Ferry
Die Landespolizeidirektion und das Bundeskriminalamt befinden sich in einem sechsstöckigen Gebäudekomplex am Josef Holaubek Platz im 9. Wiener Bezirk Alsergrund. Das Gebäude ist ein Teil der Überbauung der Gleisanlagen, die zum Franz Josefs Bahnhof gehören. Unterhalb des pompösen Komplexes aus weißem Beton rattern zu Stoßzeiten Pendlerzüge in das Waldviertel Niederösterreichs und nach Prag. An der Westseite führen die U-Bahn und der vielbefahrene Gürtel vorbei; dieser mündet im Norden in die Gürtelbrücke, welche den Donaukanal überquert und die Autoschlangen in Richtung Norden aus Wien hinaus befördert.
Im Besprechungszimmer der Abteilung für Organisierte und Allgemeine Kriminalität im sechsten Stock hatte soeben Chefinspektor Opatek, der hinter seinem Rücken von den Mitarbeitern 'Der Silberrücken' genannt wurde, ein Meeting einberufen.
Um den Besprechungstisch saßen Oberinspektor Ferry Stark und sein Team aus sechs Beamten der Drogenfahndung.
Ferry Stark war Mitte vierzig, wirkte jedoch jünger, wenn man die Fältchen um die Augen und vereinzelte graue Haare nicht unter die Lupe nahm. Seine Augenfarbe war türkis, seine Nase etwas groß geraten, aber das trug nur zu seinem virilen Aussehen bei, wie er sich gerne bestätigen ließ. Seine Figur war schlank und drahtig.
Ferry fragte sich gerade, wann das Meeting beginnen würde, aber Opatek schien zu warten, blickte auf seine Armbanduhr und schritt vor der Videowall auf und ab.
Bald war klar warum, denn die Tür öffnete sich und Doktor Kim Lorenz, Spezialistin für forensische Biologie trat ein und nahm am Besprechungstisch Platz. Sieben Köpfe drehten sich zu Kim, Füße scharrten, Stuhllehnen knackten.
Der Silberrücken ergriff das Wort. "Ich habe Doktor Lorenz zu dem Meeting gebeten, weil forensische Genetik mit zu ihren Fachgebieten gehört. Es besteht der Verdacht, dass genmanipuliertes Kokain im Umlauf ist."
Im Besprechungszimmer wurde es still.
Opatek sprach weiter. "Security Guards haben gestern auf dem Flughafen Schwechat eine Tasche mit einer verdächtigen Substanz auf dem Damen WC gefunden. Dr. Lorenz hat die Tasche samt Inhalt untersucht. Bitte um Ihren Bericht."
Ferry wusste bereits von dem Fund. Während er dem Silberrücken zuhörte, ließ er seine Augen zu Kims schlanken Beinen im geschlitzten Rock schweifen. Als sie hersah, blickte er schnell aus dem Fenster und musterte eingehend den bunten Schornstein der von Hundertwasser gestalteten Spittelauer Müllverbrennungsanlage, der in unmittelbarer Nähe in den Himmel ragte.
Kim tippte in ihren Laptop, den sie vor sich auf dem Besprechungstisch stehen hatte. Auf der Videowall erschien eine Powerpoint Seite, die die Buchstaben und Striche einer chemischen Formel zeigte.
"Hier sehen wir die Struktur von normalem Kokain", sagte Kim Lorenz. "Die bekannte Zusammensetzung aus Kohlen- Wasser- Stick- und Sauerstoffatomen. Und hier das Pulver, das auf dem Flughafen Klo gefunden wurde."
Sie zeigte die nächste Seite, die dieselbe Formel zeigte, nur dass ein Fragezeichen auftauchte, das durch die gleichen Striche mit der Formel verbunden war, als wäre es ein zusätzliches Atom.
"Ein unbekanntes Element", sprach Kim weiter, "das dem Molekül hinzugefügt wurde. Ob es die Wirkung der Droge verstärkt, oder eine andere körperliche Reaktion hervorruft, kann ich nicht sagen. Ich müsste die ursprüngliche Kokapflanze untersuchen."
"Irgendwelche Informationen, die uns die Tasche liefern könnte, die das Kokain enthielt?" fragte Ferry.
Sie schüttelte den Kopf. "Ich habe die Fasern untersucht. Eine simple Umhängetasche aus Jeansstoff, billig, alt, abgegriffen, Produkt aus Südamerika, ohne brauchbare Fingerabdrücke."
Kim schaltete ihre Powerpoint Präsentation aus.
"Wer wirft Kokain auf dem Klo weg?" rätselte Willy, einer der Beamten. Er war dünn, blond und der Zwerg der Truppe. Gutmütige Witze wegen seines Kleinwuchses parierte er stets mit schlagfertigen Antworten. Er war ein guter Polizist, mutig, loyal, nur manchmal wirkte er unausgeglichen, mit sich selbst unzufrieden, ständig auf der Suche nach etwas. Ferry war mit ihm ein paarmal auf ein Bier gewesen, und hatte immer das Gefühl gehabt, ihn in Richtung mehr Selbstakzeptanz schubsen zu müssen.
"Jeder, dem die Sache zu heiß wird", antwortete der Silberrücken mit belehrendem Blick zu Willy. "Nach der Person wird noch gefahndet."
"Wir überwachen alle üblichen Drogenumschlagplätze", sagte Willy, "Soweit wir wissen, ist noch keine neue oder stärkere Droge aufgetaucht."
Der Silberrücken hob den Zeigefinger. "Noch nicht! Wann haben Sie die üblichen Plätze zuletzt überprüft?" Er tippte in die Tasten seines eigenen Laptops, der vor ihm auf dem Tisch lag und auf der Videowall erschien eine Straßenkarte Wiens. "Was ist mit der Schnellbahnstation Wien Mitte? Oder die U-Bahnstation Margartengürtel?" Mit einem Laser Pointer fuhr er die genannten Plätze ab, obwohl alle Anwesenden die Stadt besser kannten als er selbst. "Nicht eine Festnahme in den letzten zwei Monaten!"
Ferry schritt ein. "Chefinspektor? Wir haben alle Schnellbahnstationen zwischen Wien Mitte und Matzleinsdorfer Platz unter Beobachtung. Und alle U-Bahnstationen entlang des Naschmarktes. In den letzten Monaten haben wir nur Kleinstmengen an Suchtgift die Hände wechseln gesehen, deshalb gab es keine Festnahmen."
"Und warum nicht, wenn ich fragen darf?"
"Weil die Kleindealer mir Bescheid geben, wenn ein größerer Fisch auftaucht", antwortete Ferry geduldig. Wie einem Vorgesetzten, der als Akademiker nie hautnah die menschlichen Tiefen der Drogenszene kennengelernt hatte, die Gesetze der Straßen Wiens erklären?
Willy fügte hinzu: "Es war hauptsächlich Kokain, und meist um die 0,2 Gramm, zu geringem Preis und in wirklich beschissener Qualität."
"Haben Sie den Stoff wenigstens beschlagnahmt", keifte Opatek, "um nicht wieder haufenweise Süchtige in den Parks auflesen zu müssen, die sich mit - wie sagten Sie, Willy? - beschissenem Stoff ihr beschissenes Leben verkürzen?"
"Wir haben den Stoff beschlagnahmt", versicherte Ferry.
Ein weiterer Beamter, Joe, mit Glatze und Wohlstandsbauch, aber verdammt ausdauernd am Rudergerät im Fitnesscenter, wie Ferry neidisch hatte feststellen müssen, sagte: "Beim letzten Einsatz haben wir alle Stationen der U6 von Jägerstraße bis Michelbeuern gecheckt. Bei der Nußdorfer Straße haben wir einen Dealer in die Zange genommen und ihm klargemacht, dass er sich in kürzester Zeit auf dem Weg zurück nach Marokko befinden wird, sollte er nicht Alarm schlagen, sobald jemand Neuer auftaucht und dealen will."
Ferrys Gedanken schweiften ab. Kim Lorenz arbeitete seit einem halben Jahr in der Abteilung für Forensik. Seit genauso langer Zeit fragte er sich, welche Farbe ihre Unterwäsche wohl gerade am jeweiligen Tag hatte. Er war der Antwort noch nicht auf den Grund gekommen. Ihre spöttische Distanz und Professionalität hatte noch keine eingehende Untersuchung zugelassen. Kim hatte ein klassisch schönes Gesicht mit gerader Nase, hohen Backenknochen und großen braunen, meist ernsthaft blickenden Augen, in denen sich jedoch das Potential für kreativen Unfug abzeichnete, wenn sie lächelte. Ihr Mund war groß, fand Ferry. Einen Donut konnte sie sicher in einem Stück in den Mund stecken. Ihre Lippen waren schön und sinnlich geschwungen und würden sich beim Zerkauen attraktiv aneinander schmiegen.
Ferry schrak hoch, als er merkte, dass die Augen seiner sechs Kollegen auf ihn gerichtet waren, wobei die Gesichtsausdrücke der Beamten zwischen feixendem Grinsen und unverhohlenem Neid schwankten.
Er klinkte sich wieder in die Rede des Silberrückens ein:
"Ferry, hören Sie zu? Sie werden mit Dr. Lorenz nach Kolumbien fliegen, um mit Hilfe der lokalen Polizei die Kokablätter zu finden, die zurzeit angebaut werden und Proben der Blätter mitzubringen. Sargento Rodriguez im Polizei Departement Morelia wird Ihnen zur Seite stehen. Kommen Sie mit Dr. Lorenz nachher in mein Büro für die Besprechung des Reisebudgets." Er räusperte sich, worauf sich alle Köpfe endlich wieder ihm zuwandten. "Alle anderen, die bedauerlicher Weise in Wien zurückbleiben müssen, werden vollauf damit beschäftigt sein, weiterhin die Umschlagplätze in der Stadt im Auge zu behalten."
Wenig später fuhr Ferry mit Kim im Aufzug einen Stock tiefer.
"Polizeilabor - Dr. Kim Lorenz", stand auf dem Schild neben ihrer Tür.
"So wie es aussieht", grinste sie, "werden wir zusammen jede Menge Fritanga essen können, und das direkt in authentischer Location, in Kolumbien." Sie sperrte die Tür auf und er folgte ihr in das Labor.
Eine Seite des Raumes nahm eine Arbeitsfläche mit Laborutensilien ein. Zwei Mikroskope, Glasbehälter, Petrischalen, Tischzentrifugen, Pipetten. Darüber Regale und Glasschränke mit Fläschchen.
Ein weiteres Regal mit menschlichen Schädeln, Knochenteilen und eine Pinwand mit aufgespießten Insekten.
Ein Tisch mit Computerbildschirmen, auf dem sie ihren Laptop ablegte.
Hinter einem Plastikvorhang wusste Ferry den Tisch, auf dem Kim Leichen untersuchte, aber den blendete er lieber aus.
"Was ist Fritanga? Schlangenfraß vom Rost?"
Sie drehte sich nach ihm um. "Du weißt ja gar nichts. Fritanga!" Sie leckte sich die Lippen. "Das ist eine Grillplatte aus harten würzigen Chorizowürsten, Hähnchenleber, Schweinefleisch und Gemüse!"
Ferry setzte sich auf den Stuhl vor ihrem...