Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ein Dorf nahe der italienischen Grenze. Spät am Abend ist die Erzählerin nach einer Todesnachricht dort eingetroffen. Orion ist gestorben, mit dem sie viele Jahre ihres Lebens geteilt hat, ehe sie mit dem Kind die Flucht ergriff. Sie will die Nacht vor der Totenmesse im Wirtshaus am Waldrand zubringen, einer ehemals herrschaftlichen Villa. Doch diese ist wie ausgestorben, der sizilianische Wirt verreist, die Wirtschafterin wie jedes Jahr zur Fasnacht im Ort jenseits der Grenze, wo sich die Dorfbewohner als »Schöne und Hässliche« verkleiden. Zwar findet sie Zuflucht im unverschlossenen Gartensaal, wo sie früher oft zusammengesessen haben. Doch aufgestört von beunruhigenden Berichten aus dem benachbarten Tal, bedrängt von Erinnerungen an Orion und von Bildern aus der Kindheit, gerät die Erzählerin in einen zwischen Nachtwache und Schlaf oszillierenden Zustand. Nicht nur Szenen aus der Vergangenheit suchen sie heim, gegen Morgen tauchen auch maskierte Gestalten auf, die sie zugleich erschrecken und anziehen.
Auswandern und Vertriebensein, Verlust und Wiedergewinn, Trauer und das Irrlichtern während der Fasnachtszeit verbinden sich in Gertrud Leuteneggers Roman zu einer traumwandlerischen Gegenwart, »als würde alles, ein wenig nur von der Wirklichkeit verrückt, noch einmal neu gesehen werden können« Ulrich Rüdenauer, Der Tagesspiegel.
Es dunkelt schon, als ich den ovalen Platz unter den Bäumen betrete. Nichts rührt sich, nur der Kies knirscht unter meinen Schritten. Kein Luftzug geht hier oben, ein klarer Februarabend, in der Tiefe liegt über der Lombardei ein von diffusen Lichtern erhellter Nebelschleier. Lange lehne ich auf dem Friedhof den Kopf an die verriegelte Tür der Totenkapelle, im Sommer von Schwalbengezwitscher erfüllt, undurchdringliche Schwärze schlägt mir durch die zwei Türfenster entgegen, nicht den geringsten Umriß des Sargs kann ich erkennen. Orion ist gestorben! Unbemerkt in der Nacht. Furcht und Liebe, Zorn und Flucht, alle Glückseligkeiten und die bestürzende Unvernunft meines Herzens fallen in diesem einen Augenblick zusammen, da ich den Geruch der verschlossenen morschen Holztür einatme. Orion aber ist wieder jung, er sitzt auf dem Außendeck der Fähre über den Hudson River, zu seinen Füßen der verbeulte Fiberkoffer, mit den eingedrückten Beschlägen, den rostigen Schlössern, nie fühlt Orion sich leichter unterwegs als mit seinem Fiberkoffer. Auch jetzt hat er ihn mitgenommen, er muß neben dem Sarg stehen, ich kann ihn nur nicht sehen im Finstern der Totenkapelle, Orion hat geduldig gewartet, bis der Tod ihn holte zu dieser letzten Überfahrt. Er hat sich kein Leid angetan! Etwas wie Triumph durchzuckt mich. Wilde Dankbarkeit. An die Holztür gepreßt, neige ich den Kopf.
In den getönten Bogenfenstern der kleinen Vorhalle erlischt der Blauton. Das gewaltige Bergmassiv über dem Dorf wird eins mit dem Nachthimmel. Da und dort schimmert noch ein Fotomedaillon, von verlassenen Grabstätten strömt ein Duft von Moos und Efeu. Zurück auf dem Platz unter den Bäumen, sehe ich erst jetzt bei den Roßkastanien zur Straße hin die Reste von Schnee, übersät von Konfetti. Und was ist mit diesen nach vorn geknickten rötlichen Ohren, die aus dem schmutzigen Weiß hervorragen? Ich ziehe nur etwas daran, da kommt die ganze Schweinsmaske mit plattgedrücktem Rüssel zum Vorschein. In den Nasenlöchern steckt Kies, die aufgemalten Augen sind übergroß, keineswegs schweinemäßig winzig und schief geschlitzt, sondern sehr dominant, vergnügt die schwarzen Pupillen rollend. Rasch, als würde sonst das Schweinchen gleich zu grunzen anfangen, bedecke ich es wieder mit Schnee und richte mich auf. Die Linden, die gegen den See unten in der Ebene den Platz begrenzen, neigen sich seitwärts, beladen von den Geschichten des Dorfes, sich krümmend unter der Herrschaft des Berges, die Kronen immer wieder beschnitten, jeden Frühling aufs neue ausschlagend. Und ich bin nie fortgewesen.
Heute nachmittag um drei Uhr wird für Orion die Totenglocke geläutet haben. Der seltsam hohe, eintönige Klang, bei dem uns jedesmal der Atem stockte, hat die Geräusche im Dorf unterbrochen, und in der jähen Stille dringt sein Klagelaut bis in die engsten Gassen. Nur der Wasserfall hinter dem Dorf tost noch vernehmlicher, ungestüm und ungerührt stürzt er sich die Felswand hinunter. Die Kinder, die schon ihren Fasnachtstag hinter sich haben, werden bald wissen, daß Orion gestorben ist. Sie brauchen nicht mehr schräg über den Platz davonzurennen, wenn er auftaucht, in der größten Sommerhitze in seinem langen schwarzen Mantel und dem breitkrempigen Hut, oder an einem frostigen Wintermorgen in einem flatternden Anzug, dünn wie Seidenpapier, den er an unserer Hochzeit trug. Seine stoische Unempfindlichkeit jedem Wetter gegenüber ließ ihn als ein Fabelwesen aus einer anderen Klimazone erscheinen, zudem schlief er tagsüber meist und starrte nachts in den letzten vom lombardischen Dunst ausgesparten Tiefen des Himmels nach den Sternen. Vielleicht wagen sich nun die Kinder, bei Dämmerung, in den Garten auf der Südseite des Dorfes vor, wo halb zugewachsen von Farnen und Brennesseln Orions Teleskop steht, sie befingern die rostigen Schrauben des Ungetüms, das wie eine abgestürzte Mondrakete zwischen den Büschen aufleuchtet, oft hat Orion versprochen, ihnen den Andromedanebel mit seinen drei kugelförmigen Zwerggalaxien zu zeigen, aber wenn sie sich dann zu verabredeter Stunde in die Nähe schlichen, war niemand da.
Vom Platz aus werfe ich nochmals einen Blick hinüber zur Totenkapelle auf dem Friedhof. Erst morgen kann ich die Hände, den Kopf auf Orions Sarg legen, nichts ist seiner Totenruhe angemessener als diese verriegelte Tür. Jahrelang stand sie offen, jahrelang schlug sie auf und zu, jahrelang war ich nicht fähig, mit Abstand und ohne Angst auf die hinter der Tür lauernden Schrecken zu blicken, waren sie denn nicht gleichzeitig da mit dem ganzen Glanz des Lebens? Wenn Orion die Tür zu seinen Abgründen aufstieß, war auch ich sofort jenseits der Schwelle, ich besaß zuviel Einbildungskraft, das war mein Verhängnis. Jetzt hat der Tod die Tür geschlossen. Der Nebelschleier über der Lombardei ist dichter geworden. Überrascht betaste ich meinen leichten Mantel, warum nur habe ich mich nicht wärmer angezogen? Unverzüglich, ohne die Kleider zu wechseln, eilte ich nach der Mitteilung von Orions Tod auf den Zug, ich wollte ihn noch sehen, noch ein Mal berühren, die Fahrt war lang, ich kann mich schon an nichts mehr erinnern. Nie prägt sich mir etwas von einer Hinreise in den Süden ein, nur von der Rückreise, jede Rückreise ein Schnitt mit dem Messer, tief hinein in den Wundkanal jener Fahrt über den Gotthardpaß, mit dem letzten Blick in die Leventina hinunter, zerrissen vor Schmerz, nur das Kind im Wagen, auf der Flucht.
Man hat mir gesagt, ich würde bestimmt im Wirtshaus am Waldrand übernachten können, obwohl der Wirt seit langem keine Logiergäste mehr aufnimmt, man hat im Dorf nicht vergessen, daß ich früher dort oft Zuflucht suchte. Ich wisse ja, unter welchem Stein in der Gartenloggia der Wirt bei Abwesenheit den Schlüssel hinterlege, seit Sizilien dem Ansturm der Migranten ausgesetzt sei, fahre er häufiger nach Modica zurück. Hinter wenigen Fenstern im Dorf ist noch eine Lampe angezündet, hin und wieder ein heller Bildschirm in einem dunklen Zimmer. Ohne Zögern gehe ich durch die schmalen Gassen, die Hausmauern neigen sich gegeneinander und lassen nur einen Spalt des Nachthimmels frei. Als wäre ich in ein unterirdisches Labyrinth eingetreten, wandert das Echo des Wasserplätscherns aus den vielen Brunnen hin und her, Brunnentröge aus Granit, einstige Särge aus römischer Zeit. Flüche und Schreie der Tagesgeschäfte sind verstummt, aber plötzlich höre ich die leichtfüßigen Schritte hinter mir, mit den unregelmäßigen kleinen Hüpfern, die Schritte des Kindes, das Orion mir anvertraute wie einen Traum.
Die Kastanien am Waldrand sind so licht, daß ich beim Näherkommen jeden einzelnen Bogen der drei übereinanderliegenden Loggien erkennen kann, auch etwas beunruhigt feststelle, daß nirgends in der ehemals herrschaftlichen Villa eine Lampe brennt. Der ebenerdige Raum der Wirtschaft war um diese Zeit meist verlassen, aber im oberen Stockwerk sah man dann aus einem der Zimmer eine schwache Helligkeit in die mittlere Loggia fallen, die in doppelt so viele Bogen gegliedert ist und dem Säulenakkord der Gartenfassade jede Schwere nimmt. Wo ist nur der Wirt? Vielleicht finde ich keinen Schlüssel unter dem Stein und bleibe für diese Nacht, vor der verriegelten Totenkapelle und einem verschlossenen Haus, ausgesetzt zwischen Leben und Tod. Aber dachte ich denn überhaupt zu schlafen? Versunkene Szenen, Stimmen stürmen hoch. Und jähe Furchtlosigkeit. Entwaffnet, beginne ich Orion, wie ich das mit allen vertrauten Toten tue, zärtlich ruhelos zu bedrängen, jetzt, da du alles weißt, sag, was ging damals vor?
Nur das Knarren dürrer Kastanienäste antwortet. Die eben noch blitzartig erleuchteten Szenen erlöschen, die Stimmen verstummen, das Leben Orions hat sich zusammengezogen in seinen verbeulten Fiberkoffer. Wenn die rostigen Schnappschlösser endlich mit Widerstand aufspringen, bleibt nichts davon übrig als der beißende Zigarettengeruch, der alles in Orions Nähe durchdringt, Mantel, Hut, Skizzen, Planrollen. Zigarettenasche...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.