Schweitzer Fachinformationen
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Am frühen Morgen des 15. Mai stieg Trond Bast im Bootshafen von Sollerud an Bord seines roten Dingi. Bis auf zwei Lachmöwen, die unter einem aufgebockten Katamaran auf eine aufgeblähte Plastiktüte einhackten, war er allein im Hafen. Bast wollte Meerforelle angeln, wie er es seit zwanzig Jahren von April bis November jeden Tag tat.
Im Scheidungsantrag hatte seine Frau angegeben, das Fischen sei für ihn zur Besessenheit und wichtiger als sie geworden. In schwachen Augenblicken musste sich Trond Bast eingestehen, dass sie nicht unrecht hatte. Gedämpft durch das wuchtige Versicherungsgebäude zwischen Ufer und Schnellstraße, hörte man schon um halb sieben die erste Pendlerwelle Richtung Oslo fahren. Die Übermenschen aus Asker und Bærum waren auf dem Weg. Väter, die um halb sechs aufstanden und das Haus verließen, ehe die Kinder aufwachten und die meistbefahrene Straße Norwegens unpassierbar wurde.
»Streber«, murmelte Trond Bast und fasste sich an den Kopf, um sicherzugehen, dass sein Toupet richtig saß. Vor ein paar Jahren war er zu Kreuze gekrochen und hatte sich billiges Kunsthaar aus Bulgarien im Internet bestellt.
Trond führte gern Selbstgespräche, wenn er allein im Boot saß. Hier konnte er nach Herzenslust fluchen, ohne dass ihm jemand den Mund verbot. Er bückte sich, hob eine leere Bierflasche vom Boden des Bootes auf und warf sie mit voller Wucht nach den kreischenden Möwen, die aufstoben, als die Flasche an dem Katamaran zerschellte. Trond Bast summte und schaute sich um, als suche er Anerkennung für seinen Treffer. Er legte eine Prise Snus hinter die Lippe und zog am Starter des alten 6-PS-Außenborders, der erst beim zwölften Versuch ansprang.
Als Bast um die Mole herumfuhr, blendete ihn die Morgensonne, die sich in den Glasfassaden von Lysaker Brygge spiegelte. Ihre Strahlen tauten seinen Körper auf und kitzelten ihn unter dem Kunsthaar, das im Licht etwas dunkler als der spärliche Rest über den Schläfen aussah.
Bast kniff die Augen zusammen und sah, dass etliche Bewohner des riesigen Komplexes schon mit einer Kaffeetasse in der Hand auf den Balkonen saßen. Die armen reichen Frührentner hatten vermutlich zu spät realisiert, dass sie ihre Eigenheime in Bærum aufgegeben und Unsummen bezahlt hatten, um direkt neben der E18 in einem Block ohne Abendsonne zu wohnen.
»Strohköpfe!«, brüllte Bast, aber seine Stimme ging im Motorenlärm unter.
Bast packte die Angelrute aus. Die technischen Entwicklungen der letzten Jahre waren komplett an ihm vorbeigegangen. Er schwor nach wie vor auf die alte Spinnrute mit der antiquarischen Bremsrolle und einem einfachen Kunstköder, ein kupferfarbener 28-Gramm-Blinker, der 30 Meter hinter dem Boot im Wasser schwänzelte. So hatten es schon sein Großvater, der Advokat Børre Bast, und sein Vater, der Advokat Benny Bast, getan, und so wollte es auch der krankgeschriebene Markisenhändler Trond Bast tun. In seiner dreiundzwanzigjährigen Angelkarriere hatte Bast insgesamt zweiundzwanzig Meerforellen gefangen, knapp eine Forelle pro Jahr. Das verriet er niemandem, nicht einmal sich selbst, wenn er alleine im Doppelbett seines Reihenhauses in Høvik hinter der Lärmschutzwand lag und darüber nachdachte, wie das Leben hätte sein können.
Trond Bast hatte es seinen Eltern immer übel genommen, dass sein Vorname nicht mit B begann. Auf dem Sterbebett hatte seine Mutter ihm anvertraut, dass sie ihn eigentlich Birger nennen wollte, aber da hatte der Vater sein Veto eingelegt, weil der dem mickrigen Säugling nicht zutraute, die stolze Familientradition weiterzuführen. Seit der Grundschule träumte er von einem anderen Namen, aber erst auf dem Wirtschaftsgymnasium traute er sich, seinen Klassenkameraden vorzuschlagen, ihn Biff zu nennen, aber die angehenden BWL'er fanden, einen solchen Namen müsse man sich verdienen. Trond Basts Verdienst hielt sich in Grenzen, also blieb er weiter Trond. Und verbitterte.
Das alte Dingi durchschnitt die spiegelglatte Wasseroberfläche wie ein rostiges Messer einen glänzenden Forellenbauch. Wäre Trond Bast Herr seiner Sinne gewesen, hätte er vielleicht gedacht, wie privilegiert er doch war, in diesem Moment an so einem schönen Ort zu sein. Er hätte dankbar sein müssen. Aber Bast war viel zu sehr damit beschäftigt, die pompösen Anwesen am Ufer mit einer Mischung aus Respekt und Verachtung zu betrachten.
Lagåsen, das Gebiet zwischen Lysaker und Fornebu, war voller Symbole des Erfolgs und Größenwahns. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die geistige Elite Norwegens dort prächtige Villen gebaut und Parks angelegt. Halb hinter großen Bäumen verborgen war die »Polhöhe« zu erahnen, der neoromantische Palast Fridtjof Nansens, daneben Munkebakken, das größte und teuerste Einfamilienhaus des Landes, gefolgt vom sogenannten »Lusthaus« des damaligen Außenministers Michelet und die Drachenstilvilla des Malers Gerhard Munthe.
Die gesamte Halbinsel strahlte historische Größe aus.
Jedes Mal, wenn Vater und Sohn dort vorbeigetuckert waren, hatte Benny Bast dieselbe Litanei über die »bemerkenswerten Menschen, die Bærum bereichert hatten« heruntergeleiert. Trond Bast konnte sie noch auswendig:
»Durch Familienbande und Freundschaft zogen diese distinguierten Bewohner weitere distinguierte Herrschaften an.«
Wenn Trond an den Grundstücken vorbeifuhr, juckte es ihn ganz besonders unter dem Toupet. Er dachte an die feierlichen Worte des Vaters und fühlte sich klein und unbedeutend:
»Die wichtigsten Männer des Landes gehörten dem Lysaker-Kreis an. Männer, die ein Ziel vor Augen hatten und denen wir unsere Unabhängigkeit verdanken.«
Fridtjof Nansen hatte bestimmt gern geangelt, schließlich war er ein echter Freiluftmensch. Seinen Doktorgrad hatte er mit einer Arbeit über das Nervensystem des Schleimaals erlangt, aber weder er noch der Außenminister hatten ihr ganzes Leben mit Angeln vergeudet, da war sich Trond Bast sicher.
Ganz oben auf dem Hügel thronte das Reklame- und Eventbüro Dinamo, Firmensitz der selbst ernannten Visionskönige und »Kreateure«. Sie hatten sich die Villa des Reeders und Kunstsammlers Anton Fredrik Klaveness gesichert, eines der prächtigsten Anwesen Norwegens. Normalerweise hätte Trond Bast auch sie verflucht - wie alle Menschen mit Ambitionen und Erfolg -, aber da sie Sponsor seines Lieblingsvereins Stabæk waren, entging Dinamo den Schimpftiraden des gescheiterten Anwaltssohnes.
Das Einzige, was Vater und Sohn Bast gemeinsam hatten, war die Liebe zum Angeln. Für Benny Bast war das Fischen nur ein Hobby gewesen, bei dem sie sich entspannen und Kraft für die Arbeit schöpfen konnten. Weder Dorsch, Forelle noch Köhlerfisch hätten sie von der Arbeit abgehalten. Für Trond hingegen waren sie im wahrsten Sinne des Wortes Dreh- und Angelpunkt des Lebens.
Seine Leidenschaft war proportional zum Gefühl gewachsen, an Land zu kurz gekommen zu sein.
Der Job als Markisenhändler stand dieser Leidenschaft im Weg, und als der kreative Betriebsarzt ihm für nur 45.000 Kronen in bar die Diagnose »Virus im Gleichgewichtsnerv« anbot, nahm Trond Bast die geerbte Munch-Lithografie von der Wand und verkaufte sie unter der Brücke von Sandvika für 50.000 an einen Nordnorweger mit Baskenmütze. Das war eine beträchtliche Summe, aber wenn er an die fünfundzwanzig Riesen im Monat dachte, die er auf unbestimmte Zeit vom Staat kassieren würde, ohne einen Finger zu rühren, fiel ihm die Entscheidung leicht. Ganz zu schweigen von der Zeit, die er zum Angeln haben würde.
Das einzige Problem war die Wahl der Krankheit gewesen. Der durchtriebene Arzt hatte ihm zuerst Chronisches Erschöpfungssyndrom, auch ME genannt, angeboten, aber das hätte 10.000 Kronen mehr gekostet, und Trond fand, dass der »Virus im Gleichgewichtsnerv« glaubhafter klang. Bei ME würde man ihn womöglich für nicht ganz klar im Kopf halten.
Je näher Trond dem Gelände des früheren Flughafens Fornebu kam, desto schwächer wurde der Lärm der Schnellstraße, bis nur noch das Tuckern des Außenborders zu hören war.
Früher waren hier die Flugzeuge in einem endlosen Strom über ihn hinweggedonnert. Viele Sportfischer hatten sich damals bitter beklagt, weil der Fluglärm das Naturerlebnis verderbe, und andere Reviere angefahren. Bast liebte das Brausen der schweren Maschinen. Die größte Meerforelle, die er je gefangen hatte, ein Monster von 1,2 Kilo, hatte er direkt unter der Einflugschneise aus dem Wasser gezogen. Die drei Boeings, die sechzig Meter über ihm zur Landung ansetzten, während er mit dem Rekordfisch kämpfte, hatten ihn nicht im Geringsten gestört. Im Gegenteil, sie gaben dem Kampf zwischen Mensch und Natur einen internationalen Touch. Auf Tuchfühlung mit einem Flieger der Lufthansa oder Alitalia fühlte er sich gleich weniger weltfern.
Nun waren die Flugzeuge verschwunden.
Nach langem und intensivem Druck der reichen Bewohner von Snarøya hatten die Behörden nachgegeben, den Flughafen nach Gardermoen verlegt und die Lärmproblematik auf die ärmeren Bewohner von Romerike verlagert.
Was alle anderen befürworteten, war für Trond Bast eine Tragödie. Er fühlte sich von der Welt abgeschnitten, und zu allem Überdruss wurde sein privater Angelplatz von fischhungrigen Polen, Türken und Restjugoslawen eingenommen, die langsam, aber sicher das Ufer von Lagåsen bis Rolfstangen mit ihren Grundangeln, bunten Decken, Tonnengrills und schreienden Kindern annektierten. Letzten Herbst war er gar auf eine Jugendclique aus Rykkinn gestoßen, jenem Getto im...
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