Schweitzer Fachinformationen
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Ich dachte, ich hätte Arturo im Laufe mehrerer Gespräche klargemacht, dass ich nicht lesen würde, dass ich gern zu der Lesung kommen würde, aber nur zum Zuhören - nicht, dass ich viel von dem verstehen würde, was ich hörte -, und dass ich mich zwar sehr geschmeichelt fühlte, dass er sich an Übersetzungen meiner Gedichte versuchen wolle, dass ich jedoch, was mein «Werk» in seiner derzeitigen Gestalt angehe, zu viele Hemmungen und Bedenken hätte, um mit seiner Begleitung in der Galerie daraus zu lesen. Mir war peinlich, dass ich überhaupt seinen wiederholten Bitten nachgegeben hatte, ihm meine Schriften zu zeigen, Schriften, die ich aus meinem Notizbuch für ihn fotokopiert hatte und die er, wie ich annahm, mit Teresas Hilfe las, da sein Englisch schrecklich war, nur aus ein paar Brocken bestand. Doch als er mich abholte und mich mit leeren Händen sah, sagte er, ich solle mich beeilen und meine Gedichte holen, wir seien schon spät dran, und er bestand so hartnäckig darauf, dass ich die Treppe schließlich wieder hinaufrannte, weil ich glaubte, er müsse vielleicht nur noch eine Kopie machen, mir Notizbuch und Tasche schnappte und, während wir zur Galerie fuhren, wiederholte, dass ich nicht lesen würde; claro, sagte er immer wieder, was «klar doch» bedeutet.
Es wurde allmählich kalt; irgendwie hatte ich nie gedacht, dass es in Madrid einen Winter geben würde, aber ich schwitzte, zweifellos deutlich erkennbar, während Arturo die bibbernden Raucher, die vor den Glastüren der Galerie herumstanden, begrüßte und mich ihnen vorstellte. Ich war zu nervös, um die Namen der Leute zu verstehen, denen ich die Hand gab, aber mir war bewusst, dass ich besonders ungeschickt küsste, dass ich eine Frau auf den Mundwinkel, mehr auf die Lippen als auf die Wange geküsst hatte. Das passierte mir öfter; mit nur wenigen tollpatschigen Ausnahmen - besonders kosmopolitische New Yorkerinnen und, als Kind, diverse Verwandte hatte ich mit einem Küsschen auf die rechte Wange begrüßt - hatte ich vor meinem Projekt so gut wie nie eine Frau geküsst, zu der ich keine Liebesbeziehung hatte. Ich wusste nicht genau, was passiert wäre, wenn ich in Topeka versucht hätte, eine Frau mit einem Kuss zu begrüßen; bestimmt hätte mir ihr Freund, wenn sie einen gehabt hätte, die Zähne eingeschlagen, und wenn sie keinen gehabt hätte, wäre ich Gefahr gelaufen, es zu werden. Mir kam oft der Gedanke, dass es meine Kindheit und Jugend bis zur Unkenntlichkeit verändert hätte, wenn das Küssen verbreiteter gewesen wäre; eine solche Dispersion des Erotischen in den sozialen Kreislauf hätte unvorhersehbare Auswirkungen gehabt. In Providence hätte ich damit davonkommen können, allerdings nicht ohne ein Gehabe von Affektiertheit und Effemination; dessen ungeachtet hatte ich nie daran gedacht, es zu versuchen. In Spanien jedoch missbrauchte ich die Küsserei oder versah sie zumindest mit einer libidinösen Aufladung, die sie eigentlich nicht enthalten sollte, und wenn man betrunken oder high und ein Ausländer war, konnte man sich leicht vertun und den Mundwinkel erwischen.
Wir betraten die Galerie, und ich sah Teresa und Rafa, Arturos Liebsten, bei einem Tisch mit Tapas und Wein stehen. Während ich in ihre Richtung ging und dabei erwog, entgegen meiner Regel Englisch mit Teresa zu reden und sie zu bitten, Arturo zu erklären, dass und warum ich nicht lesen würde, erkannte ich zu meinem Entsetzen und meiner Überraschung Maria José von der Stiftung unter den Leuten, die die hochglänzenden Schwarzweißfotos von stillgelegten Industrieanlagen an den Galeriewänden studierten. Ich war ihr nur zweimal begegnet, einmal bei meiner Ankunft, um Papierkram zu erledigen, und einmal, um einen kurzen, auf Englisch geschriebenen Bericht über meine bisherigen Aktivitäten abzugeben, einen Bericht, von dem die weitere Auszahlung meines Stipendiums abhing; beide Begegnungen waren so unangenehm gewesen, dass sich mir Maria Josés Bild unauslöschlich eingeprägt hatte. Ich war überzeugt gewesen, dass sie mich durchschaute, dass meine Hochstapelei für sie vollkommen offensichtlich war, was nicht allzu viel Scharfblick von ihrer Seite erfordert hätte, wenn man bedachte, wie es um meine Sprachkenntnisse stand und dass ich jedes Mal, wenn sie im Zuge ihres Geplauders einen Dichter oder eine Autorität in Sachen Bürgerkrieg erwähnte, blinzelte und etwas des Sinnes sagte, dass mir der Name bekannt vorkomme, obwohl ich mir nicht sicher war, dass ich das richtige Wort für «bekannt» verwendete.
Sie sah, dass ich sie sah, kam lächelnd auf mich zu, wir tauschten weit vom Mund entfernte Küsse aus, und sie sagte etwas über die Gelegenheit, mein Werk kennen zu lernen, eine Gelegenheit, die, meinte ich sie zu verstehen, umso willkommener sei, als sie mich bei keiner der gesellschaftlichen Veranstaltungen der Stiftung gesehen habe. Dann machte sie mich auf ein paar andere Amerikaner aufmerksam, die, wie ich annahm, ebenfalls Stipendiaten der Stiftung waren; sie sprachen sehr passabel Spanisch, viel besser als ich, aber sie sprachen es zu laut, und mir gelang es zu fragen, wie sie von der Lesung erfahren habe. Offenbar hatte die Galerie die Stiftung anlässlich meiner «Lesung» auf ihren E-Mail-Verteiler gesetzt.
Es gelang mir, mich von Maria José loszueisen, ich küsste Teresa, umarmte Rafa und starrte Arturo so kalt wie möglich an, während ich versuchte, eine Fluchtmöglichkeit auszuknobeln. Arturo klopfte mir auf die Schulter, sagte, es werde schon alles gutgehen, fing an, in seinem Notizbuch zu blättern, das, wie ich annahm, die Übersetzungen enthielt, und fragte mich, welche Gedichte ich zu lesen vorhätte. Ich überlegte mir zu behaupten, ich sei zu krank zum Weitermachen - blass genug sah ich jedenfalls aus -, aber ich befürchtete, dass es irgendwie zum Bruch meiner Beziehung zur Stiftung führen würde, wenn ich nicht vor Maria José aufträte, dass schließlich die völlige Leere meines Projekts ans Licht kommen und man mich in Schande nach Hause schicken würde. Mein Mund war trocken, und ich goss mir ein Glas Weißwein ein und sagte, es sei mir egal, welche Gedichte ich läse, ich würde ohnehin nur ein, zwei lesen. Teresa sagte, ich solle das lesen, das davon handelte, wie ich mich selbst vom Flugzeug aus auf dem Boden und vom Boden aus im Flugzeug sähe, und ich sagte - meine erste Äußerung von Frustration auf Spanisch -, dass das Gedicht nicht davon handelte, dass Gedichte von überhaupt nichts handelten, und die drei starrten mich völlig verblüfft an. Ich sagte, es tue mir leid, leerte mein Glas, füllte nach und bemerkte, dass Teresa ernsthaft gekränkt wirkte; das, fand ich, war ein deutlicherer Hinweis auf ihre Zuneigung zu mir als der Umstand, dass sie unter meinen Gedichten Lieblingsgedichte hatte. Wir lesen es, sagte ich.
Alle begannen, ihre Plätze einzunehmen; die Galerie war lang und schmal, mit hohen Decken und weißen Wänden, und sie war voll; es waren vielleicht achtzig Leute da. Es gab ein Podium mit einer Lampe, einem Mikrophon und einem kleinen Krug Wasser, und während ich mich stocksauer und halb krank vor Angst mit Teresa und Rafa in die vierte Reihe setzte und in meiner Tasche möglichst unauffällig nach einem Tranquilizer suchte, trat Arturo ans Podium, dankte allen für ihr Kommen und sprach dann über das Programm des Abends. Wir hätten das Glück, zwei der interessantesten neuen Stimmen der spanischen und amerikanischen Dichtkunst in der Galerie begrüßen zu können. Als Erstes würden wir etwas von Tomás Gomez oder Gutiérrez hören, der diesen und jenen Preis gewonnen habe, dessen Werk sich durch diese und jene Besonderheiten auszeichne und der außerdem ein begabter Maler sei. Dann würden wir etwas von Adam Gordon hören, der sich als Stipendiat einer renommierten Stiftung in Madrid aufhalte, dessen Werk irgendeine Wirkung auf irgendetwas habe, dessen Dichtkunst zutiefst politisch sei und an einen spanischen Dichter erinnere, von dem ich noch nie gehört hatte, nur dass sie nicht gegen Franco protestiere, sondern sich gegen die Vereinigten Staaten unter Bush richte. Das verstärkte meine Nervosität noch, da es mit meinen Gedichten, wie sie nun einmal waren, nichts zu tun hatte, und während Arturo sich unter Beifall setzte und Tomás Gomez oder Gutiérrez auf das Podium trat, stellte ich mir vor, wie ich Arturo mit dem Mikrophon oder der Lampe das Gesicht zu Brei schlug.
Tomás machte nicht so sehr den Eindruck, als wollte er Gedichte vorlesen, sondern eher, als wollte er Flamenco singen oder weinen; er sagte weder danke noch guten Abend noch sonst etwas, sondern hielt stattdessen dramatisch inne, wie um für ein in jeder Hinsicht heroisches Unterfangen Kraft zu sammeln. Er hatte schulterlanges Haar, das ihm ständig in die Augen fiel, während er sein Manuskript zurechtrückte, und das er ständig mit einer Geste zurückstrich, die ich einstudiert fand; er erschien mir wie eine Karikatur seiner selbst, eine Karikatur von El Poeta. Es kamen noch ein paar Nachzügler in die Galerie, die er mit ernstem Gesicht ansah, bis sie Plätze gefunden hatten. Dann blickte er auf sein Manuskript hinunter, blickte wieder zum Publikum auf, und als die Stille nach seinem Geschmack hinlänglich intensiv war, äußerte er, was, wie ich annahm, der Titel seines ersten Gedichts war: «Meer.» Zu meiner Überraschung war dieses Gedicht vollkommen verständlich für mich, ein Esperanto von Klischees: Wellen, Herz, Schmerz, Mond, Brüste, Strand, Leere etc.; der Vortrag war so klebrig, dass mir der Gedanke kam, sein scheinbarer Ernst sei vielleicht parodistisch gemeint. Doch dann las er sein zweites Gedicht, «Ferne»: Berge, Himmel, Herz, Schmerz, Sterne, Brüste, Fluss, Leere...
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