Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Edda Langner stand mit zwei prall gefüllten Segeltuchtaschen vor dem hinteren Busausstieg, eingeklemmt in der Menge der Mitfahrenden. Ihre lederne Handtasche trug sie schräg über dem Oberkörper, um in jeder Hand eine der ausladenden Taschen halten zu können, die zwar nicht schwer, aber unhandlich waren. Sie bugsierte sie mühsam durch die Masse von Menschen, die unmittelbar vor Schul- und Arbeitsbeginn unterwegs waren. Manchmal wünschte sie sich, Jugendliche würden Älteren ihren Sitzplatz abtreten, so wie sie es selbst früher getan hatte, doch das passierte heutzutage nur alle Jubeljahre einmal. Ich sehe eben noch nicht so alt aus, versuchte sie sich zu trösten, doch wenn sie ehrlich war, wusste sie genau, dass ihre grauen Haare sie in den Augen von Kindern eher noch älter als 58 machten.
Der Busfahrer bremste so abrupt, dass mehrere Fahrgäste stolperten und unfreiwillig nach vorn, zurück oder zur Seite taumelten. Dabei verkeilte sich die Tasche, die Edda links trug, so unglücklich zwischen Rucksäcken, Armen und Schultern, dass sie sie von leichter Panik befallen im letzten Moment losließ.
Als sie auf dem Gehweg stand und sich beide Bustürhälften seufzend schlossen, sah sie aus dem Augenwinkel, wie ein halb garer, rothaariger Bursche aus dem Bus sich in ihre Richtung ironisch zum Dank verneigte. Er schwenkte dabei zwei, drei Holunderzweige wie eine Trophäe über seinem Kopf. Edda war bedient. Eine Stunde Arbeit im Eimer. Und der schöne, stabile Segeltuch-Shopper beim Teufel.
Sie hatte noch überlegt, ob sie nur eine oder doch besser beide Taschen mit Holunderblüten füllen sollte. In der Feldflur hinter ihrem Haus gedieh der Schwarze Holunder prächtig und säumte die Wege im Frühsommer mit seinen weißen, duftigen Blüten, die wie Schaumkronen auf dem grünen Blättermeer tanzten. Doch gestern hatte sie dann gar nicht mehr aufhören mögen, die Dolden abzuknipsen, so herrlich meditativ fand sie die Arbeit. Außerdem hatte sie im Stillen gehofft, dass die Chefin, der sie die Blüten versprochen hatte, damit genug Sirup produzieren würde, um ihr ein Fläschchen abzutreten. Dann hätte sie endlich wieder einen guten Grundstoff für ihren Lieblingscocktail Hugo. Doch so blieb wieder nur der Sirup aus dem Supermarkt, den sie viel zu süß fand. Unwirsch ruckte Edda ihre Handtasche zurecht, klemmte die Tragegriffe des verbliebenen Shoppers unter dem rechten Arm fest und trat in zügigem Schritt ihren Fußweg an.
Das süße Aroma der Holunderblüten stieg ihr in die Nase und weckte eine vage Erinnerung. Sosehr sie sich aber auch bemühte, sie bekam sie nicht richtig zu fassen. Der Treibsand verstrichener Jahre hatte davon nicht mehr als eine Ahnung zurückgelassen. Es musste ein schönes Erlebnis gewesen sein, Edda spürte, wie ein Hauch Sehnsucht sie streifte.
Sie schloss die massive Holztür auf und betrat den Handarbeitsladen >Nähschiff & Nadelflotte< durch den Hintereingang. Im Flur ließ sie die Riesentasche mit den Dolden auf den Boden gleiten und schob sie sacht mit dem Fuß an die Wand. Sie streifte den Lederriemen über den Kopf, hängte die Handtasche an den Griff der Küchentür und fuhr sich mit beiden Händen durch die raspelkurzen Haare, ihr Markenzeichen. Mecki-Schnitt hatten ihre Freunde früher dazu gesagt, oder Igel. Dann kam jemand auf Stachelbeere, und diese Bezeichnung hatte ihr gefallen, sie klang so vorwitzig-weiblich.
Edda war früh dran. Umso besser, dann konnte sie Kaffee aufsetzen und in Ruhe ein Tässchen trinken, bevor die quirlige junge Chefin den Laden mit Tatkraft flutete.
Es war Montagmorgen. Wahrscheinlich würden sie Zeit haben, die neuen Angebote der Lieferanten zu studieren, bevor die ersten Kundinnen den Laden betraten. Edda freute sich darauf, in den Katalogen zu schmökern. Handarbeiten waren ihre Leidenschaft, schon seit der Schulzeit. Während ihre Freundinnen im Bett bei Taschenlampenschein aufgeregt >Bravo<-Heftchen durchgeblättert hatten, hatte sie selbst bis tief in die Nacht hinein Norwegermuster gestrickt. Sie tat das für ihr Leben gern, begleitete das Werden eines Kleidungsstücks mit dem stolzen Staunen der Urheberin und sah gespannt zu, wie selbst entworfene Rhomben, Sterne und Ranken heranwuchsen.
Wolle, Garn und Webwaren strahlten für Edda Geborgenheit aus, es waren die Rohstoffe einer Kreativität, die Beständiges schuf. Stricken war ihre liebste Handarbeit, doch sie brannte auch für Häkeln, Sticken und Nähen. Sie bekam nicht genug davon, aus Seide, Mohair, Baumwolle, Perlgarn, Filz und Kunstleder etwas Neues, etwas Einmaliges entstehen zu lassen.
Edda hatte auf dem Lederstuhl hinter dem Verkaufstresen Platz genommen. Die Ladentür war aufgesperrt. Falls eine Kundin oder ein Kunde einträte: Sie wäre bereit.
Ein wenig wunderte sie sich, dass Maike noch nicht da war. Zwar kam die Chefin hin und wieder ein bisschen später, aber sie versäumte es eigentlich nie, Edda darüber zu informieren. Nun ja, Montagmorgen. Maike wusste, dass nichts Dringliches anlag, wahrscheinlich dehnte sie das Frühstück ein wenig aus; Henri, ihr Mann, war in Kurzarbeit geschickt worden und hatte es vermutlich nicht eilig. Das Uhrengeschäft, in dem er als Feinwerkmechaniker arbeitete, durchlebte gerade eine Auftragsflaute. »Eine vorübergehende«, wie Maike ihren Mann zitierte. Mal sehen, dachte Edda.
Ihr Blick fiel auf den Holunderstängel, den sie aus dem Doldenmeer herausgefischt und in eine schmale Glasvase gestellt hatte. Seine Blüte war klein und von berührend filigraner Anmut. Spontan zog sie einen Bleistift aus dem mintfarbenen Stifteköcher, schnappte sich ein Blatt aus dem Papierstapel des Belegdruckers und begann mit einer Skizze.
In schnellen, sicheren Strichen hatte sie fünf Blätter um einen schlanken, geschwungenen Stiel angeordnet, dann begann sie eine schirmförmige Rispe zu zeichnen. Sie ließ einzelne Blüten aus der Dolde hervorschießen wie weiße Sternschnuppen. Voilà! Ein aufregend asymmetrisches Gebilde war entstanden. Sie konnte sich die Holunderblüte als pastellfarbenes Strickmuster auf mitternachtsblauem Grund vorstellen oder auch als Stickvorlage für eine Tischdecke. Sie würde mit Maike besprechen, ob sie darauf aufbauend vielleicht sogar einen Blütenmusterkatalog entwickeln sollte. Wie sie diese kreative Arbeit liebte!
Edda betrachtete die Skizze noch einmal mit Abstand - und plötzlich war sie da, die Erinnerung. Sie mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein, als sie für den Biologieunterricht ein Herbarium anlegen sollten. Taglichtnelke, kriechender Günsel, Holunderblüte, Hahnenfuß, Spitz- und Breitwegerich, Bärenklau. Oft war sie gemeinsam mit einem Mitschüler und Freund aus Kindergartentagen losgezogen, um die Blumen und Kräuter zu sammeln. Rafael - oder hieß er Rainer? - riss stets voller Ungeduld die Pflanze mitsamt fleischiger Wurzel aus dem Boden und wunderte sich dann, wenn sie beim Pressen nicht richtig trocknete. Doch eines Tages .
Edda stockte. Ihr Blick war durch das Schaufenster auf zwei betagte Damen gefallen, die auf dem Gehweg vor dem Laden innegehalten hatten. Sie kauften hin und wieder Druckknöpfe oder Stopfgarn für zwei Euro zwanzig und taten dann so, als könnte das Geschäft ohne ihre Einkäufe nicht existieren. Jetzt fuchtelte die Ältere mit ihrer Gehhilfe vor der Fensterscheibe herum, und beide schüttelten, als sie Eddas Blick bemerkten, empört die dauerwellenumrahmten Häupter. Edda sprang auf, doch als sie aus der Ladentür trat, hatten sich die beiden abgewandt und watschelten, immer noch kopfschüttelnd, weiter.
Edda kontrollierte den Gehweg, sammelte drei Hamburgerverpackungen auf, die der Wind an die Wand vor dem Schaufenster gedrückt hatte, und ging ins Haus zurück. Vermutlich hatten die Alten geargwöhnt, der Müll stamme aus ihrem Laden.
Edda entsorgte das Einwickelpapier im Müllcontainer auf dem Hof und nahm wieder im Lederstuhl Platz. Die Zeichnung lag vor ihr auf dem Verkaufstisch. Feingliedrige Blätter, zarte Blüten, wie in ihrem Herbarium, wie es sein sollte. Rainer hingegen - nein, Raimund hieß er! - hatte sich wie ein Junge fürs Grobe gebärdet.
Sie erinnerte sich jetzt lebhaft an die eine besondere Szene. Als sie Raimunds frisch geschnittenen, feisten Holunderstängel sah, entwand sie ihm diesen lachend und ließ ihn so lange neue Stiele schneiden, bis er einen passend zierlichen vorweisen konnte. Da saßen sie dann inmitten der duftenden Dolden, stachen ihre Strohhalme in die Pappkrusten von Sunkist-Pyramiden und saugten, plötzlich verlegen, süßliche Limonade ein. Da ergriff Edda die Initiative: Indem sie vorgab, die geschnittenen Stängel zu sortieren, berührte sie wie beiläufig Raimunds Finger. Zuerst hatte er seine Hand erschrocken zurückgezogen, doch es dauerte nicht lange, bis er Gefallen an dem Spiel fand. Hatten sie sich nicht schließlich sogar einen hastigen Kuss auf die Wange gedrückt? Edda schloss die Augen, um die Bilder jenes Sommers heraufzubeschwören.
Die gläserne Pendeltür ächzte, jemand betrat energischen Schrittes den Laden. Edda schrak zusammen. Kaum war sie einmal ausnahmsweise nicht hundertprozentig präsent, rauschte natürlich die Chefin herein!
Doch es war nicht Maike, sondern Frau Padderatz, die Frührentnerin, die über dem Supermarkt wohnte und an manchen Tagen mit einem schier unerschöpflichen Redebedürfnis in den Laden kam. Sie betrachtete dann vorgeblich Wollneuheiten, während sie sich mit zunehmender Empörung über rauchende...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.