Schweitzer Fachinformationen
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Er lag ruhig im Sand, er lag allein in der Dunkelheit vor dem Strom, sein Kopf ruhte in den aufgestützten Händen, und sein Blick lief über das Wasser, ernst und genau. Es war trübes, drängendes Wasser, das der Strom heranbrachte, es floß glatt vorbei und schnell, es floß vorüber ohne Strudel und Behinderung, und der Junge blickte darüber hin zum anderen Ufer. Er beobachtete die Lichter unterhalb der Böschung, er verfolgte ihre Bewegungen, die Lichter kreuzten und schnitten sich, sie wanderten starr und sanft durch die Dunkelheit, grüne und gelbe Lichter. Und dann sah er, wie ein Dreieck aus Lichtern sich von der Böschung löste, es löste sich von den anderen Lichtern, es löste sich von der Stadt und ihrer hohen Helligkeit, die hinaufzureichen schien bis in den Himmel, und drehte in den Strom.
Das Lichterdreieck der alten Fähre kam schräg auf ihn zu, lautlos und langsam, es bewegte sich mit feierlicher Starrheit durch den Abend über dem Strom, und der Junge sah der Fähre entgegen und blieb liegen im feinen, kalten Sand.
Er wartete, bis die Fähre festmachte am Holzsteg, er verfolgte ruhig, wie sie die schweren Manila-Trossen von Bord aus über die Poller warfen; die letzte Bewegung der Fähre fing sich jetzt in den Leinen, sie kam zur Ruhe, sie lag knarrend und scheuernd am hölzernen Landungssteg.
Es stieg nur ein Mann aus, ein hochgewachsener, magerer Mann, er trug eine alte Lederjoppe, Baumwollhosen, genagelte Stiefel, er ging über die Laufplanke und den Steg hinab, er ging den Uferpfad entlang und bog dann ab zu dem alten Haus auf dem Sandhügel. Der Junge sah ihn den Pfad heraufkommen, er erkannte ihn sofort; er erhob sich und lief die Rückseite des Sandhügels hinauf, und als der Mann den kleinen Schuppen erreicht hatte, stand der Junge in der dunklen Stube am Fenster und sah hinaus. Er sah, wie der Mann am Schuppen stehenblieb, nur sein Oberkörper ragte aus dem Schatten heraus, er stand einsam und unbeweglich da und blickte zur Fähre zurück, die losgemacht hatte und schräg gegen die Strömung mahlend davonfuhr.
Das Haus war klein, es war niedrig und zeitgeschwärzt, und es lag allein auf einem Sandhügel, von einem schäbigen Zaun bewacht, der an der Rückseite aufhörte. Auf der Rückseite war ein offener Platz, zugig und sandüberweht, mit wenigen Schritten zu überqueren, und da stand der Schuppen, da lagen Holz und alte Bootsteile, und auf der Rückseite war auch der Eingang.
Der Junge wartete, bis der Mann aus dem Schatten hervortrat und auf das Haus zuging, und als er die genagelten Stiefel auf dem Steinflur hörte, lief er nach hinten und schlüpfte unter die Bettdecke. Er rollte sich zusammen, nur sein junges, ernstes Gesicht und das sonnengebleichte Haar sahen unter der Decke hervor, seine Hände waren zu Fäusten geballt und gegen den Leib gepreßt. Als das Licht aufflammte, warf er sich auf die Seite und zog die Decke nach. Er zog sie ganz über den Kopf und beobachtete durch einen schmalen Spalt den Mann, und er sah, wie der Mann die Joppe auszog und sie an einen Haken hängte, und wie er in eine Tasche der Joppe griff und einen Packen Papiere herausholte. Der Mann ließ die Papiere durch seine Hände gleiten, er betrachtete und prüfte sie der Reihe nach, weiße, blaue Papiere, dann stopfte er sie, bis auf ein blaues Heft, wieder in die Tasche zurück und ging langsam zum Fenster. Er hob eine Fußbank auf, stellte sie vor eine Kiste, die mit bedrucktem Wachstuch bedeckt war, und setzte sich hin. Er legte sein blaues Taucherbuch auf die Kiste und begann zu blättern, er las mit ausdruckslosem Gesicht alle Eintragungen, und es war sehr still in der Stube. Und nachdem er alles gelesen hatte, blätterte er zur ersten Seite zurück, preßte das Buch mit der Hand auseinander und ließ es aufgeschlagen vor sich liegen. Dann stand er auf und zog eine Rasierklinge aus dem Spiegelrand, er holte Tinte vom Küchentisch, er holte ein Messer und ein Stück Holz und legte alles auf die Kiste.
Der Junge vergrößerte den Spalt zwischen Decke und Bett, und jetzt sah er, wie der Mann die Rasierklinge mit dem Messer in ein Holzstück klemmte und sie vorsichtig auf das Papier setzte, seine Finger bewegten sich, ein dünnes, kratzendes Geräusch entstand, und während er von Zeit zu Zeit die Papierkrümel auf die Erde blies, blitzte die Rasierklinge schnell und scharf auf.
Das Gesicht des Mannes war weit nach vorn gebeugt, er sah sehr alt aus mit seinem mageren Nacken, mit dem dünnen Haar und den großen, rissigen Händen, die das Holzstück mit der Rasierklinge führten; er hat in seinem ganzen Leben noch nie so alt ausgesehen, dachte der Junge, sein Hals ist alt, sein Rücken ist alt, alles an ihm.
Die Rasierklinge fuhr fein und energisch über das Papier, es war gutes Papier, glattes Vorkriegspapier, das kaum faserte, und die Ecke der Klinge biß sauber an einer Zahl herum, folgte sorgfältig ihrem Bogen, tilgte sie aus, und dann setzte die Klinge bei einer anderen Zahl an, ein kleiner Druck zwang sie ins Papier, sie bewegte sich, scharf und blitzend, sie kratzte sich mit all ihrer wunderbaren Schärfe durch die zweite Zahl hindurch und löschte sie aus. Von den vier Zahlen waren jetzt nur noch zwei übriggeblieben, sie allein standen noch für das Geburtsjahr, und der Mann blies über die leere Stelle und säuberte mit dem Handrücken nach. Er schob das Taucherbuch dicht unter die Lampe, hob es hoch, hob es nah vor die Augen und begutachtete die leere Stelle: sie war nicht makellos, sie hatte ein paar rauhe Kratzer, aber die beunruhigten den Mann nicht. Er legte das Taucherbuch wieder auf die Kiste und nahm das Messer in die Hand, es war ein großes Messer mit breiter, starker Klinge, und er umschloß es fest mit seinen Fingern und drückte die flache Klinge auf die leere Stelle. Das tat er mehrmals, dann ließ er die flache Klinge über die Kratzer gleiten, immer nach einer Seite, und schließlich erhob er sich und preßte die Klinge mit aller Kraft auf das Buch: jetzt waren die Rauheiten und Kratzer verschwunden. Er ließ das Buch aufgeschlagen liegen.
Er holte sich eine halbe Zigarette aus der Joppe und zündete sie an, setzte sich wieder auf die Fußbank und rauchte und blickte unverwandt auf die unvollständige Zahl.
Plötzlich kniff er die Zigarette aus und warf die Kippe auf das Fensterbrett, er zog sich die Tinte heran, einen Federhalter, ein Blatt Papier, und während er in das Taucherbuch starrte, begann er zu schreiben. Er schrieb Zahlen, er schrieb sie unter- und nebeneinander, verglich sie mit angestrengtem Gesicht, und auf einmal schob er das Übungsblatt zur Seite und schrieb zwei neue Zahlen in das Taucherbuch. Er war wieder geboren.
Er wartete, bis die Tinte eingezogen war, wischte sich die Hände an den Hosen ab, legte Messer, Rasierklinge und Tinte weg, und dann schwenkte er das Buch hin und her und drückte es zuletzt behutsam gegen die Fensterscheibe.
Der Junge bewegte sich unter der Decke und versuchte, den Spalt nach oben zu vergrößern; er fingerte vorsichtig herum, aber da wurde die Decke jäh von ihm fortgerissen, so daß er bloß dalag. Der Mann ließ die Decke auf den Boden fallen und stand groß neben dem Lager des Jungen und blickte auf ihn herab, blickte auf die angezogenen Beine, auf den Leib, auf die zur Abwehr erhobenen Hände, und er bückte sich und bog die Hände des Jungen auseinander und setzte sich neben ihn. Er hielt die dünnen Handgelenke umschlossen und sagte:
»Warum schläfst du nicht?«
Der Junge schwieg und sah ihn unentwegt an.
»Antworte«, sagte der Mann.
»Ich war unten am Steg«, sagte der Junge. »Ich habe auf dich gewartet.«
Der Mann ließ die Handgelenke des Jungen los, er erhob sich, er nahm die Decke auf und breitete sie über den Jungen aus, und dann sagte er:
»Du bist noch jung, Timm. Du mußt viel schlafen.«
Sie blickten einander an, sie sahen sich ruhig und abwartend in die Augen, der Mann hielt das blaue Taucherbuch in der Hand, und plötzlich änderte sich sein Blick, er wurde mißtrauisch und prüfend, er entdeckte den Mitwisser.
»Du hast es gesehen, Timm.«
»Ja, Vater«, sagte der Junge. »Ja.«
»Du verstehst nichts davon«, sagte der Mann, »das sind keine Sachen für dich.«
»Ja.«
»Du wirst mit keinem Menschen darüber reden, Timm. Du wirst auch deiner Schwester nichts sagen. Lena braucht das nicht zu wissen. Das mußt du mir schwören.«
»Ich werde es keinem erzählen«, sagte der Junge. »Das schwöre ich.«
»Da«, sagte der Mann, »nimm das Buch.«
Timm zögerte.
»Nimm das Buch«, befahl der Mann.
Der Junge gehorchte und nahm das Taucherbuch in die Hand. Seine Finger zitterten, er sah ratlos aus, er wollte das Buch auf das Kopfkissen legen, aber der Mann befahl ihm, es zu öffnen.
»Schlag es auf«, sagte er.
Timm schlug das Buch auf, ohne es anzusehen.
»Siehst du was?«
Der Junge warf einen schnellen, scheuen Blick auf das Buch und sah sofort wieder zu dem Mann auf und schüttelte den Kopf.
»Du sollst genau hinsehen«, sagte der Mann. »Du sollst es untersuchen. Laß dir Zeit dabei.«
»Dein Bild«, sagte der Junge. Er zeigte rasch auf die alte, eingestanzte Photographie, die einen jüngeren Mann zeigte, forsch lächelnd, gesund und wohlgenährt.
»Ja«, sagte der Mann. »Das ist mein Bild, du kennst es. Ein feines Bild, was? Das ist achtzehn Jahre her. Aber sieh dir nicht das Bild an, Junge, halt dich nicht damit auf. Du weißt genau, was wichtig ist, worauf es uns beiden ankommt.«
»Du hast radiert«, sagte der Junge, »mit einer Rasierklinge.«
»Wo?«
»Ich weiß nicht«, sagte Timm.
»Dann such es, Junge; komm, zeig mir die Stelle, wo ich radiert habe. Sieh dir alles genau...
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