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Wie gelang in England, den USA oder in Frankreich einst der Systemwechsel zur parlamentarischen Demokratie? Welche Gründe führten ihre Befürworter an? Und warum vollzog sich dieser Wandel in Deutschland erst relativ spät?
Um diese Fragen zu beantworten, befasst Philipp Lepenies sich mit Wegmarken der Demokratiegeschichte. Zu seinen Protagonisten zählen die englischen Levellers, der Amerikaner James Madison und der Franzose Abbé Sieyès, Georg Forster in Mainz, Friedrich Jucho in Frankfurt und Hugo Preuß in Weimar. Aus dem Wissen um das Werden der Demokratie lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die helfen, sich gegen ihr drohendes Vergehen zu stemmen - in einer Zeit, in der sich der Souverän immer häufiger gegen das System entscheidet, das ihm die höchste politische Macht einräumt.
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Vielleicht zögert der Mann noch. In Ganzkörperansicht, mit offenem Hemd und Schürze wendet er sich dem Betrachter zu. Sicher kein Adliger. Kein hoher Militär. Kein Mitglied des Klerus. Er ist ein Mann des Volkes, der arbeitenden Bevölkerung. In der rechten Hand hält er einen zusammengerollten Zettel. Regungslos verharrt die Hand mit der Papierrolle über einer auf einem Podest stehenden, hüfthohen Urne. Auf ihr erkennt man die Worte »Suffrage universel«: allgemeines Wahlrecht. Der Mann steht mit dem Rücken vor einer Wand, an der Plakate angebracht sind. Sie rufen zur Wahl auf oder preisen bestimmte politische Kandidaten an. Der linke Arm des Mannes streckt sich nach hinten in Richtung eines an der Wand lehnenden Bajonetts. Seine Hand berührt die Waffe nicht. Aber fast. Es fehlt nicht viel, und er könnte sie ergreifen. Ist er kurz davor? So wie die andere Hand kurz davor sein könnte, den Wahlzettel in die Urne zu werfen, aber innehält. Im abgebildeten Moment wird nicht oder noch nicht gewählt. Es wird auch nicht, noch nicht oder sogar nicht mehr zur Waffe gegriffen. Der Blick des Mannes geht weder in Richtung Urne noch in Richtung Bajonett. Auch den Betrachter blickt er nicht an. Er schaut gedankenversunken zur Seite. Er ist dabei, eine Entscheidung zu treffen. Eine fundamentale. Die Entscheidung für oder gegen die Demokratie.
Abbildung 1: Französische Lithografie aus dem Jahr 1848, ohne Titel, bekannt als »Suffrage universel« oder »Wahl oder Waffe«.
Die in Richtung des Gewehrs ausgestreckte Hand wirkt allerdings so, als würde der Mann sich der Existenz der Waffe 11lediglich rückversichern wollen. Damit ist seine Entscheidung für die Demokratie eigentlich schon gefallen. Das wird auch dadurch unterstrichen, dass die Urne vor dem Mann, das Bajonett aber hinter ihm steht. Er wendet sich der Urne zu und von der Waffe ab. Er hat sie buchstäblich hinter sich gelassen. Der französische Historiker Maurice Agulhon verwendet die Abbildung in seinem Buch über die quarante-huitards, die französischen Revolutionäre des Jahres 1848. Agulhon war sich sicher, dass der Mann die Demokratie bereits gewählt hatte: »Das Recht substituiert die Gewalt«, schreibt er. Und: »Der Arbeiter lässt das Gewehr zu Gunsten der Wahl liegen.«1
Das Bild drückt einen einzigartigen Moment aus - nicht nur für Frankreich. Es ist der Moment der Zeitenwende, des Systemwechsels. Die Geburtsstunde der Demokratie als realer Praxis - nicht als intellektuelle oder politphilosophische Idee. Die Zeit, in der einige unhinterfragt über andere politisch bestimmen konnten, ist vorbei. Stattdessen bricht die Ära der demokratischen Mitbestimmung an, in der jeder Bürger (aber noch lange nicht jede Bürgerin), egal ob reich oder arm, ob gebildet oder ungebildet, eine gleichberechtigte Stimme hat, sie abgeben kann und damit Teil der Politik, ja sogar Grundlage aller Politik wird. Es ist auch der Moment einer bewussten Akzeptanz dieses Systems. Vielleicht der historisch wichtigste Moment der westlichen Gesellschaften überhaupt. Der Moment des Triumphes des eigentlichen Souveräns. Volkssouveränität wird Wirklichkeit. Was wir sehen, ist nicht ein schlichter Arbeiter bei der Stimmabgabe, sondern ein Vertreter der höchsten politischen Gewalt. Über den Bürgern gibt es keine andere Macht. Sie sind sich dessen bewusst. Es ist ein Moment des Triumphes, aber auch immer noch der Skepsis. Der Mann auf dem Bild kann sein Glück, 12sein neu gewonnenes Recht, noch gar nicht fassen. Lässt die linke Hand deswegen nur widerwillig von der Waffe ab?
Eine Wahl zu haben ist das Kernelement der Demokratie. Die Wortbedeutung als »Herrschaft des Volkes« kennzeichnet in ihrer einfachsten, aber wichtigsten Definition, dass sich Bürger ihre Regierungen und Vertreter wählen und diese regelmäßig durch Wahlen bestätigen oder - das entscheidende Merkmal - auch abwählen können.2 Damit verbunden sind fundamentale Rechte. Nicht nur das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, sondern auch das Gleichheitsprinzip, eine freie Presse, freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit etc. Demokratie beruht auf einem Prinzip der freien Wirtschaft: dem Wettbewerb - um Stimmen und Ideen, verbunden mit dem Risiko, aus dem politischen Markt gedrängt zu werden, sofern man den Bürgern kein befriedigendes Angebot macht oder die Qualität des politischen Produktes missfällt.
Demokratie heißt repräsentative Demokratie. Vertreter werden gewählt, um im Namen des Volkes in Parlamenten Politik zu machen. Kein entwickeltes, diversifiziertes und flächenmäßig über die Grenzen einer Kleinstadt reichendes Gemeinwesen kann sich effizient und bei jeder anstehenden politischen Entscheidung in Form einer direkten Demokratie organisieren, bei der Regierte und Regierende miteinander identisch sind und alle Entscheidungen von allen gemeinsam getroffen werden. Die parlamentarische Demokratie spiegelt ein weiteres, ebenso fundamentales Wirtschaftsprinzip wider: eine hoch ausdifferenzierte gesellschaftliche Arbeitsteilung. Man muss schlicht anderen überlassen, zu regieren.
Wenn Agulhon schreibt, das Recht löse die Gewalt ab, meint er, dass zuvor Spielregeln des demokratischen Mitein13anders in Form einer Verfassung festgelegt und akzeptiert wurden. Eine Verfassung, die von den Bürgern selbst, das heißt von ihren eingesetzten Vertretern, geschaffen wurde. Eine Verfassung, die Demokratie begründet, vom Volk abgesegnet und damit legitimiert wurde, wie es die Idee der Volkssouveränität vorsieht. Das Volk ist als höchste Gewalt auch der pouvoir constituant, die konstitutionelle Gewalt, die allein das Recht hat festzulegen, wie das politische System aussehen soll, unter dem es leben will. Demokratie ist regelgebunden. Wenn die Bürger das Instrument der Wahl akzeptieren, akzeptieren sie die Verfassung.
Es ist kein Zufall, dass auf dem Bild nicht eine Menschengruppe oder eine Menschenmasse zu sehen ist. Mit der demokratischen Zeitenwende beginnt das Zeitalter des politischen Individuums. Die Stimmabgabe ist die Aktion eines Einzelnen. Die individuellen Grund- und Freiheitsrechte, die in den Verfassungen festgelegt und garantiert werden, richten sich an Einzelne, sie schützen den Einzelnen und erlauben ihm, Dinge zu tun und Dinge zu sagen, ohne dafür belangt zu werden. Sie erlauben ihm auch, Entscheidungen über sein Leben selbst zu fällen. Das Individuum bildet die »Grundeinheit der Rechtsordnung«.3
Für den Staatsrechtler Carl Schmitt musste eine solche Rechtsordnung eine einzige Frage unmissverständlich klären: »Quis judicabit?« Wer entscheidet? Beziehungsweise grammatikalisch korrekt: Wer wird entscheiden?4 Also, wer erlässt die Regeln und Gesetze? Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes macht zumindest für die Bundesrepublik deutlich, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Das Volk entscheidet darüber, wer in seinem Namen entscheiden darf. Ohne Legitimierung durch das Volk ist niemand entscheidungsbefugt. In der wohl kürzesten, aber auch wichtigsten 14politischen Rede der Demokratiegeschichte, der Gettysburg Address, die der amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1863 noch mitten im Bürgerkrieg hielt, wird diese Bindung aller Entscheidungen an das Volk unterstrichen. Demokratie ist »government of the people, by the people, for the people«.5
In bestehenden Demokratien entscheidet sich der Souverän aber immer zahlreicher gegen das System, das ihm die höchste politische Gewalt zusichert. Die parlamentarische Demokratie erodiert. Die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Demokratie sinkt rapide. In einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2023 gaben mehr als die Hälfte der befragten Deutschen an, »weniger großes« oder »geringes« Vertrauen in die Demokratie zu haben.6 Ebenso viele sind wenig oder überhaupt nicht zufrieden damit, »wie die Demokratie in Deutschland funktioniert«, und stimmen zu, dass sich der Zustand der Demokratie in Deutschland »deutlich« oder »eher verschlechtert« hat.7 In das Parlament, den Bundestag, setzten nur 20 Prozent »großes« bis »sehr großes« Vertrauen. Dabei ist diese Unzufriedenheit nicht für bestimmte Schichten charakteristisch. Vielmehr lässt sich eine »inzwischen bis in...
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