Schweitzer Fachinformationen
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Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen
Der Hinterhof in der Spandauer Vorstadt lag noch im Dunkeln, es war erst kurz vor fünf, ein Sonnabend. In der Becker'schen Küche brannte jedoch schon Licht. Schöner fremder Mann, schmetterte Connie Francis aus dem Radio, während Vicky Stullen schmierte und der Tee zog. In der Wohnungstür drehte sich klackend ein Schlüssel.
»Morgen, Mutsch!«, rief Vicky ihrer Mutter entgegen.
Noch im Mantel stellte Traude Becker das Radio leiser, just als der Sprecher verkündete: »Hier ist RIAS Berlin - eine freie Stimme der freien Welt.«
Den warnenden Blick ihrer Mutter erwiderte Vicky gelassen. »Du horchst doch auch nach drüben.«
Mit Schlager der Woche brachte ihre Mutter sich für Nachtdienste am Wochenende in Schwung, und wann immer sie konnte, verfolgte sie gebannt das Ratespiel Wer fragt, gewinnt mit Hans Rosenthal. Nur sobald zum Sonntagsessen die von den Amerikanern gestiftete Freiheitsglocke im Schöneberger Rathaus ertönte, gefolgt vom Freiheitsgelöbnis, das zum Widerstand gegen Tyrannei mahnte, schaltete sie konsequent ab. Man wusste schließlich nie, wer im Mietshaus die Lauscher spitzte.
Traude Becker legte den Zeigefinger an die Lippen. »Aber leise.«
Wie Verschwörerinnen lächelten sie einander an.
Der Apfel war nicht weit vom Stamm gefallen. Das dicke sandblonde Haar war bei Vicky zum Pagenkopf geschnitten und mit einem Band zurückgehalten, bei ihrer Mutter zum strengen Schwesternknoten zusammengezurrt und von grauen Strähnen durchzogen. Die Augen groß und blau wie die Ostsee, erweckten die weichen Gesichtszüge von Mutter und Tochter den Anschein zweier sanftmütiger Seelen. Besonders bei Vicky, die mit dreiundzwanzig Jahren noch die pralle Frische ihrer Backfischjahre hatte. Bodenständig und zupackend wirkten sie beide, und mit voller Oberweite und runden Hüften stämmiger, als sie eigentlich waren. Sie hätten ein gutes Plakatmotiv abgegeben: Bäuerin und Bauerstochter, die mit der Sichel goldenes Korn für das tägliche Brot der Werktätigen ernteten.
Pommersche Kaltblüter, pflegte Vickys Mutter zu sagen. Nicht ohne Stolz, obwohl sie inzwischen zwei Drittel ihrer zweiundfünfzig Lebensjahre in Berlin verbracht hatte und Vicky ein Kind dieser Stadt war.
Die Kurznachrichten blieben zu einem Murmeln gedämpft, und Traude Becker schälte sich aus dem Mantel.
»Wie war die Nacht?«, fragte Vicky.
»Ruhig.« Ihre Mutter, wie immer in schmuckloser Bluse, wadenlangem Rock und bequemen Schnürschuhen, ließ sich auf einen der beiden Stühle fallen. »Nur ein Verkehrsunfall mit Milzriss und ein Blinddarmdurchbruch bei einem Kleinkind. Beides gut verlaufen.« Schwester Traude war eine feste Größe in den Operationssälen der Klinik am Spreeufer.
». am Wochenende weiter unbeständig«, verlas der Radiosprecher im Flüsterton die Wetteraussichten. Schwungvolle Gitarrenklänge sprudelten aus dem Radio, und Vicky drehte wieder lauter. Eine ganze Big Band stimmte ein; ein Gute-Laune-Song, bei dem man unweigerlich mit den Fingern schnippen und zusammen mit dem Männerchor losträllern wollte. Berlin Melody.
Vicky stellte den Teller mit Wurststullen und eine Tasse Tee vor ihre Mutter.
»Kuck mal, was es die nächsten Sonntage bei uns gibt«, sagte Traude Becker und hielt Vicky ein goldglänzendes Päckchen hin.
Vicky staunte. »Wo hast du den Kaffee her?«
»Aus der Klinik.«
Vicky drückte die Packung an die Nase und sog den Duft ein; es war sogar richtig guter Kaffee. Im Konsum oder bei der HO war echter Bohnenkaffee kaum zu bekommen. Jenseits des Brandenburger Tors, bei Tchibo, Kaiser's Kaffeegeschäft, Reichelt oder Bolle, gab es ihn zwar im Überfluss, aber für einen Bürger mit Ostmark in der Lohntüte war er immer noch so teuer, dass Vicky nur dann welchen mitbrachte, wenn er im Angebot war.
»Ein halbes Pfund Kaffee für die Ärzte und Schwestern«, fuhr ihre Mutter lakonisch fort. »Aber Antibiotika sind ständig knapp, und nach jeder OP sammeln wir die Gummihandschuhe ein, um sie für den nächsten Eingriff zu waschen, einzupudern und zu sterilisieren.« Amüsiert verzog sie den Mund. »Hast du dir deine Bewerbung wirklich gut überlegt?«
Vicky setzte sich mit ihrem Teller zu ihrer Mutter. »Hat Stäps schon etwas dazu gesagt?«, fragte sie und biss von der Stulle mit Margarine und der Sanddornmarmelade ab, die Oma Käthe von der Ostseeküste geschickt hatte.
»Der hat gerade ganz andere Sorgen.« Traude Becker holte aus ihrer Handtasche ein Päckchen Juno und zündete sich eine Zigarette an; je nach Situation ihr Muntermacher oder ein Beruhigungsmittel. »Schmücke ist gestern nicht zum Dienst erschienen. Zwei der Schwestern sind ebenfalls wie vom Erdboden verschluckt.«
In diesen Wochen wusste jeder, was das hieß: Sie waren getürmt. Nicht nur in der Klinik lichteten sich die Reihen der Ärzte und Krankenschwestern. In Scharen verließen die Bürger ihren Arbeiter- und Bauernstaat durch die Hintertür Berlin. Wie eine Wasserstandsmeldung gab der RIAS permanent die genauen Zahlen durch: mehr als tausend jeden Tag, Tendenz steigend. Im Notaufnahmelager Marienfelde hatten die Briten zusätzlich Zelte aufgestellt, eventuell würde noch das Olympiastadion als provisorische Unterkunft herhalten müssen.
Ein Schiff wird kommen, lockte Caterina Valente wehmütig im Hintergrund.
Der verächtliche Zug um Traude Beckers Mund verriet, wie sie darüber dachte. Zuallererst kam der Patient, dann die Klinik mitsamt ihrer Forschung, irgendwann danach die Familie, und ganz zum Schluss durfte man an sich selbst denken. Das war das Ethos, das die Charité berühmt gemacht hatte.
Energisch stieß sie den Rauch aus. »Wenigstens hat Schmücke noch seine Beziehungen in den Westen spielen lassen und uns mit Penicillin versorgt, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat. So viel Anstand hat er immerhin gehabt.« Sie warf ihrer Tochter einen aufmunternden Blick zu. »Ich frage Stäps gleich Montag, ob er sich deine Unterlagen schon angesehen hat.«
Vicky war mit ihrer Bewerbung früh dran, das Examen noch vor sich und das Material für ihre Doktorarbeit gerade erst zusammengetragen. Doch sie wusste, was sie wollte, und sie wollte an die Charité, an der sie bereits ihre Famulatur absolviert hatte: das Vorzeigekrankenhaus der Deutschen Demokratischen Republik, obwohl die letzten Kriegsschäden noch nicht behoben, nicht alle Neubauten fertiggestellt waren. Die Chancen, dass der ärztliche Direktor Dr. Stäps sie einstellen würde, standen gut. Auch wenn sie in den zwei Jahren Medizinalassistenz weniger verdienen würde als ihre Mutter und genauso Doppelschichten und Überstunden schieben müsste.
»Morgen hast du den restlichen Tag aber frei, oder?«, fragte Vicky. Als ihre Mutter bejahte, fügte sie hinzu: »Wollen wir ins Grüne fahren, vielleicht mit der Weißen Flotte? Oder über den Ku'damm bummeln?«
Traude Becker runzelte die Stirn. »Was soll ich auf dem Ku'damm? Mir im Schaufenster Sachen ansehen, die ich mir nicht leisten kann?«
»Wir schauen uns die Sachen an, die sich auch Westler nur auf Pump kaufen können, und studieren im Restaurant die Speisekarte mit Gerichten, für die wir niemals so viel Geld ausgeben würden, selbst wenn wir es hätten. Oder wir gehen einfach ins Kino. Und dann fahren wir vergnügt wieder rüber und freuen uns unseres Lebens.«
Beide lachten leise.
Traude Becker drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und widmete sich ihrem Tee und den Stullen. Über den Rand ihrer Tasse hinweg musterte sie Vickys gutes blaues Sommerkleid mit ausgestelltem Rock und Bubikragen, letztes Jahr im Schlussverkauf bei C&A in der Wilmersdorfer Straße ergattert.
»Hast du nach der Arbeit noch was vor?«, fragte sie.
»M-hm«, bestätigte Vicky mit vollem Mund und zwinkerte ihrer Mutter zu.
Junge Leute, zwitscherte Conny Froboess aus dem Radio, brauchen Liebe. Mutter und Tochter lächelten sich an.
»Mach auf jeden Fall dein Studium fertig«, sagte Traude Becker leise, aber bestimmt. »Verdien dein eigenes Geld. Damit du auf eigenen Füßen stehst.«
»Was anderes kommt auch gar nicht in die Tüte!«, erwiderte Vicky leidenschaftlich.
Ihre Mutter wusste, wovon sie redete. Sie hatte spät geheiratet, schnell ihr Kind bekommen und war noch schneller wieder geschieden gewesen. Nachdem Hartmut Becker sang- und klanglos aus ihrem Leben verschwunden war, war sie froh gewesen, an die Charité zurückkehren zu können, ein Zimmer für sich und Baby Vicky inbegriffen.
Die weitläufige Klinik war das erste Zuhause gewesen, das Vicky gekannt hatte. Bewohnt von einer Großfamilie, in der es selbstverständlich war, dass sich immer eine Krankenschwester, Ärztin oder Arztgattin fand, die sich um die kleine Tochter von Schwester Traude kümmerte, wenn diese im Operationssaal stand. Auf den geometrischen Bodenfliesen der hallenden Korridore hatte Vicky ihre ersten Schritte gemacht, auf den Wegen zwischen den Gebäuden mit einem Kinderrad die ersten wackeligen Meter zurückgelegt, und ihr liebstes Spiel war es gewesen, zusammen mit den Arztkindern verbotenerweise in den Bibliotheken zu stöbern und die Sammlungen anatomischer Präparate und Wachsmodelle zu erkunden. Bis die Bomben auf Berlin fielen und Tante Hedwig aus Wolgast kam, um ihre Nichte mitzunehmen; da war Vicky gerade mal fünf Jahre alt gewesen. Erst nach dem Hungerwinter und der Blockade Westberlins, als sich die Lage in der Vierzonenstadt stabilisierte, hatte Traude...
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