Schweitzer Fachinformationen
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DIE GESCHICHTE HINTER DER GESCHICHTE
Mein Einsatz unter Spettros Kommando fand 2016 in Kurdistan statt, etwa 150 Kilometer entfernt von Bagdad. Spettro gehörte zu einer westlichen Spezialeinheit zur Ausbildung der Peschmerga, der Armee der Autonomen Region Kurdistan-Irak. Die Peschmerga sollten im Kampf gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) unterstützt werden. Kurdistan: Kurdi-Stan, das Siedlungsgebiet derer, die sich Kurden nennen. Es erstreckt sich von Syrien über die Türkei und den Irak bis in den Iran. Koloniale Grenzziehung trennte die Kurden in ein Volk ohne eigenen Staat. Drei Gebiete, in denen sie leben, gelten aus Sicht vieler Kurden als "besetzt", nur Kurdistan-Irak als "befreit". Hier spricht man mit Sorani eine andere Sprache als im Rest des Irak. In Kurdistan-Irak ist es erlaubt, Alkohol zu trinken und Minirock und Make-up zu tragen. Die Kurden hier haben ein eigenes Parlament, eine eigene Regierung und es gibt freie und geheime Wahlen, eigene Visa, eine eigene Polizei und mit den Peschmerga eine eigene Armee. All dies ist in der irakischen Verfassung garantiert. In der Regionalhauptstadt Erbil, etwa 250 Kilometer von unserem Einsatzort entfernt, stehen moderne Shopping Malls, schicke Cafés und Freizeitparks gleich neben der Zitadelle, dem ältesten bewohnten Gebäude der Welt.
Als die Autonome Region Kurdistan 2014 vom Islamischen Staat angegriffen wurde, bat sie die Welt um Hilfe. Einige Nationen hatten noch Soldaten vor Ort, seit dem letzten Irakkrieg zur Ausbildung dort stationiert. Nun wurden es wieder mehr, vor allem von Seiten der Amerikaner und Briten. Auch verschiedene andere europäische Länder haben Ausbilder nach Kurdistan-Irak geschickt. Die Details sind nicht geheim, aber man macht sie auch nicht gern öffentlich. Die Ausbilder sind teilweise in eigenen Basen, teilweise bei den Peschmerga stationiert. Da ich alle Beteiligten kenne, durfte ich sie begleiten, aber keine Aufzeichnungen in Bild oder Ton machen und auch nicht veröffentlichen, wer sie genau sind.
Spettro lernte ich in der Kaserne eines Peschmerga-Generals kennen. Hotels oder ähnliches gibt es in den ländlichen Gegenden kaum, aber Kurden sind hilfsbereit. Man kann problemlos an einer fremden Haustür klopfen und bekommt etwas zu essen und kann die Nacht dort verbringen. So hatte es mich für einige Tage in die Kaserne verschlagen. Da der IS keine Luftwaffe und kaum Artillerie besitzt, waren Angriffe auf Militärstützpunkte kaum zu befürchten. Ich konnte in der Kaserne sicher wohnen und lernte den Alltag der Soldaten kennen. Auf den ersten Blick teilweise harte Typen, groß und breit wie die Klitschkos, kampferfahren. Aber morgens stand dann einer von ihnen mit Schürze am Herd und machte Frühstück. Abends saßen die Männer zusammen und führten Videotelefonate mit der Familie, den Kindern, ihren Eltern, Frauen oder Freundinnen, berichteten vom Tag und davon, dass sie gerade einen Deutschen zu Gast hatten. "Der isst gar nichts. Ich frage mich, wie die in Deutschland überleben. Gerade mal fünf Vorspeisen und er will nicht mal mehr das Hauptgericht." Zu essen gab es Eier, Honig, Jogurt, Fladenbrot, Tomatensuppe, Reis und Fleisch. Ich konnte im Schlafraum mit den anderen übernachten. Die Männer waren offen, freundlich und bereit, mich zu schützen. Und sie stellten mir andere interessante Menschen vor - so auch Spettro und einige westliche Ex-Elite-Soldaten.
Im "Remote Area Combat First Aid"-Training ("Erste Hilfe bei Kampfhandlungen in entlegenen Gebieten") habe ich gelernt, dass "entlegene Gebiete" nicht zwingend geografisch entlegen sein müssen. Oft sind sie nur schwer erreichbar. Oder zum Beispiel eingestürzte Häuser mitten in der Großstadt. Ein bisschen so fühlte sich der Ort an, in dem ich mich aufhielt, als Spettros Kommando mich auf seinen Einsatz mitnahm. In einer Stunde erreichte man den Freizeitpark und die Mall. Aber wir waren hier am Ende der Welt. Als eines Tages ein Wasserhahn abbrach, dauerte es Stunden, bis Ersatz da war. So lange gab es kein Wasser - kein Duschen, keinen Tee. Der Versuch eines Soldaten, seine Kalaschnikow in das Rohr zu stecken, um den Wasserfluss zu stoppen, endete damit, dass er die geflutete Waffe zerlegen und reinigen musste.
Spettros Gruppe hatte inzwischen Quartier in einem teilweise eingestürzten Haus bezogen. Ein Zwei-Etagen-Plattenbau aus Betonfertigteilen. Die obere Etage hatte vermutlich eine Granate abbekommen, eine Wand war eingesunken, die Decke daher schief. Oben wohnten Tauben. Und dort oben lagen die Beobachtungsposten. Unten "wohnten" wir anderen, teilten uns eine Toilette, ein Loch im Boden. Darüber ein Duschkopf, unter dem wir uns wuschen. Das Wasser war zwar kalt, aber draußen herrschte extreme Hitze. Meist hielten sich nur wenige Personen dort auf, vor Einsätzen wurden es auch mal zwanzig bis dreißig Männer. Der Feind konnte leicht beobachten, was hier vor sich ging. "Aber die meisten beim IS sind echt ziemlich blöd. Und sie wechseln oft, es gibt keine richtige Übergabe zwischen den verschiedenen Gruppen. Daher geht es so ganz gut", wurde mir erklärt.
Die Ausrüstung der Einheit stand im starken Gegensatz zu dem heruntergekommenen Gebäude: moderne westliche Nachtsichtbrillen, Panzerabwehrwaffen, verschlüsselte Funk- und Satellitenkommunikation und Waffen auf dem aktuellen Stand der Technik. Die westlichen Ausbilder waren extrem erfahren, die Peschmerga sind wissenshungrig und haben große praktische Erfahrung vor Ort. Sie erkennen zum Beispiel sofort, wenn etwas in der Landschaft merkwürdig erscheint oder eine Person aus der Menge sticht. Meine ungeübten Augen hätten das nicht gesehen. Da hieß es: "Na guck mal, das Hemd! So was trägt hier niemand", als wir im nächstgelegenen Ort über den Basar gingen. Der Mann war ein Flüchtling aus dem Rest-Irak, erst seit kurzem in Kurdistan, und fiel noch auf.
Das eingestürzte Haus lag in Reichweite der wenigen Raketenwerfer, die der IS besaß. Dennoch hatte niemand Sorge vor einem Angriff. Der IS sei stark geschwächt, hieß es, angeblich "besiegt". Doch "besiegt" wurde er nun schon drei oder vier Mal. Er war immer noch zu stark, gerade in den ländlichen Gegenden. Deshalb hatte ich die schusssichere Weste und den Helm immer in direkter Reichweite. Mein Wissen über Ausrüstung und Kampfhandlungen war noch begrenzt.
Wenn ich schlafen ging, lag die Weste, schwer und unhandlich, aufgeklappt neben mir, der Helm darauf. Dafür wurde ich oft belächelt. Genauso wegen meines Kopfkissens neben dem Bett. Ich wollte mich einfach aus dem Bett rollen und auf den Boden fallen lassen können, wenn es irgendwo knallte. Schnell weg vom Fenster, weg von den Splittern.
Ich lag auf dem Boden, auf meiner Matte, als Spettro reinkam und sagte: "Bro! We're going into the fire. Your chance." Spettro trug seine Waffen an der Weste, Helm und Nachtsichtbrille hatte er aufgesetzt. Das hieß, es würde unmittelbar losgehen. Wie hier üblich, hatte ich in meinen Klamotten geschlafen. Man behielt sie dann den Tag über an, abends ging man duschen, um frisch zu sein, wenn man mit den anderen zusammensaß. Immer am Bett stand der berüchtigte Energydrink "Tiger", der so gesundheitsschädlich war, dass er schließlich auch im Irak verboten wurde. Neben exorbitanten und schwankenden Mengen Koffein enthielt er auch Ritalin. Aber er hielt wach. Wie die anderen trank ich damals täglich ein Sixpack.
Ich war sofort wach, rollte mich auf meine Weste, schloss die Klettverschlüsse, richtete mich schwerfällig auf und tappte nach draußen, wo schon die Humvees standen, große, gepanzerte US-Militär-Geländewagen, innen überraschend eng. Zwischen Fahrer und Beifahrer befindet sich das kühlschrankgroße Getriebe. An den Türen sind Hebel angebracht, lang wie Besenstiele, mit denen man die Türen verriegeln kann. Einen Schlüssel gibt es nicht; man drückt den Starter und hört den Diesel anlaufen. Ein reines Arbeitsfahrzeug, absolut untauglich für alles andere. Die Türen des Humvees wurden "Tictoc" genannt, nach dem Krokodil aus "Peter Pan". Das hat eine Uhr verschluckt und man hört das "Tictoc", wenn es sich nähert. Das Krokodil in der Geschichte hat einem Protagonisten einen Arm abgebissen und er hat Angst, dass es das wieder tut. Die Soldaten hatten Sorge, dass die Tür ihnen ein Bein abtrennt, wenn sie es beim Zuschlagen nicht schnell genug wegziehen. Bei rund 250 Kilo Gewicht keine ganz abwegige Idee.
Die Männer aus Spettros Einheit waren auf Geiselbefreiung spezialisiert. Das konnte unterschiedlich aussehen. Oft schossen sie aus großer Distanz...
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