Schweitzer Fachinformationen
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"Die Charaktere aus der Feder guter Autoren sind wie echte Menschen, nur echter", sagt Donna Leon. Darum wohl ist ihr Leben auch so reich an Figuren, echten und erfundenen. In Backstage tritt eine bunte Truppe auf: das Rock-Genie Frank Zappa, Venedigs bekanntester Diamantenhändler, eine tollkühne Sexworkerin, ein cleverer Komponist, tragische Helden, bewunderte Kollegen und Kolleginnen. Donna Leon gestaltet diese Begegnungen zu funkelnden Geschichten.
"Donna Leon hat mit ihrem Commissario Brunetti eine ebenso sympathische wie intelligente und humane Figur erfunden, ein ebenbürtiges italienisches Pendant zum französischen Kollegen Maigret."
Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.
Er müsste mittlerweile weit über fünfzig Jahre alt sein, doch allen Statistiken nach ist Cedric tot oder im Gefängnis. Er war schwarz und lebte in Amerika, also hatte er von Anfang an kaum eine Chance. Man könnte auch sagen, kaum eine Chance, noch bevor er überhaupt geboren war.
Kennengelernt habe ich ihn in den Siebzigerjahren, da war ich Anfang dreißig, lebte in Bloomf?ield, New Jersey, und machte an der Abendschule meinen Master in Englischer Literatur. Mein Geld verdiente ich mir als Aushilfslehrerin an den Grundschulen von Newark, New Jersey, der Stadt mit der höchsten Säuglingssterblichkeit im ganzen Land. Newark war nur etwa zehn Kilometer von Bloomf?ield entfernt, doch es hätte ebenso gut auf dem Mond liegen können, so sehr unterschieden sich die beiden Städte.
Cedric war einer der Drittklässler, die ich einen Monat lang unterrichten sollte. Er war mit seinen zehn Jahren in die Höhe geschossen und darum sehr dünn. Er hatte mittelbraune Haut und kurz geschorenes schwarzes Haar. Seine Augen waren eine Spur heller als sein Haar, und seine Hände standen nie still. Das Lächeln, das bisweilen über sein Gesicht huschte, war reizend, aber reserviert: Meistens wirkte seine Miene besorgt und nervös, eine Miene, die nichts auf dem Gesicht eines Zehnjährigen verloren hatte.
Die Schule, an der ich unterrichtete, war genau wie jene in unserer Lesefibel ein roter Ziegelbau. Das Rathaus der Stadt befand sich nach wie vor in der Hand der Italiener, die Anfang des 20. Jahrhunderts zu Millionen in die Staaten ausgewandert waren. Die schwarze Bevölkerung war deutlich in der Mehrzahl, besaß aber keinerlei politische Macht. Wir schreiben die Siebzigerjahre in den USA, so war das damals, obwohl es 1967 in Newark den Ghetto-Aufstand gegeben hatte. Zwar war der werte Herr Bürgermeister mittlerweile wegen Verschwörung und Erpressung verurteilt worden und saß hinter Gittern, doch die Bürger der Stadt kümmerte das wenig, und die Belegschaft der Franklin School schon gar nicht.
Man hatte mir etwa dreißig Kinder anvertraut, ohne mir zu sagen, was ich ihnen beibringen sollte und wie. Sie waren zur Hälfte Mädchen, zur Hälfte Jungen, die meisten schwarz.
Bei mir an der Grundschule hatte es einen einzigen Schwarzen gegeben, keinen an der Highschool und keinen an der Universität. Ich hatte keine schwarzen Freunde, weil die Rassentrennung es nicht zuließ, wir wussten so wenig voneinander, als lebten wir auf verschiedenen Planeten. Diskriminierung kannten Weiße nur aus dem Fernsehen, im Alltag begegnete uns das Unrecht nicht. Die wenigen Male, die ich zu Familienbesuch in den Südstaaten war, schreckten mich die Hinweisschilder auf, wonach bestimmte Trinkbrunnen, Busse, Restaurants, Strände und so ziemlich alle anderen Orte, an denen Menschen zusammenkamen, strikt nach Schwarz und Weiß getrennt waren. Die einzige Erklärung, die ich meinen durchaus liberal gesinnten Eltern abrang, war ein trügerisch neutrales »Die Menschen hier sind anders«. Wir hätten genauso gut in Kapstadt sein können.
Ich war die Enkelin von Einwanderern. Mein Familienname war ursprünglich »de León«, doch sowohl das »de« als auch der Akzent blieben in dem Hafen zurück, in dem mein Großvater väterlicherseits, der nie verriet, aus welchem südamerikanischen Land er stammte, in den Vereinigten Staaten anlandete. Er hat mit uns Enkeln kein Wort Spanisch gesprochen. Er kam, sah sich um, ging die Gangway hinunter und war, sowie er festen Boden betrat, durch und durch Amerikaner. Gebildet, erfolgreich als Geschäftsmann, unauf?fällig wurde er nie Opfer von Vorurteilen, und wir als seine Enkel wussten ohne den fremden Namen nicht einmal, was Vorurteile waren.
Ganz anders erging es Cedric, obwohl gebürtiger Amerikaner. Er fehlte häufig (melden musste ich das erst ab drei Tagen), und wenn er kam, saß er da und schaute die meiste Zeit zum Fenster hinaus. In meiner Erinnerung hat er sich immer als Erster gemeldet, wenn es ums laut Vorlesen ging. Er trug klar und deutlich vor, dass Jack und Jill den Hügel hinaufgingen und Farmer Brown seine Kühe liebte, gab den Stimmen der verschiedenen Figuren dabei eine dramatische Note. An seinen guten Tagen.
Bald nutzte ich solche Gelegenheiten, um ihn als Ersten drankommen zu lassen. An den weniger guten Tagen kam erst Leben in ihn während der Sportstunde im Freien, wo die Jungen sich wie von Dämonen besessen auf?führten, während sich die Mädchen sittsam auf einer langen Bank unterhielten. Und dann waren da die ganz schlechten Tage, vielleicht einmal pro Woche, an denen er es scheinbar grundlos auf eine Schlägerei anlegte, stets mit einem größeren und stärkeren Schüler als er selbst.
Von der zweiten Woche an wartete er auf dem Parkplatz, wo ich mein Auto abstellte, und ging mit mir gemeinsam Richtung Schule. Zweimal suchte er meine Hand und hielt sie, bis wir eine Straße von der Schule entfernt waren, dann war er weg.
Ich brauchte nur wenige Tage, um zu begreifen, in welchem Ausmaß die Welt dieser Kinder und meine sich voneinander unterschieden. Ich war eine weiße Mittelschichtlerin, vom Leben mit unzähligen Wohltaten verwöhnt, während sie die ganze Woche lang dieselbe Kleidung trugen und das Mittagessen, das es in der Schule gab, blitzschnell hinunterschlangen. Doch so wie Fische keine Proben des Wassers nehmen, in dem sie schwimmen, hinterfragten die meisten Menschen damals nicht - und ich fürchte, das tun sie auch heute nicht - die Gesellschaft, in der sie lebten.
Ich war gerade mal zehn Kilometer von Cedric entfernt aufgewachsen. Doch während ich mich mit der Unterscheidung zwischen einem Shakespeare- und einem Spenser-Sonett herumschlug, lernte Cedric sich durchsetzen, wo die Gewalt regierte.
In meiner letzten Woche kam eines Morgens ein Schüler außer sich zu mir und erzählte, Cedric habe ein Messer dabei und gedroht, einen von ihnen niederzustechen. Als ich Cedric auf?forderte, mir das Messer zu geben - mit Fragen hielt ich mich nicht auf -, klopf?te Cedric mit der Rechten und Linken gegen seine Taschen und beteuerte hitzig seine Unschuld.
Ich hielt ihm weiter die ausgestreckte Hand hin. Nach kurzem Widerstand gab er mir ein Taschenmesser, mit dessen Klinge man bestenfalls eine Weintraube hätte schälen können. Zu meiner und der anderen Schüler Verblüffung schritt er sodann quer durchs Klassenzimmer und stellte sich hinter die offene Tür, als habe er seine Schuld erkannt und wolle nun seine Strafe ableisten.
Zwei Jungen aus der ersten Reihe nutzten die allgemeine Ablenkung, um sich anzuschreien, und rauf?ten sich auch schon am Boden. Ich trennte sie, während es läutete, nie zuvor hatten Glocken einen so himmlischen Klang.
Die Kinder liefen in Reih und Glied, die Mädchen voran, leise aus dem Klassenzimmer und die Treppe hinunter; ich blieb zurück. Erst vor dem Schulgebäude würden sie außer Rand und Band geraten, doch dann war es nach fünfzehn Uhr und ich nicht mehr zuständig. Unfähig, mich zu rühren, starrte ich auf die Plakate an den Schranktüren hinten im Klassenzimmer, Porträts von Delaware, den Ureinwohnern des Landes, das heute New Jersey heißt: Federn im Haar, Gesicht und Körper in der gleichen Farbe wie Cedric.
Cedric.
Hinter der Tür.
Ich rief seinen Namen, näherte mich seinem Versteck: »Hey, Cedric, das war aber ein Riesenmesser, was?« Knarzen.
»Soll ich dich nach Hause fahren?«
Keine Reaktion.
»Ich bin geschafft. Du doch bestimmt auch.«
War da ein Geräusch? Ich fragte: »Hilfst du mir, die Fenster zu schließen?«
Die Tür bewegte sich, er schlüpf?te hervor und ging zu den Fenstern; behutsam und leise schloss er die unteren Hälften und überließ mir die oberen. Gemeinsam verließen wir die Schule, wegen der kühlen Herbstluft in Jacke und Schal eingemummelt. Cedric ging schnurstracks auf meinen roten VW zu, und als wir eingestiegen waren, bat ich ihn, mir den Weg zu sich nach Hause zu zeigen.
»Links. Jetzt rechts. Da vorne rechts ist ein Platz zum Parken.«
Ich machte, was er sagte, und wir stiegen aus. Er schloss geräuschlos die Wagentür hinter sich. Ich tat es ihm nach.
Die Häuser sahen alle gleich aus: schmal, aus Holz, überall blätterte die Farbe ab, morsche Stufen, noch mehr abblätternde Farbe.
Unter seiner Jacke holte Cedric den Schlüssel, den er umhängen hatte, hervor, steckte ihn ins Schloss und ließ mir den Vortritt. Noch mehr abblätternde Farbe, ausgetretene Stufen, ein wackliges Geländer.
Der durchdringende Geruch im Treppenhaus erinnerte mich an die Hamster, die mein Bruder früher gehabt hatte. Oben klopf?te Cedric leise an die Eingangstür zur Linken.
Man hörte ein Geräusch, ein Schlüssel drehte sich und ein zweiter, dann öffnete jemand die Tür. Die Frau konnte ihr Erschrecken nicht verbergen. Auf ihrer Miene spiegelte sich Angst, dann Argwohn und schließlich Neugier. Sie war groß; Augen und Mund ließen keinen Zweifel daran, dass sie Cedrics Mutter war.
»Das ist meine Lehrerin«, sagte er.
Ihre Züge entspannten sich, als sei die Gefahr vorüber.
»Kommen Sie herein, M'am. Möchten Sie ein Glas Wasser?«
Ich bemühte mich um ein Lächeln. »Danke, M'am, aber ich muss noch mal zur Schule zurück. Wegen meiner...
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