Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Montreal 1982
»Blut .«, raunte der alte Mann und atmete schwer durch den Mund. »Blut .«
Die Stimme zerschnitt die Stille wie eine Schere ein Blatt Papier. Das erste Wort in zwei Tagen. Jacobina, die sich auf dem schmalen Sessel neben dem Bett zusammengekauert hatte, schrak hoch und starrte ihn an. Seine Augen waren halb geöffnet, von seinen Lippen lösten sich kleine Hautfetzen.
Stundenlang hatte sie in dem überheizten Zimmer gesessen und ihn beim Schlafen beobachtet. Wie er dagelegen hatte. Reglos, die Mundwinkel heruntergezogen, das leichte Auf und Ab seiner Brust das einzige Lebenszeichen.
Die Stille wurde nur unterbrochen vom dumpfen Glockenschlag eines Kirchturms, der regelmäßig daran erinnerte, dass wieder etwas Zeit vergangen war. Meistens schaute Jacobina dann kurz auf ihre Armbanduhr, um sich zu vergewissern, welche Viertelstunde gerade geläutet hatte. War es schon halb vier? Oder erst halb drei?
Vier Mal am Tag der Besuch einer Schwester. Morgens kam die ruhige Blonde zum Temperatur- und Blutdruckmessen. Sie hantierte schnell und sicher mit den Instrumenten, legte dem Patienten sanft die Manschette um den Arm. Jacobina hörte das Pumpen des Gummiballs und kurze Zeit später das Zischen der abgelassenen Luft. Die Blonde machte sich eine Notiz und verschwand.
Nachmittags erschien die Rothaarige mit den quietschenden Gummisohlen. »Sie sollten jetzt nach Hause gehen«, sagte sie jedes Mal in breitem Quebecer Französisch, wenn sie den Tropf wechselte oder den Urinbeutel leerte. »Er ist sehr erschöpft.« Jacobina schüttelte immer nur den Kopf. Das derbe Québécois der Rothaarigen dröhnte ihr in den Ohren.
Gegangen war sie irgendwann dann doch jeden Abend, um in einer kleinen Pension zu übernachten. Keine besonders gepflegte Unterkunft, dafür billig und gleich neben dem Krankenhaus gelegen. Braune Vorhänge, durchgelegene Matratze. Den Kirchturm hörte Jacobina auch dort jede Viertelstunde. Ihr Kopf summte. Bilder des Vaters schwirrten vor ihren Augen. An Schlaf war bisher kaum zu denken gewesen.
»Blut«, wiederholte der Alte, jetzt etwas lauter, mit einem zischenden t. Dann versagte seine Stimme. Er presste die Lippen zusammen und versuchte zu schlucken, was ihn sichtbar große Anstrengung kostete.
Jacobina starrte ihn wie gebannt an. Würde er sich freuen, sie zu sehen?
»Vater?«, fragte sie leise. »Kannst du mich hören?« Ein hohles Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus - eine Mischung aus Erleichterung und Unsicherheit. Sollte sie sich auf sein Bett setzen, seine Hand nehmen und sein Erwachen beschleunigen? Nein, dachte sie. Es war besser, ihm etwas Zeit zu geben. Er musste sich besinnen.
Ihr Vater zog seinen Arm unter der Decke hervor und wischte sich über die Augen. Seine Bewegungen waren stockend. Er schien Jacobina nicht wahrzunehmen. Er richtete seinen Blick auf die Wand gegenüber seines Bettes und betrachtete konzentriert das etwas zu niedrig platzierte Bild, das wohl dort aufgehängt worden war, um dem Krankenzimmer ein wenig Farbe zu verleihen. Der Eiffelturm war im Halbdunkel noch deutlich zu erkennen. Eine dieser Billigreproduktionen eines impressionistischen Malers, hatte Jacobina vermutet, als sie das Zimmer zum ersten Mal betreten hatte. Aber keines der typischen Monet-Motive, die immer auf Kalenderblättern abgedruckt waren. Jacobina hatte das Bild vorher noch nie gesehen. In ihren langen Wartestunden hatte sie es selbst ausgiebig betrachtet. Nicht, weil es ihr besonders gefiel - ganz im Gegenteil -, sondern weil es das Einzige in diesem Zimmer war, das sie nicht ständig an den Tod denken ließ. An den Tod und die Erwartungen, die sie erfüllen müsste, wenn er eintraf - falls er eintraf.
Würde sie weinen können? Würde sie die Trauer empfinden können, die man beim Tod des Vaters zu empfinden hatte? Und wie würde sie sich anfühlen? Wie die Leere, die sie durchflutete, wenn sie ihren Job machte? Lähmende Büroroutine, ohne Erfolge, ohne Niederlagen. Oder wie die Einsamkeit, wenn sie alleine im Restaurant saß und der Kellner das zweite Gedeck ihr gegenüber abräumte? Dieses erdrückende Gefühl kannte sie. Sie hatte in all den Jahren gelernt, es zu ertragen.
Aber womöglich würde sie gar nichts empfinden. Denn der Tod konnte nichts mehr ändern. Sie hatte ihren Vater bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten verloren. Damals, als sie kaum einundzwanzig gewesen und fortgegangen war. Er hatte ihr nie verziehen.
Der Tod ihrer Mutter, der war schlimm gewesen. Jacobina hatte Jahre gebraucht, nach Mutters Gesprächigkeit ihr endgültiges Schweigen zu akzeptieren. Sie fehlte überall. Ihre kurzen, fast täglichen Anrufe, die immer ungelegen kamen. Belangloses Gerede.
»Jackie-Schatz, geht's dir gut?«
»Mama, ich bin im Büro. Ich kann jetzt nicht lange sprechen.«
»Ich will ja nur wissen, ob alles in Ordnung ist.«
Mutters unerwünschte Pakete mit Bitterschokolade und Bagels aus der Bäckerei Saint-Viateur. Ihre Briefe mit den krakeligen Buchstaben, die Jacobina schon von weitem erkannte. Dass der Winter zu lang war, schrieb die Mutter, dass es schlecht um ihre Gesundheit stand. Jacobina hatte fast nie geantwortet. Zu Pessach schickte die Mutter jedes Jahr mehr Matzenbrot, als Jacobina jemals hätte essen können. In New York gab es zwar mehr koschere Geschäfte als in Montreal, aber davon wollte die Mutter nichts wissen. Damals hatte die Fürsorglichkeit gestört. Jetzt, Jahre später, vermisste Jacobina sie noch immer. Sehnte sich nach den vielen Anrufen. Hätte sie sich doch mehr gekümmert, dachte sie oft, es wäre das Mindeste gewesen. Sie hatte zu spät verstanden, dass die Mutter ihre einzige Heimat gewesen war.
Aber der Vater. Das war etwas anderes.
Jacobinas Blick kehrte zurück zum Krankenbett. Seine Kälte würde sie nicht vermissen. Dennoch war sie jetzt gekommen, um von ihm Abschied zu nehmen. Er hatte genug durchgemacht in seinem Leben. Er sollte nicht auch noch alleine sterben. Pflichtbewusstsein des einzigen Kindes.
Plötzlich hustete er so heftig, dass sein Kopf dabei in kurzen Stößen nach vorne ruckte. Dann machte er erneut den Versuch zu sprechen. »Blut«, keuchte er, hielt kurz inne und fuhr dann angestrengt fort: ». ist dicker . als Wasser.« Stöhnend schloss er die Augen, als hätte ihn das Aussprechen dieses Satzes seine letzte Kraft gekostet.
Jacobina zuckte leicht zusammen. Wie oft hatte er das früher gepredigt. Das war immer seine Erklärung für alles gewesen: für Krieg und Frieden, für Treue und Verrat.
Hatte er mit ihr gesprochen? Oder war er im Delirium? »Akuter Schwächeanfall«, hatte der Arzt gesagt, als er sie angerufen und umgehend hergebeten hatte. Das konnte vieles bedeuten. »Es geht dem Ende zu«, hatte er hinzugefügt. Keine weiteren Fragen.
Seit sie in Montreal eingetroffen war, hatte Jacobina nicht viel mehr herausfinden können. Der Arzt war beschäftigt, hatte sich nur wenige Minuten Zeit für sie genommen. Gut, dass sie da sei. Ein kurzer Händedruck. Ihr Vater sei geschwächt, man müsse abwarten.
Vater hatte nie mit ihr über seinen Gesundheitszustand gesprochen. Sicher, seine Mobilität hatte in den vergangenen Jahren rapide abgenommen, und er litt schon lange unter Schlaflosigkeit. Normale Alterserscheinungen. »Altsein ist beschissen«, hatte er oft gesagt. »Nichts macht mehr Spaß. Alle Knochen tun einem weh.« Aber wie es genau um ihn stand, ob er mit zu hohem Blutdruck oder Diabetes zu kämpfen hatte, ob irgendwo ein Krebs in seinem Körper wucherte oder warum er die kleinen, blauen Tabletten schluckte, davon hatte Jacobina keine Ahnung. Und es hatte sie auch nie interessiert.
Eine Putzfrau hatte vor über einer Stunde den Boden gewischt, aber der strenge Geruch des Desinfektionsmittels hing noch im Raum. Jacobina schaute aus dem Fenster, das man nicht öffnen konnte. Die Fensterscheiben waren doppelt verglast. Straßengeräusche drangen nur gedämpft herein. Das Leben da draußen war weit weg. Unwirklich.
Obwohl es erst vier Uhr nachmittags war, waren die Straßen bereits beleuchtet. Es hatte wieder angefangen zu schneien. In schrägen Linien strebten die Flocken der Erde zu. Diese verdammten kanadischen Winter. Wie hatte Jacobina sie immer gehasst. Die endlose Dunkelheit, die rotgefrorenen Hände. Sie hatte fast alles hier gehasst. Warum hatte das bloß niemand verstehen wollen?
Jacobina tastete mit den Fingern nach dem Schalter, um die Nachttischlampe anzuknipsen. Doch dann besann sie sich anders und zog die Hand wieder zurück. Ihr Vater liebte die Dämmerung, erinnerte sie sich mit einem Anflug von Milde. Dieses Zwielicht, das den Abend ankündigte und allmählich alles zur Ruhe kommen ließ. Zu Hause hatte er oft im Halbdunkel gesessen. Nur die kleine Wandlampe, die die Krankenschwester am späten Vormittag angeschaltet hatte, ließ Jacobina brennen. Licas rechte Wange leuchtete matt in ihrem Schein.
Er räusperte sich und öffnete erneut die Augen. Jacobina nahm das Glas vom Tisch, füllte es mit Wasser aus der Karaffe, die die Blonde morgens gebracht hatte, und hielt es ihm schweigend hin. Doch er reagierte nicht darauf und starrte wieder wie gebannt auf die Umrisse des Eiffelturms. Sein Gesicht wirkte jetzt noch eingefallener als bei Tageslicht. Breite, schwarze Falten zerklüfteten seine Stirn, und die wenigen verbliebenen Haare klebten strähnig am Kopf. Mein Gott, wie alt er aussah! Er war alt. Zweiundachtzig. Obwohl sie ihn zwei ganze Tage lang fast ständig betrachtet hatte, erschien Jacobina die hagere Gestalt mit den grauen Wangen wie ein Fremder. Nichts erinnerte an den munteren,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.