Schweitzer Fachinformationen
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Dank seiner roten Masai-Schuhe mit den fünf Zentimeter dicken Sohlen landete Leonard Vangen weich und anatomisch korrekt, als er in Elverum aus dem Zug sprang. Masai Barefoot Technology - schweineteure orthopädische Schuhe mit abgerundeten Sohlen, in denen man wie ein Idiot aussah. Der Beweis dafür, wie weit ein Mann ging, um Rückenschmerzen loszuwerden.
Ein leichter Spätsommerregen fiel auf den Asphalt, kitzelte ihn im Gesicht und verstärkte die Düfte, die über der Kleinstadt hingen, eine exotische Mischung aus Nadelwald, Frittierfett und fossilen Brennstoffen.
Er ging in die Richtung, in der er die Polizeiwache vermutete. Dazu überquerte er die Glomma auf einer der beiden Brücken, die Norwegens längsten und wasserreichsten Fluss in Elverum überspannten. Auf der anderen Seite blieb er stehen und ließ den Blick schweifen: anonyme Gebäude aus Beton und Backstein zwischen hübschen, alten Holzhäusern, ein riesiges Einkaufszentrum mit moderner Holzfassade und hinter der Stadtgrenze bewaldete Hügel, soweit das Auge reichte. Elverum war von einem Meer aus Bäumen umringt.
»Rasch und schlammig fließt die Glomma wie eine offene Wunde mitten durch Elverum«, murmelte Leo. Außer diesem Schmähvers des Barden Ole Paus, der erfolgreichen Handballmannschaft und dem Café Elgstua kannte er nichts und niemanden aus Elverum. Es war ein Ort, durch den er auf dem Weg nach Trondheim, Schweden oder zu der Hütte in Rendalen fuhr.
Rino Gulliksen war sehr wortkarg am Telefon gewesen, hatte nur gesagt, dass er im Polizeigewahrsam saß und Hilfe brauchte. Leo hatte seit zwei Jahren nichts mehr von ihm gehört. Alle glaubten, er wäre in der Flutwelle in Storbørja ums Leben gekommen. Er selbst hatte versucht, ihn zu vergessen.
Leo überquerte die vielbefahrene R25, so rasch es die abgerundeten Sohlen zuließen. Der Verkäufer hatte ihm erklärt, wie er gehen und denken sollte, um möglichst viel von dem Schuhwerk zu haben. Irgendetwas mit Verlängerung des Körpers und dass er ein integraler Teil des Universums sei.
Die Räder des limettengrünen Rollkoffers ratterten über den Asphalt, als er die Storgata entlangging. Er strengte sich an, selbstsicher und entspannt auszusehen, bis ihm einfiel, dass niemand in Elverum ihn kannte. Hier kümmerte es keinen, wie er aussah und was er tat.
Die Hauptstraße war voller kleiner, merkwürdiger Läden: Kebab, ein geschlossener indischer Imbiss, eine wilde architektonische Mischung aus Alt und Neu. Als er an einer altmodischen Bäckerei vorbeikam, in der die Backwaren im Schaufenster lagen, konnte er nicht widerstehen. Er bestellte ein Rosinenbrötchen und grünen Tee. Eigentlich hatte er mehr Lust auf schwarzen Kaffee, aber sein vegetatives Nervensystem brauchte keine zusätzliche Stimulanz.
Während der Tee zog, nahm er den Koffer mit auf die Toilette, zog ein Päckchen Beruhigungstabletten aus der Außentasche und spülte eine davon mit Leitungswasser hinunter.
In dem zerbrochenen Spiegel sah Leo sich an: Ringe unter den verquollenen Augen wie ein nichtsahnender Barsch, der aus der Tiefe gezogen wird.
Rino Gulliksen hätte ihn niemals angerufen, wenn es nicht ernst wäre. Was hatte Rino getan? Was hatte er ihnen erzählt? Was in aller Welt sollte Leo der Polizei sagen?
Aus der Toilette zurück, nahm Leo den Pappbecher und das Rosinenbrötchen in die eine und den Koffer in die andere Hand. Er versuchte, langsam zu essen und die Geschmacksnerven zu gebrauchen, anstatt es einfach in sich hineinzustopfen.
Er fragte das Mädchen hinter der Theke, wo die Polizeiwache lag.
»Gleich um die Ecke«, sagte der Teenager und lächelte.
Sie war ungefähr in Siris Alter, hatte dieselbe Haarfarbe und sah ihm tief in die Augen, voller Zuversicht und Erwartungen an das Leben, wie es sich für Mädchen ihres Alters gehörte.
Als er die Bäckerei verließ, spürte er, wie das Clonazepam langsam zu wirken begann. Das Kribbeln im Körper legte sich und seine Handflächen trockneten. Er fühlte sich benommen und beschützt. Die Welt war nicht mehr so bedrohlich.
Leo betrat das dreistöckige rote Backsteingebäude, und eine blonde Polizistin mit Pferdeschwanz und Snus unter der Lippe nahm ihn freundlich in Empfang. Sie brachte ihn in ein Zimmer mit grüner Wandverkleidung und weißen Gardinen. Hinter dem aufgeräumten Schreibtisch saß ein vielleicht vierzigjähriger Mann in einem frisch gebügelten Uniformhemd. Er aß ein Sandwich mit Käse und Gurke und blätterte dabei in einer Jagdzeitschrift. Als er Leo sah, legte er die Zeitschrift auf den Tisch, wischte sich mit dem Ärmel die Krümel vom Mund und streckte die Hand aus. Polizeichef Embret Tomteberget hatte freundliche Augen, einen festen Händedruck und roch nach billigem Rasierwasser.
»Er hat nicht viel gesagt«, berichtete der Polizeichef. »Nur, dass er mit dem Rechtsreferendar Leonard Vangen aus Lilleaker sprechen will.«
»Anwalt«, berichtigte Leo. »Ich bin Anwalt.«
»Ja«, sagte Tomteberget und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Was ist eigentlich der Unterschied?«
»Man muss mindestens drei Prozesse geführt haben, um sich Anwalt zu nennen.«
»Ja«, wiederholte der Polizeichef. Er nahm einen Bleistift und schrieb irgendetwas in ein großes schwarzes Buch.
»Das weiß kaum jemand«, sagte Leo.
»Gratuliere«, sagte der Polizeichef, ohne eine Miene zu verziehen.
»Wofür?«, fragte Leo.
»Dafür, dass Sie drei Prozesse geführt haben.«
Leo setzte sich auf einen Stuhl an der Wand und stellte den Koffer ab. Machte der Polizeichef sich über ihn lustig? Er sah sich die Bilder an den Wänden des Büros an. Ein Mann mit einem riesigen Hecht, eine Frau mit ein paar kleinen Äschen, Mann mit Gewehr und totem Elch, Mann mit Gewehr, Schweißhund und Hirsch, Mann mit Flinte, Auerhahn und Apportierhund, alle Varianten.
Ein Bild stach heraus. Es war als Einziges eingerahmt und ziemlich verblichen. Es zeigte eine Gruppe stattlicher, grinsender Kerle in voller Jagdmontur. Vor ihnen im Schnee lag ein zotteliger Wolf mit einem Stock im Maul.
»Was ist das denn?«, fragte Leo. »Das kommt mir bekannt vor.«
Der Polizeichef schaute von seinem Buch auf.
»Das ist der Vegårsheiwolf, geschossen am 10. Januar 1984.«
Leo erinnerte sich an das Biest, das damals aus dem Nichts in Südnorwegen aufgetaucht war, als alle dachten, der Wolf sei für immer ausgerottet. Die ganze Nation verfolgte die Jagd, die über ein Jahr dauerte. Ein paar Fragen lagen ihm auf der Zunge, aber Leo schwieg.
»Zuerst dachte ich, er wäre Beerensammler aus Litauen oder Lettland«, sagte der Polizeichef, »und dass er kein Norwegisch versteht.«
Leo sah Tomteberget schweigend an.
»Aber dann sagte er plötzlich völlig akzentfrei, dass er mit Ihnen reden wolle.«
»Was hat er getan?«
Der Polizeichef legte den Bleistift ab und verschränkte die Hände hinter dem Nacken, wobei er große Schweißflecken enthüllte.
»Er kam gestern Nachmittag hier rein, mit einem fünf Jahre alten Jungen auf den Schultern. Nach einer Weile erzählte er uns, wo er den Jungen gefunden hatte, und dass sein Au Pair tot im Wald läge.«
»Au Pair?«
»Das war natürlich Unsinn. So etwas haben wir nicht hier in Elverum.«
»Er ist also zu Ihnen gekommen?«
Der Polizeichef nickte.
»Wie sich herausgestellt hat, war die Tote im Wald die Mutter des Jungen. Sie wurde vor den Augen ihres Sohnes von Wölfen angegriffen und in Stücke gerissen.«
»Wölfe?« Leo hob beide Augenbrauen. »Ich dachte, Wölfe greifen keine Menschen an?«
»Das erste Mal in Norwegen seit dem Jahr 1800. Also schon ziemlich ungewöhnlich, ja.« Tomteberget stand auf. »Kommen Sie mit.«
Sie gingen in das Nebenzimmer, wo Rino Gulliksen in braunen Gummistiefeln, roten Adidas-Shorts und einer schmutzigen Schaffellweste über dem nackten Oberkörper am Fenster stand. Er hatte ein paar Kilo abgenommen und die Haare entweder verloren oder rasiert, aber der wildwüchsige graue Vollbart verdeckte noch immer sein halbes Gesicht und das tätowierte Kleeblatt auf der linken Wange. Er sah aus wie ein Freibeuter oder ein exzentrischer Eremit. Als er Leo erblickte, strahlte er.
»Klären Sie mich auf: Wer ist das?«
Der Polizeichef stand mitten im Zimmer und stützte die Arme in die Hüfte.
»Ein alter Freund.« Leo verschränkte die Arme und räusperte sich. »Er hat es in letzter Zeit etwas schwer gehabt, hat seinen Job verloren.«
»Ist er immer so gesprächig?«, fragte Tomteberget.
»In dem heiligen Schweigen, in der Ruhe der Natur liegt der höchste Trost für alle, die ihre Sprache verstehen.« Leo wippte auf seinen Masai-Schuhen vor und zurück und erwartete eine Reaktion auf das Klassikerzitat.
»Ja«, sagte Tomteberget nur, steckte einen Portionsbeutel Snus mit Mentholgeschmack unter die Oberlippe und musterte Rino Gulliksen.
»Er braucht nur ein wenig Ruhe und Frieden«, sagte Leo.
»Warum sagt er nicht, wer er ist? Er hat doch nichts Gesetzwidriges getan, eher im Gegenteil.«
»Er heißt Even.« Das war der erste Name, der Leo einfiel. »Er ist manchmal so . Even.«
»Unser Even hier ist möglicherweise Zeuge der ersten tödlichen Wolfsattacke auf norwegischem Boden seit über zweihundert Jahren«, sagte der Polizeichef.
»Ich habe nichts gesehen«, sagte Rino Gulliksen. Er stand am Fenster und starrte sehnsüchtig über den braunen Fluss auf den Wald.
»Jesses.« Tomteberget riss die Augen auf und tat,...
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