Ovcara, Kroatien - 24. November 1991
Keine fünfzehn Autominuten von Vukovar, einer von Serben belagerten Kleinstadt im Osten Kroatiens; auf einer regendurchtränkten und von Landwirtschaft geprägten Ebene, deren abgemagertes Vieh sich unter einem deprimierenden wolkenverhangenen Himmel wie einem Ruf folgend auf das letzte Gras an den flachen Uferzonen der sich schlängelnden Donau zu bewegte, lag die heruntergewirtschaftete Schweinezuchtfarm Ovcara, ein nur wenige Hektar großes Areal mit mehreren flachen Gebäuden. Ein gutes Dutzend altersschwacher grauer Busse und olivfarbener Militärtransporter stand ohne erkennbares Muster auf dem Innenhof verteilt und wurde von einigen Angehörigen der jugoslawischen Volksarmee bewacht. Die zwanzig mit Kalaschnikows bewaffneten Männer redeten kein Wort und starrten grimmig auf das stark vom Verfall gezeichnete Hauptgebäude, eine einhundert Meter lange Halle mit abblätterndem Außenputz und rostigem Wellblechdach.
Keiner der Männer bedauerte den Umstand, dass es in diesen Minuten anfing zu regnen, da innerhalb der Mauern zu diesem Zeitpunkt ein bestialisches Schlachten stattfand und nasse Kleidung allemal besser war als blutbesudelte. Allerdings waren nicht Schweine die Opfer, sondern gut dreihundert Gefangene aus dem Krankenhaus von Vukovar. Nervös zogen die Soldaten an ihren glimmenden Zigaretten, während in unregelmäßigen Abständen Salven und einzelne Schüsse durch die zersplitterten Lüftungsfenster des Flachbaus drangen. Die flehenden Rufe und Schreie der zusammengetriebenen Zivilisten mischten sich unter das Grunzen einzelner Schweine, die noch immer in den ehemaligen Stallungen umherliefen.
Einer der Volksarmisten, ein pickliger Junge mit Sommersprossen um die Nase, übergab sich angesichts der Schreie an einer wackeligen Laternenstange, ohne dass ihm einer seiner Kameraden in irgendeiner Form zu Hilfe kam. Mittlerweile lief die Säuberungsaktion schon seit fünf Stunden, und die letzte Zehnergruppe war erst vor wenigen Minuten in das Innere geführt worden. Eine unsichtbare Sonne zog sich langsam an einen unbekannten Ort zurück und entließ ihre letzten nicht wärmenden Strahlen in den kalten Novembertag, welcher sich unheilvoll in die Dunkelheit verabschiedete. Von weit her trieb der Wind das klagende Läuten einer Kirchenglocke herbei, während die serbischen Freischärler ihren letzten Blutzoll des Tages einforderten.
* Zdenka Badric stand frierend in einer Ecke der alten Schweinefarm und starrte auf den Leichenberg, den die Soldaten in der Mitte eines größeren Gatters aufgetürmt hatten. Sie war nackt bis auf einen einfachen Slip und traute sich nicht, ihre Hände vor den Brüsten zu verschränken, auf die ein grobschlächtiger junger Kerl mit Bart und verfilztem Haar unverhohlen starrte, während er unruhig mit seinen Stiefeln auf der Stelle trat und eine Waffe zwischen seinen prankenartigen Händen hin- und herschwenkte.
»Bück dich und setz dieses Ding auf«, sagte der Mann und deutete mit einer Kopfbewegung auf die weiße Haube, die noch sauber oben auf einem Bündel Kleidung am Boden lag. Ohne zu zögern ging die junge, schlanke Krankenschwester in die Hocke und langte nach der Kopfbedeckung, die sie seit zwei Wochen als Auszubildende im Krankenhaus von Vukovar tragen musste. Ihr zu einer Steckfrisur zusammengeflochtenes dunkelblondes Haar verschwand größtenteils unter der Haube, woraufhin sie der Mann argwöhnisch musterte. »Öffne dein Haar!«
Zdenka leistete dem Befehl Folge und entfernte die zwei kleinen Haarklammern, sodass ihr die langen und glatten Haare bis über die Schultern fielen. Sie versuchte die Angst zu unterdrücken, die sie seit der Erstürmung des Krankenhauses befallen hatte. Sie war noch zu jung, um alle Zusammenhänge dieses Krieges zu verstehen, aber eins wusste sie mit Sicherheit: Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, außer dass sie als Kroatin in einem jetzt von Serben beanspruchten Gebiet aufgewachsen war. Der Tod war ihr bisher noch nicht begegnet, selbst nicht im Krankenhaus von Vukovar; aber sie musste nur wenige Meter zur Seite schauen, um ihn hundertfach zu sehen, in Form entkleideter Männer und Frauen, deren von Kugeln durchsiebten Leiber wie Schlachtvieh übereinander getürmt wurden.
»Könntest Glück haben«, grinste der Mann und trat einen Schritt auf sie zu, während sein Nikotinatem in ihr makelloses Gesicht fuhr. »Unser Anführer steht auf kleine Titten, schmale Lippen und grüne Augen.« Dann strich der Serbe mit dem kalten Lauf seiner Pistole durch Zdenkas Haar und fuhr weiter hinab über die hohen Wangenknochen, den schmalen Hals, die vor Kälte aufgerichteten Brustwarzen und den flachen Bauch, der sich vor Anspannung wölbte und senkte.
Als die Waffe zwischen ihre Beine glitt und durch den Slip ihre Scham berührte, jagte ein elektrischer Schlag durch ihren Körper, der ihr einen einzigen, vielleicht lebensrettenden Satz entweichen ließ. »Sie wollen es doch auch, oder?«
Irritiert zog der Soldat die Waffe zurück und hielt für einen bedrohlichen Augenblick inne. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund und grinste. Ein Rest Speichel hing an seinem Mundwinkel. »Du verdammtes Miststück bist noch Jungfrau, stimmt's?«
Noch bevor Zdenka etwas antworten konnte, peitschten Schüsse aus dem Nebentrakt und besiegelten das Schicksal von weiteren Kroaten, an die sie in diesem Moment nicht zu denken wagte. Ihre einzige Chance, diesem Wahnsinn zu entkommen, war das Argument ihrer Schönheit und Grazie. Bisher war sie unberührt, und anscheinend war dies ihre persönliche Trumpfkarte. Sie staunte über sich selbst, wie wenig es ihr ausmachte, sich kaltschnäuzig zu geben, ganz entgegen ihrem eigentlichen Wesen. Sie hatte das Gefühl, als ob sie genau in diesem Augenblick erwachsen wurde; den Schritt vom Mädchen zur Frau machte. Es war der pure Überlebenswille.
»Milan, wir sind hier fertig!«, hallte eine düstere Stimme durch die Halle. »Bis auf ein Pärchen haben wir alle Bastarde abgeknallt. Der Chef will, dass du ihm jetzt die Schlampe zeigst.«
Der Angesprochene packte Zdenka brutal am Arm und zog sie wie ein kleines Kind hinter sich her. Zwei völlig verdreckte Schweine machten widerwillig den Weg frei und strebten auf den großen Leichenberg zu, dessen Blut sich mit den Tierexkrementen im nach Jauche stinkenden Boden vermischte. Zdenka lief barfuß durch den morastigen Untergrund und dachte nur daran, der Situation zu entrinnen. Sie würde keine Spur von Angst zeigen; sie würde ihren Peinigern nicht das Gefühl geben, vor ihnen in die Knie zu gehen. Sie würde so tun, als ob sie vor starken Männern mit Maschinenpistolen in der Hand sexuelle Erregung empfand und es kaum abwarten könne, endlich entjungfert zu werden.
Sie war die anscheinend letzte Überlebende eines Massakers, von dem sie nicht wissen konnte, dass es später in den Geschichtsbüchern stehen würde. Sie war am Leben, während Hunderte anderer bereits gestorben waren. Ihr Schicksal lag nicht in ihren Händen, aber sie würde die Waffen einer Frau einsetzen und alles tun, um nicht auf diesem Leichenberg zu landen. Sie erkannte sich nicht mehr wieder und schritt wie in Trance durch das aus den Angeln gehobene Verbindungstor, welches den Exekutionsbereich vom Rest des Geschehens trennte.
Als sie auf die Gruppe der Soldaten stieß, die einen Halbkreis um die zwei nackten Gestalten am blutgetränkten Boden bildeten, setzte ihr Herz für Sekunden aus. Das in Tränen aufgelöste Paar, das völlig entblößt nebeneinander auf dem Boden kauerte und sie nicht anschauen durfte, war ihre ältere Schwester Janica und ihr Schwager Goran. Beide hatten vor noch nicht einmal einer Woche geheiratet und hätten eigentlich gar nicht hier sein dürfen. Die serbischen Freischärler mussten sie außerhalb von Vukovar aufgespürt und aus irgendeinem Grund am Leben gelassen haben.
»Kennst du die?«, fragte einer der Soldaten, ein fast elegant wirkender, graumelierter Mittvierziger von athletischer Statur. Seine stahlblauen Augen fixierten Zdenka mit einer Mischung aus scheinbarer Gleichgültigkeit und tödlichem Wissen. Sie konnte förmlich spüren, wie der Mann in seiner Phantasie ihren Körper berührte und Dinge mit ihr anstellte, die ihm höchste Lust brachten. Es war eine vollkommen irreale Situation, halb nackt im Angesicht des Todes zu stehen und begehrt zu werden.
»Ob...