Prolog
Das Blut der Giraffe Das zehn Kilogramm schwere Herz des Tieres schlug schneller als üblich. Mehr als sechzig Liter Blut pumpte es durch den lang gestreckten majestätischen Körper, der von den Paarhufen bis zu den zapfenförmigen Hörnern am Kopf mehr als fünf Meter maß. Das mit Schweißtropfen durchtränkte Fell roch nach Fäkalien, hervorgerufen durch einen biochemischen Cocktail aus Methylindol, Benzaldehyd und Hexadekansäure. Die bakterien- und pilzhemmende Substanz, deren stechender Geruch in der freien Natur dazu diente, blutsaugende Zecken zu vertreiben, enthielt aber noch eine weitere Ingredienz.
Adrenalin.
Die Giraffenkuh hatte Angst. Die Pupillen ihrer nussbraunen Augen waren geweitet, ihre Ohren aufgestellt, ihre Atmung ging flach und schnell. Die Anspannung der kräftigen Muskeln war an jeder Stelle deutlich sichtbar, insbesondere an ihrem langen Hals, wo das Zusammenspiel der sieben Halswirbel in diesem Moment für eine vornübergebeugte Schwenkbewegung sorgte. Flehend stieß das Tier einen im Infraschallbereich liegenden Laut aus, der für die umstehenden Männer nicht hörbar war. Nur das neugeborene Kalb, welches die Wissenschaftler in den weißen Schutzanzügen in einem verglasten Nebenraum isoliert hatten, konnte die Hilferufe der Mutter durch einen Fensterspalt wahrnehmen.
Ethan Cold, der fast siebzigjährige Vorstandsvorsitzende von GLOBALPHARM, beobachtete die Szene in der keimfreien und mit Neonlicht durchfluteten Laborhalle von einer erhöhten Position aus, auf dessen umlaufender Empore eine Wendeltreppe aus Stahl führte. Seine eiskalten grauen Augen nahmen mit Verärgerung zur Kenntnis, dass sich die Giraffe in dem Metallkäfig widerspenstig zeigte. Mehrmals schon hatte er die Forscher angewiesen, weitere Infusionsnadeln in die Venen des Tieres zu bringen, um an eine größere Menge Blut zu kommen. Doch immer wieder riss sich das langsam in Panik verfallende Tier die spitzen Eindringlinge durch schmerzvolles Reiben an der Box aus dem Körper.
»Könnt Ihr das Scheißvieh nicht einfach betäuben?«, schrie er den stellvertretenden Leiter der Forschungssektion III an, wobei es ihm die Zornesröte in das von Pigmentflecken übersäte Gesicht trieb.
»Wir brauchen das Blut in reinster Form, frei von anderen Substanzen«, erwiderte der korpulente Mann mit der Hornbrille von seinem Kontrollmonitor aus. Seine Antwort klang entschuldigend, fast devot.
»Das liegt an diesem verdammten Käfig«, blaffte Cold und lockerte sich seine teure Seidenkrawatte. »Der Käfig muss viel enger sein, das Vieh darf sich überhaupt nicht bewegen können. Wer hat diese Scheißkonstruktion überhaupt freigegeben?«
Sie selber, hätte der übergewichtige Mann am Fuß der Wendeltreppe am liebsten seinem Arbeitgeber geantwortet, verkniff sich aber jeden Kommentar. Stattdessen schritt er auf die Box zu und unterstützte seine Leute, die immer wieder mit kleinkalibrigen Spezialpistolen auf den eleganten Rumpf der Giraffe feuerten.
Paff! Paff! Paff!
Ähnlich wie bei einer an einem Seil hängenden Harpunenspitze drangen die Kanülen durch das Fell des Tieres, sodass unmittelbar darauf das Blut durch die am Projektil hängenden Plastikschläuche in die Behälter der Messgeräte floss - wenn es denn floss. Denn nur jede dritte Nadel blieb halbwegs unter dem glänzenden Fell stecken. Und bisher hatten sie keine einzige Vene getroffen, obwohl das Tier mit Hunderten von Nadeln übersät war.
Die Giraffe litt entsetzlich.
Ethan Cold dachte nach. Diese Dilettanten waren einfach zu weich für diesen Job. Weich und inkompetent. Sie zeigten Skrupel, obwohl er sie wie Manager von Automobilkonzernen entlohnte. Und sie gefährdeten das gesamte Projekt, die Zukunft von GLOBALPHARM. Seit der Vorgänger dieses Trottels da unten die kurz vor dem Durchbruch stehende Versuchsreihe sabotiert hatte und mit sämtlichen Forschungsunterlagen getürmt war, herrschte hier das totale Chaos. Und langsam gingen ihnen die Giraffen aus, frische Ware aus Uganda traf erst in einer Woche ein. Außerdem hatten diese Dreckskerle von World Wide Found for Nature und ein paar andere durchgeknallte Tierschützer bereits die Spur aufgenommen. Weil irgendein Möchtegern von Enthüllungsjournalist das Maul nicht gehalten hatte. Es war zum Verzweifeln.
GLOBALPHARM brauchte das Giraffenblut, um überleben zu können. Um an die Spitze der Fortune 500 Unternehmen zu kommen. Ohne das Blut würde es den aufstrebenden Pharmakonzern in Kürze nicht mehr geben. Ohne das Blut der Tiere war die Produktion des schlafüberwindenden Präparats nicht möglich. Und aus irgendwelchen nicht nachvollziehbaren Gründen standen diese nichtsnutzigen Kreaturen unter Naturschutz. Dabei war ihr Blut das zukünftige Elixier der Menschheit. Denn Giraffen kamen mit weniger als zwei Stunden Schlaf pro Tag aus. Der Gencocktail in ihrem Blut war der Schlüssel zum innovativsten medizinischen Präparat der Menschheitsgeschichte.
Wir müssen Dr. Pascoe finden, dachte Cold grimmig an den wichtigsten Angestellten seines Konzerns, der in einem Anfall von Sentimentalität eine ganze Versuchsreihe eingeschläfert hatte und mit der Formel auf der Flucht war.
Wir müssen ihn finden, bevor es die Konkurrenz schafft.
»Sir? Mr. Cold?«, drang die Stimme dieser fetten inkompetenten Qualle, die dort unten ihren Dienst versah, an sein Ohr.
»Was ist?«, brüllte der Vorsitzende zurück und gab dem ganzen Team zu verstehen, dass er mit seiner Geduld langsam am Ende war.
»Wir verlieren das Tier. Es droht zu hyperventilieren. Wir sollten abbrechen.«
»Wir brechen dann ab, wenn ich es sage!«, schrie Cold. »Haben Sie das verstanden, Dr. Brian?«
»Wir haben nur noch dieses Exemplar. Und das Jungtier. Wir müssen abbrechen, bitte, Sir!«
»Nein!« Ethan Cold schäumte vor Wut. Er öffnete die Knöpfe seines dunkelblauen Zweireihers und warf das Jackett achtlos auf den Boden. Sein kleiner und drahtiger Körper, der das muskelgestählte Resultat von eisenharter sportlicher Disziplin war, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in dem großräumigen Hightech-Büro, welches mit allerlei Jagdtrophäen ausgeschmückt war.
Kurz darauf stand er wieder auf der Empore, eine Benelli M1014 in der Hand. Ein entsetztes Raunen ging durch die Halle. Instinktiv nahmen einige Wissenschaftler Deckung hinter Trennwänden, Säulen oder Computertischen.
»Was wollen Sie mit dem Gewehr?« Dr. Brian wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Hinter den dicken Brillengläsern zuckten seine Augen unruhig hin und her.
»Das ist kein Gewehr, Dr. Brian«, stieß Cold laut und verächtlich hervor, »sondern eine Flinte. Genauer gesagt eine Gasdrucklader-Selbstladeflinte, Kaliber 12/76. Ein Geschenk meines jüngsten Sohns. US Army Standardmodell. Damit knallt man normalerweise einem Taliban das Hirn aus dem Schädel.«
»Bitte, Sir .«, flehte der dicke Wissenschaftler, als Cold die Waffe auf ihn in Anschlag brachte.
Ethan Cold verzog sein Gesicht zu einer brutalen Maske. Nur die Andeutung eines eiskalten Grinsens fuhr über seine schmalen Lippen. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, die Hakennase nahm den Geruch der Waffe auf und dann den der bestialisch stinkenden Beute, die in diesem Moment in den Metallkäfig urinierte.
»Sie sind nicht eine einzige Kugel wert, Dr. Brian. Aber dieses Scheißvieh da vorne treibt mich zur Weißglut. Sobald ich abgedrückt habe, zapfen Sie ihm alles Blut ab!«
»Oh Gott, Sie können doch nicht einfach .«
»Halten Sie das Maul! Sie bekommen jetzt sechzig Liter Blut für Ihre Versuchsreihe. Und zwei neue Giraffen. In spätestens drei Tagen.«
»Wo wollen Sie so schnell Ersatz organisieren? Sie wissen doch genau, dass die Behörden in Afrika .«
»Afrika interessiert mich einen Scheißdreck«, schnitt Cold dem irritierten Wissenschaftler das Wort ab. »Ich habe andere Verbindungen.«
Es war still geworden in der großen Halle. Nur das leise Summen einiger elektronischer Geräte und der Klimaanlage erfüllte die Umgebung.
Und das nervöse Schlagen von vier Hufpaaren.
Als es verstummte, unternahm Dr. Brian einen letzten...