt. Sie ahnte also, dass die Uhr ein Vermögen gekostet hatte.
In Emmas Kopf schien es jetzt tatsächlich zu rattern. »Ist die Puppe deshalb immer im Glasschrank eingesperrt?«, bohrte sie nach. »Damit niemand sie klaut, wenn jemand hier einbricht?«
Im Frühjahr war in der Wohnung über ihnen eingebrochen worden, und die Sache beschäftigte Emma wohl immer noch.
Kai nickte, auch wenn das nicht der Grund seiner Vorsichtsmaßnahmen war. Die Puppe war gleich doppelt geschützt. Sie lagerte in einer geschmackvollen Samtschachtel, die wiederum in...
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