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Ein Windstoß ließ die Blätter des Vorjahres über den Waldboden tanzen. Das Rascheln klang aufdringlich in der Stille, die seit dem Abschiedslied herrschte. Trotzdem war Kallena dankbar für die Ablenkung. Verstohlen wischte sie über ihr nasses Gesicht. Sie hatte gar nicht erst versucht, die Tränen zurückzuhalten, und dennoch war es ihr unangenehm, von all den Menschen dabei beobachtet zu werden, wie sie um ihren Vater weinte. Zwischen den Bäumen, auf der anderen Seite des offenen Grabes, standen ihre Familie, sämtliche Nachbarn aus dem Dorf und, wie es schien, alle Bewohner des Landes zwischen der Flussmündung im Westen und dem Hügelland im Osten. Sogar vom Großen Fluss im Norden waren sie gekommen, um Plute die letzte Ehre zu erweisen.
Beim Gedanken an all die Freundschaften, die ihr Vater im Laufe seines Lebens geschlossen hatte, die vielen Bündnisse und Beziehungen, die er gepflegt hatte, stiegen erneut Tränen hoch. Alle hatten ihn geliebt, den großen, fröhlichen Mann mit den feuerroten Haaren, der selten seine gute Laune verloren hatte. Außer in der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter, in deren Nähe er jetzt für immer lag. Doch selbst diesen Verlust hatte er überwunden und die Lebensfreude zurückgewonnen.
Um mich dann viel zu früh zu verlassen, dachte Kallena und runzelte die Stirn. Sie blinzelte ein paarmal heftig und wischte wieder über ihre Augen. Nein, hat er nicht, schalt sie sich. Er wurde ein alter Mann, das habe ich mir nur nicht eingestanden. Kallena holte tief Luft und zog das Tuch über den Kopf. Es war zu dick für diesen erstaunlich warmen Frühlingstag, aber sie hatte genug.
Die Alte, die am Grab wartete, verstand das Zeichen und hob die Hand. »Hab eine gute Reise, Plute!«, rief sie laut. Sie verneigte sich vor der Grube, in der Plutes Asche mit allerlei teuren Dingen und Töpfen voller Essen auf einem Wagen lag, dem die Räder fehlten. Dann scheuchte sie die Menschen zurück auf den Weg, der zwischen den Grabhügeln hindurch aus dem Wald, über die schmale Brücke und ins Sonnenlicht führte. Nur Kallena und ein paar Männer blieben stehen und beobachteten den langsamen Rückzug der Trauergäste.
Als alle fort waren, kam die alte Frau zurück. »Es ist vollbracht. Es geht ihm gut. Nun kannst du weitermachen.«
Kallena verzog die Lippen zu einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, und wandte sich ab, um ihrer Familie zu folgen. Während sie zwischen den Bäumen hindurchging, hörte sie hinter sich das Rumpeln der Holzbohlen, mit denen die Männer das Grab verschlossen. Sie hatten ein paar Tage zu schaufeln, um über Plutes Grab einen imposanten Hügel aufzuschütten, doch dabei würde ihnen niemand zusehen.
Irgendwann komme ich zurück, dachte Kallena. Bald.
*
Es war bereits dunkel, als Semene ihre Hand losließ, um die Haustür zu öffnen. Den ganzen Weg hierher hatten sie darüber gesprochen, was als Nächstes anzupacken war. Seit dem letzten Winter, in dem Plutes Krankheit alles überschattet hatte, war vieles vernachlässigt worden.
Die Kinder hatten ihr Gespräch nicht gestört. Wortlos und ohne zu jammern waren sie hinter ihnen hergegangen. Selbst als Arntha einmal hingefallen war, hatte sie sich nicht beschwert, und Plutenu hatte ihr sogar seine Hand hingestreckt, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
Kallena hatte es nicht ausgesprochen, aber sie wollte sich nun vor allem um ihre Kinder wieder mehr kümmern. Es stimmte, sie waren schon groß, liefen den ganzen Tag zwischen den Höfen herum und halfen bei der Arbeit auf den Feldern und in den Ställen. Trotzdem brauchten die Kinder beide Eltern. Während sie selbst all ihre Kraft für die Pflege von Plute aufgebracht hatte, war Semene ein liebevoller Vater gewesen.
Im Haus brannten mehrere Lampen. Ihre Haushälterin Mimi hatte das Herdfeuer entfacht und eine Suppe gewärmt, die sie gestern gekocht hatte.
»Du bist schon hier? Bist du durch den Wald gelaufen?«, fragte Kallena und ließ sich dankbar in ihren Sessel fallen.
Mimi lächelte und rührte im Suppentopf. »Ich war eine der Ersten, die aus dem Wald kamen.«
»Was hast du gekocht, Mimi?«, fragte Plutenu.
»Immer hungrig, mein Kleiner, nicht wahr?«, sagte Kallena.
»Ich bin nicht mehr klein!«
Semene schmunzelte und setzte sich. »Ich war in seinem Alter genauso.«
»Nicht klein oder immer hungrig?«, fragte Kallena.
Semene lachte laut auf, während Plutenu nur die Stirn runzelte und eine Schale von einem Regal holte.
Arntha, der sichtlich ebenfalls nicht nach Lachen zumute war, trat dicht zu Kallena, die sie auf ihren Schoß nahm.
Es war lange her, seit ihre Tochter das letzte Mal auf ihren Knien gesessen war. Sie vermisst ihren Großvater, dachte Kallena. Das Begräbnis heute hat sie tief erschüttert.
Die Kinder waren nicht dabei gewesen, als Plutes eingewickelter Körper auf den Scheiterhaufen gelegt worden war. Es war kein furchterregender Anblick gewesen, aber trotzdem hatten Kallena und Semene entschieden, die Kinder in Mimis Obhut zurückzulassen, als sie vor einigen Tagen zum Fluss marschiert waren. Dort, wo die beiden Flüsse sich trafen, brannten seit jeher die Scheiterhaufen.
Kallena wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Mimi die dampfenden Schalen verteilte.
»Ich mag nichts essen«, murmelte Arntha und vergrub ihr Gesicht in Kallenas Tuch, das sie immer noch nicht abgenommen hatte.
Kallena ließ ihre Tochter in Ruhe, während sie ein paar Bissen aß, doch dann hielt sie ihr den Löffel vor die Nase und schmatzte übertrieben, als wäre Arntha ein kleines Kind. Kallena war erleichtert, als Arntha kicherte und gehorsam den Mund öffnete.
»Willst du auch gefüttert werden, Sohn?«, fragte Semene und beugte sich zu Plutenu, der vor ihm auf einem Stapel Decken saß und angewidert das Gesicht verzog.
Mimi kicherte, und einen kurzen Moment lang erwiderten alle ihr Lachen, sogar Plutenu. Dann senkte sich wieder eine bedrückte Stille über den Raum.
Kallena warf Semene einen Blick zu. Auf dem Gesicht ihres Mannes sah sie die gleiche Sorge, die sie selbst fühlte. »So soll es nicht sein«, sagte sie leise. »Wir dürfen lachen und fröhlich sein. Das hat er für uns gewollt. Das wisst ihr, ja?« Eindringlich sah sie ihre Kinder an.
»Ja, Mutter«, flüsterte Arntha mit Tränen in den Augen.
Auf Plutenus Gesicht glänzte es. »Ich vermisse ihn«, presste er hervor.
Kallena schluckte. »Wir werden ihn immer vermissen. Aber weil wir ihn nicht vergessen, wird er nie ganz weg sein, verstehst du? Er ist hier, solange wir an ihn denken. Hier mit uns am Feuer und drüben in seinem Haus und auf der Versammlungswiese.«
»Und im Pferdestall!«, rief Plutenu.
Kallena lächelte ihn liebevoll an. »Vor allem im Pferdestall.«
»Er hat auch die Kühe gemocht«, bemerkte Mimi.
»Weil er den Käse mochte«, brummte Semene, und alle lachten.
»Er war auch viel im Bierhaus bei Faleni«, sagte Arntha.
»Und würfeln bei Metos Großvater, als der noch gelebt hat«, fügte Plutenu hinzu.
»Und am Fluss!«
»Im Wald bei den Holzfällern!«
»Vom Großen Fluss hat er mir oft erzählt.«
»Und vom See im Süden!«
Kallena lachte. »Ihr habt recht. An all diesen Orten war euer Großvater, und überall hatte er Freunde. Und dort ist er auch jetzt, weil alle an ihn denken. Vergesst das nicht.« Sie schob Arntha von ihrem Schoß. »Mimi, bringst du sie ins Bett? Seid brav und legt euch hin. Es war ein anstrengender Tag.« Kallena war froh, auf den Gesichtern ihrer Kinder wieder ein Lächeln zu sehen.
Als Mimi sie ins Bett brachte, beobachtete Kallena Semene, wie er sein Abendessen löffelte. Seit wenigen Tagen war er der älteste Mann in ihrer Familie. Es war ein seltsamer Gedanke, obwohl sie selbst schon vor vielen Jahren die Rolle der ältesten Frau übernommen hatte. Sie erinnerte sich nur vage an ihre Mutter, und auch Semenes Mutter war lange tot. Großmutter Renis hatte die beiden Frauen bei Weitem überlebt. Erst vor zehn Jahren war sie gestorben, in dem Jahr, in dem Arntha geboren worden war. Damals hatte Renis schon nicht mehr hier gewohnt .
»Geht es dir gut, Schatz?«, fragte Semene. »Denkst du an ihn?«
Kallena seufzte. »Ich habe an Renis gedacht. Als sie gestorben ist, war ich plötzlich die älteste Frau im Haus.«
»Ich weiß, was du meinst. Nun ist der Letzte von den Alten fort.« Semene stand auf und warf ein Scheit ins Feuer. Augenblicklich wurde es heller. »Aber du bist seit Langem bereit, das Erbe deines Vaters anzutreten.«
»Mit deiner Hilfe.«
»Mit meiner Hilfe. Ich habe viel von ihm gelernt.« Semene beugte sich zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. »Dein Vater war ein guter Mann. Und er ist stolz auf dich.«
»Er war auch stolz auf dich«, sagte Kallena und stand ebenfalls auf. »Wenn ich ihm erlaubt hätte, mir den Mann auszusuchen, hätte er vielleicht sogar dich gewählt.«
Semene lächelte. »Da irrst du dich. Damals hat er mich für einen leichtfertigen Jüngling gehalten, der nichts weiter schafft, als seine geliebte Tochter zum Lachen zu bringen.«
»Das alleine hätte genügt! Aber du warst sehr viel mehr, mein Lieber. Und das hat auch mein Vater erkannt.«
Semene wurde wieder ernst. »Ganz gleich, wann er es erkannt hat, wir hatten sehr viele gute gemeinsame Jahre. Und dafür bin ich dankbar. So wie für alles, was ich hier habe.«
Kallena legte die Stirn an seine Schulter. »Du hast recht. Wir können beide für vieles dankbar sein. Und ab morgen...
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