Schweitzer Fachinformationen
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Anfang Januar 2019 bin ich auf 2061 Metern Höhe in der Speiereck-Hütte im Lungau von einem Schneesturm eingeschlossen. Der Betrieb der Gondel vom Großeck her ist eingestellt, die Pisten aufgrund der Lawinengefahr gesperrt. Karin fährt mit meinen drei Söhnen im Tal Ski. Das Gepäck abreisender Gäste wird auf eine Schneeraupe geladen, auf die ich für die im Tal Abgeschnittenen noch einen Rucksack mit Wäsche packe. Mit Neid sehe ich die rauen Jungs aus Berlin trotz Lawinenwarnung auf Skiern im Schneestaub verschwinden. Jetzt bin ich der letzte Gast.
Da der Schneesturm mit über hundert Stundenkilometern um die Hütte fegt, verhängt die Bergwacht Ausgangssperre. Der dichte Schneefall erlaubt keinen Ausblick nach draußen. Ich lege Holzscheite auf das Feuer, das schlecht brennt, weil der Wind auf den Kamin drückt, und bin allein; der Wirt und die Kellnerin wollen sich von der Panik der Berliner Gäste, die überstürzt die Flucht ergriffen haben, erst einmal erholen. Jetzt hätte ich den Abenteuerroman «Die Eingeschlossenen vom Speiereck» schreiben können, aber aufgrund der ungewohnten Höhenlage leide ich unter leichtem Schwindel.
Weil nicht zu erwarten war, dass sich das Wetter bessern würde, stellte der Wirt den Gestrandeten im Tal sein Dachgeschoss in Mauterndorf zur Verfügung. Für unbestimmte, aber sicherlich überschaubare Zeit verlassen, was für ein Glück.
Abends unerwarteter Besuch in der von der Außenwelt isolierten Hütte: fünf leicht vereiste Hiesige mit, so scheint mir, Bergarbeiterlampen auf den Helmen. Sie versammeln sich um das Kaminfeuer, in der Finsternis brechen sie wieder auf zum Abstieg ins Tal. Der Koch brät Lachs, der dem einzigen Gast der Hütte auf einem raffinierten Risottobett serviert wird. In der Sauna wird für den Aufguss gesorgt, und alle sind offensichtlich bester Laune.
«Jeder etwas breitere Riss im Alltäglichen dient als Einfallstor für das Fest», tröstet mich per E-Mail eine Freundin aus dem noch schneefreien München, ein Satz aus Roland Barthes' «Wie Paris nicht unterging». Tatsächlich ist die Frühstücksstimmung am nächsten Morgen im Kreis der Hüttenmannschaft festlich heiter: Der Koch entdeckt eine Bergdohle am Himmel, das verspricht Aufhellung. Zu erkennen ist sie am schwarzen Gefieder, den roten Beinen und dem gelben Schnabel, zumindest für die Bergbewohner. Im Feld sei sie durch ihren akrobatischen Segelflug auszumachen, wird der Gast informiert.
Der Bruder des Wirts erzählt, er habe einmal Christian Kracht in Argentinien getroffen, wohin übrigens viele Nazis emigriert seien. In Mauterndorf, unten im Tal, wo jetzt Karin und die Jungs ausharren, sei Hermann Göring fast Ehrenbürger geworden - wenn er sich nicht selbst dazu ernannt hätte. Ausnahmslos alle Einwohner Mauterndorfs hätten für den Anschluss gestimmt, was eine Bedingung Görings gewesen sei, um einen im Dorf allseits beliebten Bürgermeister aus der Haft zu entlassen. Die Gräfin Elisabeth von Epenstein übereignete dem Generalfeldmarschall gar Schloss Mauterndorf. Göring revanchierte sich, indem er ihr ermöglichte, die soeben arisierten Gummiwerke von Julius Fromm in Berlin für einen äußerst günstigen Preis zu kaufen. Jetzt war die österreichische Gräfin Herrin der größten Präservativfabrik Deutschlands.
Später kommen wir auf die aktuelle Situation in Österreich zu sprechen. Dass die FPÖ gegen eine europäische Armee sei, löst Gelächter in der Frühstücksrunde aus - es interessiere keinen Menschen, höre ich, ob Österreich eine Armee habe oder nicht. Schließlich interveniert Laura: Beim Frühstück bitte keine Politik!
In eine Wolldecke gehüllt und in schönem Regelmaß mit Glühwein versorgt, begann ich zu lesen. Ein gutes Pensum auf den ersten Blick, das Buch von Thomas Medicus über Melitta Gräfin von Stauffenberg, eine mir bisher unbekannte Sturzkampfbombertestpilotin im NS-Staat, Schwägerin Claus von Stauffenbergs, Ehefrau Alexander von Stauffenbergs, des Altphilologen aus dem George-Kreis. Ich sollte bei einem Workshop in Berlin einen Vortrag halten. Die Frage war, ob man die Denkfigur der «kalten persona», die ich in den «Verhaltenslehren der Kälte» entworfen hatte, auf Frauen übertragen könne. Diese Möglichkeit hatte ich, als ich das Buch schrieb, nicht bedacht. Nun tauchten aus dem blinden Fleck der «Verhaltenslehren» unversehens Pilotinnen der NS-Zeit als «kalte personae» auf.
Bald war ich ganz im Bann einer militärisch-wissenschaftlichen Lebensform, die die Pilotin wie eine eiserne Lunge umhüllte. Dem Laster dieser Faszination durfte ich mich drei Tage lang hingeben. «Bist du in einen falschen Schein geraten», rät der Dadaist Walter Serner in seinem «Handbrevier für Hochstapler» von 1927, «so bekämpfe ihn dadurch, dass du in einen andern falschen Schein dich begibst.»
Melitta Schiller, so ihr Mädchenname, Tochter eines jüdischen Vaters, war als Wissenschaftlerin eine Ausnahme unter männlichen und weiblichen Fliegern. Im Gegensatz zu den meisten Piloten, die sich auf die praktischen Aufgaben des Flugzeugführers konzentrierten und komplizierte technische Details über Regelungsvorgänge ausblendeten, war der technische Mantel des Stukas für Melitta von Stauffenberg wissenschaftlich transparent. Sie brauchte sich nicht auf die Automatisierung der Flugkontrolle und die notwendigen Habitualisierungen der Handgriffe zu verlassen, war ein Ausbund von Geistesgegenwart, eine Person, in der sich wissenschaftliche Erkenntnis und manuelle Fertigkeit durchdrangen, eine moderne Kriegerin. Sie war Wissenschaftlerin und Testpilotin in einer Person, Diplom-Ingenieurin und Flugkapitänin. Ab 1934 unterstand die «Ingenieurspilotin» der Luftwaffe, für die sie die Fronttauglichkeit neuer Flugzeugtypen testete. Im Labor und am Schreibtisch berechnete sie, wie die Bombe während eines Sturzflugs möglich präzise ins Ziel gelenkt werden kann. Es kam vor, dass Melitta von Stauffenberg an einem Tag unter extremer körperlicher Belastung elf Sturzflüge und vierzehn Messflüge ausführte und abends im Büro bis spät in die Nacht ihre Erfahrungen wissenschaftlich auswertete. In ihrem Tagebuch bezog sie das lakonische Verfahren der Datenmessung auch auf ihre emotionalen Zustände. Doch die Verschmelzung mit der Maschine wollte nicht gelingen. Die Erschöpfung erzwang Pausen, regelmäßig traten Depressionen auf.
Durch das Leseabenteuer in der Schneehöhle Speiereck präpariert, traf ich kurz darauf in Berlin auf einen illustren Kreis von Expertinnen und Experten, die Sabine Kalff nach glänzender Vorarbeit für ihre Tagung «Male and Female Heroism in the European Bombing War» versammelt hatte. Einer von ihnen war der britische Historiker Richard Overy, der nur beiläufig von den hundertsechsundvierzig englischen Frauen als Kampfpilotinnen berichtete; das Hauptaugenmerk seines Vortrags galt dem eher unspektakulären Einsatz von dreihunderttausend Engländerinnen in der civil defense, dem Luftschutz. Die Besatzungen der britischen Bomber beim strategic bombing, dem Flächenbombardement auf deutsche Städte zum Zweck einer Demoralisierung der Bevölkerung, seien aus dem Heldendiskurs der Flieger in Großbritannien herausgefallen. Weil diese Besatzungen im Team arbeiteten? Oder war ihr Einsatz moralisch nicht geheuer?
Overys Vortrag war für mich ein glänzendes Beispiel der britischen Militärgeschichtsschreibung, die mich schon früher in den Büchern von John Keegan über den Ersten Weltkrieg fasziniert hatte. Im Gegensatz zu deutschen Militärhistorikern können die Briten ihre Kriegsgeschichten fern vom Schulddiskurs des Holocaust erzählen, sodass sie ihre «Fakten» mit kälterem Blick, der Objektivität verspricht, registrieren. «Wir waren die Sieger», erklärte Overy auf meine Frage nach dem Unterschied der Sichtweisen ganz trocken.
Ich selbst konzentrierte mich in meinem Vortrag auf den Sturzflug-Junkie Melitta von Stauffenberg, die offenbar vom Absturz lebte, der für die meisten Menschen ein Albtraum ist. Die Beschreibung der Testflüge hatte am Kaminfeuer im Speiereck die Erinnerung an das Gedankenexperiment einer Absturzszene wachgerufen, an Ernst Jüngers Skizze «Das Entsetzen» im «Abenteuerlichen Herzen». Jünger beschreibt darin eine Installation, in der mehrere Bleche in regelmäßigen Abständen übereinander angebracht sind. Der eigene Körper fällt auf das oberste Blech, das krachend reißt:
«Du stürzt, und stürzest auf das zweite Blatt, das ebenfalls und mit heftigerem Knalle zerbirst. Der Sturz trifft auf das dritte, vierte und fünfte Blatt und so fort, und die Steigerung des Falles läßt die Schläge in einer Beschleunigung aufeinanderfolgen, die einem an Tempo und Heftigkeit anwachsenden Trommelwirbel gleicht. Immer noch rasender werden Fall und Wirbel, in einen mächtig rollenden Donner sich verwandelnd, der endlich die Grenzen des Bewußtseins sprengt.»
Man glaubt, in Jüngers Vergegenwärtigung des Sturzes eine Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen von Soldaten des Ersten Weltkriegs im Trommelfeuer erkennen zu können. Der Knall eines Granateinschlags in unmittelbarer Nähe konnte einen shell shock mit schwer zu heilenden Schäden der Psyche verursachen. Hatte Melitta von Stauffenberg als Stuka-Testfliegerin das Innere der traumatischen Situation zu ihrem technischen Handwerksraum gemacht? Ein Sturz aus viertausend Metern Höhe auf eine Bombenauslösehöhe von tausend Metern dauert etwa dreißig Sekunden. Im Gegensatz zum Soldaten in Jüngers Sturz-Installation verliert die Pilotin nicht das Bewusstsein. Im Hohlraum des...
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