Schweitzer Fachinformationen
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EINS
»Matt hat gesagt, dass Sie Dinge finden. Dass das Ihr Beruf ist«, erklärte die Frau am Telefon.
Ich lag auf dem Teppich unter meinem Schreibtisch. Ans Telefon war ich nur gegangen, damit das schrille Klingeln aufhörte. Das Innere meines Mundes schmeckte nach Schlagsahne und Whiskey, und mein Kopf dröhnte bei jedem Atemzug, aber wenigstens war ich allein und befand mich in meiner eigenen Wohnung. »Das ist richtig«, antwortete ich.
»Was für Dinge?« Ihr Tonfall war misstrauisch, als sei es ihr oberstes Ziel, als falsch zu entlarven, was auch immer ihr mein ältester Bruder über mich erzählt hatte.
»Gegenstände. Personen. Antworten. Was eben gefunden werden soll.«
»Können Sie das gut?«
Ich hatte in den letzten neun Monaten kaum gearbeitet und auch jetzt eigentlich keine Lust, wieder damit anzufangen. Mein Kontostand war anderer Ansicht. »Ja. Matt mag mich nicht besonders, Sie können es also als Vertrauensbeweis werten, dass er Ihnen überhaupt meine Nummer gegeben hat.«
Das war alles an Eigenwerbung, was ich zustande brachte. Illusionen halfen in der Detektivbranche niemandem weiter - weder den Klienten noch mir.
Die Frau lachte. »Er hat mir prophezeit, dass Sie das sagen würden. Also, können Sie mir helfen?«
Ich dachte darüber nach. Wenn man etwas verloren hat, geben einem die Leute oft die absurdesten Ratschläge: Gehen Sie noch einmal denselben Weg zurück. Beten Sie zum heiligen Antonius. Versuchen Sie sich zu erinnern, wo Sie den Gegenstand zuletzt gesehen haben. Bei den Dingen, die wirklich wichtig sind, nützt das alles nichts, denn die hat man normalerweise direkt vor der Nase, ohne es zu merken. Man findet sie nicht, indem man nach ihnen sucht, sondern indem man sich alles andere anschaut. »Was wollen Sie denn wiederfinden?«, fragte ich schließlich.
»Die Frau, die meinen Bruder vor der Todesstrafe bewahren kann.«
Neunzig Minuten später saßen wir im Wohnzimmer meiner Wohnung, das gleichzeitig als improvisiertes Detektivbüro diente. Drei Tassen grüner Tee mit Minze hatten mich so weit gestärkt, dass ich eine einzelne eingeschaltete Lampe ertrug, auch wenn ich es vorzog, in dem am weitesten von ihr entfernten Sessel zu sitzen. Aus dem nach Westen weisenden Fenster unterhalb der Zimmerdecke fiel das Licht des Montagmittags herein, aber die Jalousien der übrigen Fenster hatte ich fest verschlossen gelassen. Falls meiner neuen Klientin die höhlenähnliche Atmosphäre merkwürdig vorkam, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Bis zu jenem Abend«, berichtete Danielle Stockton, »hatte ich sie fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen. Niemand hat sie in dieser Zeit gesehen.«
Danielle war eine hübsche, gepflegte Frau um die dreißig in königsblauem Cardigan und Jeans. Ihre Haare waren zu einem straffen Knoten gebunden, und um ihren schlanken Hals hatte sie kunstvoll ein Halstuch mit Leopardenmuster drapiert. Bis auf den dunkelroten Lippenstift war sie ungeschminkt. Sie arbeite bei American Electric Power, hatte sie mir eingangs erzählt, und sei während ihrer Mittagspause hergekommen. »Sarah Cook«, fügte Danielle nun hinzu. »So heißt sie. Eine Weiße. Mein Bruder und sie waren damals ein Paar. Das sei sein Motiv, haben sie behauptet: dass ihre nette weiße Familie ihn abgelehnt habe.«
Sie, das waren die Vertreter der Staatsanwaltschaft im Prozess gegen ihren älteren Bruder, über den sie mich gerade in Kenntnis gesetzt hatte. Vor fünfzehn Jahren war Bradford Stockton mit knapp zwanzig des Mordes an den Eltern seiner Freundin für schuldig befunden worden. Schuldig, die beiden in ihrem Wohnzimmer mit einem Kershaw-Klappmesser erstochen zu haben, das die Polizei, in ein T-Shirt von Sarah gewickelt, im Kofferraum seines Toyota Kombi gefunden hatte. Die siebzehnjährige Sarah wiederum war in jener Nacht verschwunden. Die Anklage unterstellte, Brad habe sie ebenfalls umgebracht und ihre Leiche irgendwo verscharrt.
Die Verteidigung setzte sich nicht besonders vehement gegen die Anschuldigungen zur Wehr und ignorierte die auf der Hand liegende Alternativtheorie bezüglich des Tathergangs: dass die nicht anwesende Sarah die Morde begangen hatte und anschließend abgehauen war. Zu dem Zeitpunkt, als Elaine und Garrett Cook umgebracht worden waren, hatte Brad gerade seine Schicht in einem Subway-Schnellrestaurant beendet und behauptete, er habe in seinem Auto auf dem Parkplatz gesessen und auf Sarah gewartet. Sie war früher am Abend im Restaurant gewesen - was Brads Kollegen bestätigten -, und das Paar hatte ausgemacht, zusammen ins Kino zu gehen, wenn Brad mit der Arbeit fertig war. Aber Sarah erschien nicht, und als Brad zu den Cooks fuhr, um nachzusehen, ob sie zu Hause steckte, war die Polizei bereits vor Ort und sein Leben vorbei. Er wurde des zweifachen Mordes für schuldig erklärt und wartete seither auf die Vollstreckung seines Todesurteils.
»Sie sieht immer noch genauso aus«, sagte Danielle.
Sie hatte mir eine Heftmappe mit Zeitungsausschnitten und Fotos mitgebracht, ein düsteres Sammelalbum rund um die fatale Situation ihres älteren Bruders. Von der aufgeschlagenen Seite auf dem Wohnzimmertisch lächelte besagte Sarah von einem Jahrbuchfoto zu mir empor. Sie wirkte wie eine typische Pfadfinderin - honigblonde Haare, stumpf geschnittener Pony, blasse Sommersprossen auf der Nase.
»Ich meine, sie sah natürlich nicht mehr aus wie siebzehn«, fuhr Danielle zwischen zwei Schluck Tee fort. »Und sie hat seither zugenommen. Aber sie war es auf jeden Fall, daran habe ich keinerlei Zweifel. Kenny hat sie auch gesehen - Kenny Brayfield, ein alter Schulfreund von Brad.«
Ich hob die Augenbrauen. Das war die verrückteste Geschichte, die ich seit Langem gehört hatte. »Und wann war das?«
»Vor zehn Tagen, am zweiten November. Ungefähr um halb acht. Kenny und ich waren zum Abendessen in der Taverna Athena verabredet. Wir sind beide gerade dort angekommen, als ich zufällig über die Straße sah. Und dort habe ich sie entdeckt, wie sie eben aus der Tankstelle gegenüber trat. Ich rannte sofort los, aber der Verkehr versperrte mir die Sicht. Als ich endlich auf der anderen Straßenseite ankam, war sie verschwunden. Wahrscheinlich mit einem Auto weggefahren.«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, mit was für einem?«
Danielles Mund zuckte. »Die Kreuzung ist ziemlich stark befahren. Es waren so viele Fahrzeuge unterwegs.«
Ich malte einen Aufzählungspunkt in mein Notizbuch, schrieb aber nichts dahinter. Abgesehen von dem blauen Punkt war die Seite bislang leer. »Erinnern Sie sich noch an einige davon?«
»Na ja«, antwortete Danielle, »ich habe einen roten Viertürer davonfahren sehen, als ich drüben ankam. Und einen grünen Pick-up oder so was, einen von diesen neuen, großen. Und einen Motorradfahrer. Aber es war schon dunkel, und ich habe nach ihr Ausschau gehalten, nicht nach irgendwelchen Autos. Daher kann ich es leider nicht mit Sicherheit sagen.«
»Was hatte sie an?«
»Einen Mantel. Einen langen Wollmantel. Glaube ich.«
Bei den wenigen Informationen, die sie mir zu der Begegnung liefern konnte, war sie sich zu allem Überfluss auch noch unsicher. Ich schrieb: rote Limousine, großer grüner Pick-up, langer Wollmantel. »Aber Sie sind sich sicher, dass sie es war?«
»Absolut sicher«, bestätigte Danielle.
Ich erwiderte nichts, blätterte nur schweigend durch die Heftmappe. Es kam mir unwahrscheinlich vor, dass Sarah so leicht zu erkennen gewesen wäre - fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit, und Danielle hatte sie nur für einen Sekundenbruchteil gesehen, noch dazu im Dunkeln. Außerdem: Wo sollte sie die ganze Zeit gesteckt haben?
Ich musterte Danielle, die mir auf einem Stuhl gegenübersaß. Wir hatten uns zwar gerade erst kennengelernt, aber sie machte einen sachlichen, intelligenten Eindruck auf mich. Vielleicht war es also doch nicht unmöglich.
»Angenommen, ich schaffe es, sie zu finden«, begann ich.
Danielle nickte.
»Was glauben Sie, wird dann passieren? Inwiefern kann sie Ihnen helfen? Und woher wollen Sie wissen, dass sie das überhaupt möchte?«
Meine neue Klientin schwieg einen Moment lang. Dann fragte sie: »Glauben Sie an Gott, Roxane?«
Ich lächelte. »Kein Kommentar.«
Danielle lächelte ebenfalls. »Na ja«, sagte sie. »Brad ist unschuldig, okay? Ich glaube ihm zu hundert Prozent, wenn er sagt, dass er es nicht getan hat. Er würde nie jemandem etwas antun. Er ist ein guter Mensch - nicht perfekt, aber wer ist das schon? Mein Bruder hat diese Morde nicht begangen.«
Ich merkte ihr an, dass sie das wirklich glaubte. Aber ihre Frage bezüglich Gott bewies, dass Glaube generell etwas war, was ihr leichtfiel. »Was hat das alles mit Gott zu tun?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht, was sich wirklich abgespielt hat oder wo sie gewesen ist«, erklärte Danielle. »Die Polizei hat versucht, sie zu finden, der von Brads Anwalt eingesetzte Detektiv hat versucht, sie zu finden - vergeblich, sie war spurlos verschwunden. Und dann, all die Jahre später, zwei Tage nachdem Brads Hinrichtungstermin festgesetzt wird, sehe ich sie plötzlich auf der anderen Straßenseite? Dafür muss es doch einen Grund geben.«
Ich hob die Augenbrauen. Das wichtigste Detail erwähnte sie ganz nebenbei. »Und wie lautet das Datum?«, fragte ich.
»Zwanzigster Januar.« Sie umklammerte ihren Becher mit beiden Händen.
Bis dahin waren es kaum mehr...
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