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Ein stechender Schmerz fährt Daniel Voss in die Seite, er bleibt keuchend stehen, Schweiß fließt ihm in die Augen. Er stützt sich mit den Händen auf den Knien ab, sieht seine dünnen, blassen Beine und die neonfarbenen Joggingschuhe mit den roten Blitzen an den Seiten, die ihm wie ein absurdes Versprechen erscheinen. Was für eine dämliche Idee, dieser Morgenlauf, denkt Voss. Normalerweise würde er um diese Zeit friedlich schlafen. Was macht er hier eigentlich? Die Schuhe hat ihm Maja vor ein paar Wochen zum Geburtstag geschenkt. Sie meinte, es wäre nicht schlecht für einen Mann in seinem Alter, ein wenig Sport zu treiben. Aha, sie beginnt mich zu verändern, dachte Voss. Die Joggingschuhe standen dann in seinem Schrank, wo sie jetzt wohl immer noch stehen würden, wenn Maja sie nicht einfach eingepackt hätte.
Es ist ihre???? erste gemeinsame Reise. Wobei Voss lieber von einem Ausflug spricht, das klingt weniger bedeutend, findet er. Eine Schulfreundin aus Polen hat Maja zu ihrer Hochzeit eingeladen. »Ich kann da nicht alleine hinfahren«, sagte Maja. »Nur alte Jungfern gehen alleine zu einer Hochzeit.« Es war ein seltsames Gefühl, als sie gestern in Sternekorp ins Auto stiegen und losfuhren. Wie ein richtiges Paar.
Offiziell ist es nämlich so, dass Maja, eine gelernte Krankenschwester aus Polen, die Pflegerin seiner Mutter ist. Sie wohnen beide seit mehr als einem Jahr im elterlichen Haus, Maja in einer Stube unter dem Dach, Voss in seinem alten Kinderzimmer. In mancher Nacht kommt Maja zu ihm, in mancher Nacht geht er zu ihr. Aber sobald der Tag anbricht und die Mutter ihre Befehle durch das Haus ruft, ist er wieder der Sohn und sie die Pflegerin. Seit ein paar Monaten geht das jetzt so, und wenn Voss ehrlich ist, dann findet er diese Situation erst mal gar nicht schlecht: Er hat eine Beziehung, ohne eine Beziehung zu haben. Er wohnt mit einer Frau zusammen, ohne mit ihr zusammenzuwohnen. Er mag diese Frau, sehr sogar, und sie ist so rücksichtsvoll, ihn nicht unter Druck zu setzen. Es ist alles erstaunlich ungeklärt - und erstaunlich schön.
Bevor die Sache mit Maja begann, wollte er so schnell wie möglich fort aus dem Haus der Eltern in Sternekorp. Es sollte eine Übergangslösung sein, nur für den Anfang, als er gerade in Bad Freienwalde bei der Mordkommission begonnen hatte. Doch dann kam ihm ein Fall dazwischen und dann noch einer und schon bald wollte er gar nicht mehr weg. Bei den meisten Paaren gilt der Schritt des Zusammenwohnens als ultimatives Bekenntnis der Liebe. Bei ihnen ist es umgekehrt, da besteht das Bekenntnis darin, auch außerhalb des Hauses zusammen zu sein. Deshalb fand Voss diesen Ausflug nach Polen anfangs zwar ganz schön, aber eben auch gefährlich. Schon die Art, wie ihm seine Mutter beim Abschied verschwörerisch zuzwinkerte, machte ihm klar, wie bedroht ihr charmantes Doppelleben war. Die Mutter behauptete auf einmal sogar, gar keine tägliche Pflege mehr zu benötigen. »Lasst euch Zeit, Kinder, ich komm' schon klar«, rief sie ihnen hinterher.
Sein Puls wird ruhiger, er setzt sich am Rande des Feldwegs ins Gras, die Morgensonne wärmt angenehm. Voss blickt sich um, auf der Weide vor ihm stehen Kühe, die entspannt vor sich hin fressen. Er hört sie schmatzen und mit den Kiefern mahlen, eine Kuh hält beim Fressen die Augen geschlossen und sieht dabei genießerisch aus. In nicht allzu großer Ferne ist der Bauernhof zu sehen, auf dem sie letzte Nacht die Hochzeit gefeiert haben. Voss ist höchstens einen Kilometer gelaufen und schon völlig fertig, was allerdings auch daran liegt, dass er ein Atemproblem hat. Er weiß nicht, ob man beim Joggen durch die Nase oder durch den Mund einatmet, das war schon früher im Sportunterricht so. Wenn er Herrn Höstermann, den Sportlehrer, fragte, wie er denn nun einatmen solle, dann rief dieser: »Durch den Arsch, Voss!« Na ja, deshalb hat er jetzt dieses blöde Seitenstechen.
Und einen Brummschädel! Keine Ahnung, wie viel sie gestern Abend getrunken haben. Voss war das erste Mal auf einer polnischen Hochzeit, er wusste nicht, dass in den großen Wasserflaschen, die auf den Tischen in der Scheune standen, selbst gebrannter Wodka war. Sie haben den Wodka getrunken, Speck gegessen und getanzt. Noch bevor das Festessen losging, wirbelte die komplette Hochzeitsgesellschaft über den gestampften Lehmboden. Auch Voss tanzte ausgelassen. Maja nannte ihn »meinen deutschen Derwisch«, weil er schon bald ziemlich einen in der Krone hatte und seine Beine in die Luft warf, wie er das mal in einem russischen Märchenfilm gesehen hatte.
Voss steht auf, läuft gemächlich den Feldweg Richtung Bauernhof zurück, der Himmel ist blau und klar, von den Wiesen steigt feuchte Wärme auf, es wird ein heißer Tag, das kann man jetzt schon spüren. Wenn er nicht wüsste, dass er hier in Polen ist, würde er es wohl nicht merken. Alles sieht aus wie in Sternekorp. Die geschwungenen Felder und Wiesen, die Höfe aus rotem Backstein, die Storchennester auf den Telegrafenmasten, die verschilften Seen, die Feldsteinhaufen in den Senken. Etwa zwanzig Kilometer sind sie hier von der Oder entfernt, ähnlich weit wie Sternekorp vom anderen Oderufer wegliegt. Aber trotz der Nähe der Orte und der Ähnlichkeit der Landschaft kommt sich Voss gerade sehr weit weg vor. Angenehm weit weg, fast wie in einem anderen Leben. Vielleicht werden sie nachher baden gehen. Und die nächsten Tage hat er sich ebenfalls freigenommen. Er ist froh, dass er diesen Ausflug gewagt hat, er ist froh, gleich bei Maja zu sein, die wahrscheinlich noch im Bett liegt, weil sie zwar anderen das morgendliche Joggen empfiehlt, aber selbst gerne länger schläft.
Auf dem gepflasterten Hof hinter der Scheune ist noch alles ruhig, zwei verkaterte Hochzeitsgäste sitzen in der Sonne, trinken Kaffee. Voss nickt ihnen zu, läuft an dem alten Ziehbrunnen vorbei zum Gästehaus hinüber, das mal ein Stall gewesen sein muss. Eine Außentreppe führt an runden Luken entlang, durch die wahrscheinlich früher das Futter in den Stall geworfen wurde und die jetzt verglast sind und wie Bullaugen aussehen. Durch eines der Bullaugen kann Voss in Majas Zimmer schauen. Sie haben zwei nebeneinanderliegende Zimmer genommen, Maja hat das so organisiert, vielleicht um ihn nicht zu überfordern. Oder um selbst den Fragen der anderen zu entgehen. Geschlafen haben sie bei Maja, die schon aufgestanden zu sein scheint, das Bett ist leer. Voss geht in sein Zimmer, duscht, zieht ein weißes T-Shirt und eine Jeans an. Er hat auch eine kurze Hose mitgenommen, aber er mag seine dürren, weißen Beine nicht zeigen, vor allem nicht hier, wo alle mindestens zehn Jahre jünger sind als er. Das ist der Nachteil, wenn man mit einer jüngeren Frau zusammen ist, denkt er. Mit Maja allein spürt er den Unterschied gar nicht so sehr, aber wenn andere dabei sind, fühlt er sich wie ein Opa. Er betrachtet sich in dem kleinen Spiegel im Bad, sieht die roten Flecken auf seiner Stirn, die wulstigen Augenlider, die von tiefen Falten umrandet sind. Je länger man ein Körperteil betrachtet, desto schlimmer sieht es aus, denkt Voss.
Maja antwortet nicht, als er an ihre Tür klopft. Vielleicht ist sie schon zum Frühstück gegangen. Er steigt die Außentreppe hinunter, er hört einen Motor aufheulen, er hört Schreie. Eine junge Frau kommt in den Hof gerannt, Voss kennt sie von gestern Abend, sie ist eine der beiden Trauzeugen, die um Mitternacht ein Lied für das Brautpaar gesungen haben. Die Frau ruft etwas, sie sieht zu Voss hoch, fuchtelt mit den Armen. Dann scheint ihr einzufallen, dass er ja gar kein Polnisch spricht. »Männer ... Maja ... weg«, schreit sie. Er spürt, wie sein Magen sich vor Schreck zusammenkrampft, er nimmt die letzten Treppenstufen mit einem einzigen Sprung, rennt durch die Hofdurchfahrt zum Parkplatz. Dort ist nichts zu sehen, nichts zu hören. Die Frau ist ihm gefolgt, sie zeigt in Richtung der schmalen Asphaltpiste, die vom Parkplatz zum Dorf führt. »Männer, Auto!«, ruft sie. Voss tastet die Hosentaschen nach seinem Autoschlüssel ab, ihm fällt ein, dass er die Hose gewechselt hat, er rennt in sein Zimmer, findet den Schlüssel, rennt zum Parkplatz zurück. Er startet den Wagen, die Frau springt auf den Beifahrersitz, sie fahren los. Nach ein paar Minuten kommen sie an eine Kreuzung. Wenn Voss sich richtig erinnert, geht es links zum Dorf und rechts zur Landstraße. Er fährt rechts, sieht nach einer Weile in der Ferne die Alleebäume in einer langen Reihe stehen. Er erkennt einen Lastwagen, der nach Osten fährt, ansonsten ist die Landstraße leer. »Weiß Auto«, sagt die Frau. Voss fährt bis zur Landstraße vor, die Frau redet ununterbrochen, aber er versteht kaum etwas. Nur so viel, dass offenbar zwei Männer Maja in ein weißes Auto gezogen haben und weggefahren sind.
Als sie an der Landstraße ankommen, fährt ein grüner Traktor vorüber, sonst ist nichts zu sehen. Voss weiß, dass es sinnlos ist, weiterzufahren. Er fährt trotzdem weiter, mit hoher Geschwindigkeit Richtung Osten, die Straße glänzt in der Sonne, irgendwann hält Voss am Straßenrand an. »Wir müssen die Polizei verständigen«, sagt er, sein Hals ist trocken, seine Hände zittern.
Im Polizeipräsidium von Chojna, der nächstgelegenen kleinen Stadt an der Landstraße, die nach Osten führt, öffnet ein schmächtiger, verschlafener Mann in zerknitterter Uniform die Tür. Der Beamte ist offensichtlich nicht begeistert davon, an diesem frühen Sonntagvormittag gestört zu werden. Voss versteht nichts von dem, was die junge Frau an seiner Seite und der Polizist miteinander reden, aber es ist klar, dass der Mann seine Ruhe haben will. »Morgen wiederkommen«, sagt die Frau. Voss hält dem Beamten seinen Polizeiausweis vor die Nase. Der blinzelt, ist auf einmal wach. Voss und die Frau,...
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