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In der Nacht war er aufgewacht, wie immer gegen 4.30 Uhr. Sofort waren die Gedanken da, die in der Dunkelheit so teuflisch wuchsen, die ihn wie Efeu umrankten, ihm die Brust zuschnürten. Und immer wieder diese verfluchten Bilder, das braune Fläschchen im obersten Fach des Panzerschranks, die behaarten Hände des Pfarrers, das leise Wimmern der Mutter, der Umschlag mit dem roten Wachssiegel, der Blick von oben auf das Bett, in dem er sich mit Krämpfen wälzte, Mathildes Tränen, das gleißende Nichts, das ihn verschlang. Es waren immer dieselben Bilder, die zu Staub zerfielen, sobald das erste Tageslicht durch das Fensterglas kroch. Weil böse Gedanken, ähnlich wie Vampire, nur in der Finsternis mächtig sind.
Das Gespräch mit Professor Mosländer war anders verlaufen, als Wenger es sich vorgestellt hatte. Weniger dramatisch, sehr gefasst. Mosländer hatte ihm erklärt, dass nun auch die rechte Herzseite geschwächt sei, dass die Atemnot zunehmen werde, auch die Schmerzen in den Beinen. Ein Schrittmacher könne da nicht mehr helfen, für eine Transplantation sei er zu alt. Besorgniserregend waren auch seine Nieren- und Leberwerte. Das neue Medikament, das ja wohl seine letzte Hoffnung war, schien nicht anzuschlagen. »Wie lange noch?«, hatte er gefragt. »Vielleicht zwei Monate, vielleicht zwei Jahre«, hatte Professor Mosländer gesagt.
Das war jetzt sechs Wochen her. Er hatte nur Mathilde davon erzählt, die komplett zusammengeklappt war, obwohl er die Lage wesentlich positiver beschrieben hatte als Mosländer. Na gut, sie kannte ihn und wusste, dass er in solchen Dingen immer untertrieb. Außerdem hatte sie dann selbst mit Mosländer gesprochen, der nichts gesagt, aber dafür wohl recht traurig geguckt hatte. Jedenfalls war ihm da klar geworden, dass er das alles erst mal für sich klären musste, bevor er anderen davon erzählte.
Aber wie soll man Dinge klären, die man selbst kaum begreifen kann? Er war es nicht gewohnt, dass es Probleme gab, die er nicht lösen konnte. Dass es einen Willen gab, der stärker als seiner war. Es hatte ihn immer wütend gemacht, wenn Leute vom Schicksal sprachen, weil ihm das so mutlos und unengagiert erschienen war. Eine bequeme Ausrede von irgendwelchen Sesselfurzern, die nicht bereit waren, Verantwortung zu übernehmen. Was sollte denn das sein, dieses Schicksal? Irgendein göttlicher Plan vielleicht? Er war überzeugt, dass nur die Dummen und die Faulen vom Schicksal überrascht wurden, alle anderen bestimmten ihr Leben selbst.
Das ging ein paar Wochen so, dieser Kampf mit sich selbst und mit der Einsicht, dass all seine Stärke und Entschiedenheit ihm nichts nutzten angesichts des Unvermeidlichen. Nicht unwichtig war vermutlich ein Telefongespräch mit Professor Mosländer, der ihm eine Pflegerin vermitteln wollte. »Sie brauchen Hilfe«, hatte Mosländer gesagt, »schon bald werden Sie sich nicht mehr alleine anziehen können, in spätestens einem halben Jahr wird es Ihnen schwerfallen, ohne Hilfe das Bett zu verlassen.«
Da war für ihn die Entscheidung gefallen.
Die Fragen, die dann kamen, erschienen ihm schon wieder vertrauter, weil sie praktisch und lösbar waren. Wo bekam man das Natrium-Pentobarbital her, dieses Zeug, das sie in der Schweiz in den Sterbehäusern verwendeten? War es angeraten, dazu noch Metoclopramid zu schlucken, um den Brechreiz auszuschalten? Könnte Professor Mosländer ihm das Gift auch intravenös verabreichen? Oder zumindest einen Zugang legen? Wenn das alles organisiert wäre, so dachte Wenger, dann würde es ihm besser gehen, weil er sein Schicksal wieder selbst in der Hand hätte. Nun ja, das war nur einer von mehreren Irrtümern gewesen.
Er drehte sich zur Seite, ließ die Beine über die Bettkante gleiten, spürte den weichen Teppich unter den Füßen. Nach ein paar Minuten stemmte er sich hoch, blickte aus dem Fenster zum Ahorn hinüber, der wie ein knorriger Wächter vor seiner Villa im Berliner Westend wuchs. Der Baum beruhigte ihn, wie er da so stand, unerschütterlich, selbstverständlich. Der weiße Kastenwagen von »Feinkost Mayer« parkte in der Auffahrt. Der alte Mayer sprach mit Mathilde, während die Haushälterin, die Köchin und der Gärtner riesige Tüten und Kartons ins Haus brachten, als würde die halbe Stadt zu Besuch kommen. Dabei kamen doch nur Selma und Philipp samt Ehepartnern. Und Hubert, der Notar der Familie, der über die Jahre so etwas wie ein Freund geworden war, auch wenn Wenger ihn selbstverständlich nie so nennen würde.
Mathilde hätte am liebsten noch mehr Leute eingeladen, weil der Achtzigste doch angeblich so ein wichtiges Datum war. Aber Wenger waren Geburtstage schon immer suspekt gewesen. Er mochte es nicht, auf diese Weise im Mittelpunkt zu stehen. Was war es denn für ein Verdienst, geboren worden zu sein? Jeder wurde irgendwann geboren, selbst die größten Trottel hatten das geschafft. Alle, die auf diese Welt kamen, waren Sieger, waren aus Samenzellen entstanden, die sich gegen Millionen anderer Samenzellen hatten durchsetzen müssen, um als Erste in der Eizelle anzukommen. Wenn aber alle Sieger waren, fand Wenger, war es doch ziemlich lächerlich, sich dafür auch noch feiern zu lassen.
Wobei er zugeben musste, dass er Geburtstage schon als Kind nicht gemocht hatte, was vor allem mit seiner Angst zusammenhing, die anderen könnten ihn vergessen haben. Sie waren fünf Söhne zu Hause gewesen, da konnte man schon mal übersehen werden. In jeder Geburtstagsnacht war er sicher gewesen, dass diesmal keiner an ihn dachte. Dass niemand am nächsten Morgen vor seinem Bett stehen würde, um ihm im Schein der Kerzen und im vielstimmigen Familienchor »Viel Glück und viel Segen« zu wünschen. Und selbst der Umstand, dass er nie vergessen wurde, dass sie immer vor seinem Bett standen, hatte ihm die Sache nicht leichter gemacht.
Hinzu kam, dass seine Mutter am Morgen seines einunddreißigsten Geburtstages gestorben war, was ihn später zu der, zugegeben übertriebenen, Annahme verleitete, sie hätte sein Leben mit ihrem Tod bezahlt. Er war mit ihr alleine gewesen, als sie starb, seine Mamusch, noch heute spürte er ihre knöcherne Hand in seiner, hörte das Wimmern ihres letzten Kampfes, das sich jetzt in seine Nächte schlich und ihn darin bestärkte, eine Abkürzung aus dem Leben zu nehmen.
Er würde es ihnen heute Abend sagen, nach dem Dessert. Sie könnten dann anschließend einen Pflaumenbrand trinken, zur Verdauung des Essens und der traurigen Nachricht. Er musste sich noch die richtigen Worte zurechtlegen, die Frage war vor allem, wie direkt, wie konkret er es sagen sollte. War es besser, in vagen Metaphern zu sprechen, oder sollte er ihnen klipp und klar sagen, was er vorhatte?
Am meisten Sorgen machte er sich um Mathilde. Deshalb hatte er in den letzten Tagen immer mal wieder Anläufe unternommen, um sie darauf vorzubereiten. Aber jedes Mal, wenn er etwas sagen wollte, und sei es auch nur eine Andeutung darüber, wie es um ihn stand, wurde er von der Wucht der eigenen Nachricht übermannt. Er spürte, dass im Moment der Verkündung aus bloßen Gedanken so etwas wie Wirklichkeit werden würde.
Was seine Kinder betraf, gab sich Wenger keinen Illusionen hin. Vielleicht würden sie erst mal schockiert sein, aber vermutlich nicht stärker als damals, als Benno, der Foxterrier der Familie, nach einem stolzen Hundeleben von ihnen gegangen war. Sie würden vermutlich vor allem erleichtert sein, weil der Alte endlich keinen Druck mehr machen konnte. Er hatte Selma und Philipp immer gefördert, wollte sie zu seinen Nachfolgern aufbauen, aber sie scheuten die Verantwortung, erfanden immer neue Gründe, sich der Aufgabe zu entziehen. Mathilde meinte, die Kinder könnten nicht gedeihen in seinem Schatten, aber das war natürlich Blödsinn. Was denn für ein Schatten? Er gab ihnen Luft, er gab ihnen Sonne, er gab ihnen alles, was sie brauchten. Aber Selma und Philipp beklagten sich immer nur, weil sie angeblich Gefangene der Familie waren, ihre Existenz schon vorherbestimmt war.
Wie oft hatte er sich dieses Gejammer anhören müssen. Auf Mathildes Wunsch hin, die meistens auf der Seite der Kinder stand, hatte er versucht, sich etwas Verständnis für die beiden abzuringen. Aber es fiel ihm nicht leicht, weil er es schlicht nicht kapierte. Glaubten diese verwöhnten Bälger wirklich, dass sie es schwerer hatten als er? Er, der als Kind noch Hunger und Krieg erlebt hatte, der sich ohne Ausbildung hocharbeiten musste, der mit zwanzig seine Bau- und Immobilienfirma gründete und seit dem frühen Tod des Vaters die komplette Familie durchfüttern musste? Glaubten Selma und Philipp wirklich, sie hätten leiden müssen? Mit ihren englischsprachigen Kindermädchen, den Skiurlauben in Davos, dem Segelboot auf dem Wannsee, dem Studium in Oxford? Dazu noch die liebevollste Mutter der Welt. Und ja, zugegeben, ein ziemlich beschäftigter Vater, der sich erdreistete, sich nicht nur für seine Kinder, sondern auch ein wenig für seine zweitausend Mitarbeiter verantwortlich zu fühlen.
Im Grunde, davon war Wenger überzeugt, war das Gejammer seiner Kinder nur ein Vorwand, um sich aus der Pflicht zu stehlen. Denn ganz offensichtlich hatten beide sein unternehmerisches Talent geerbt, Selma sogar noch mehr als Philipp. Hinzu kam ihr Gespür für Menschen, ohne das im Immobilienbereich gar nichts ging. Als Selma im zweiten Jahr in der Firma war, hatten sie einen Großkunden aus Schweden, der zweihundertfünfzig Wohnungen kaufen wollte. Kurz vor der Unterzeichnung der Kaufverträge versuchten die Schweden den Preis zu drücken, was Wenger vor große Probleme stellte, da er in Geldnot war und verkaufen musste. Selma schlug damals vor, die Gespräche mit den...
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